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Entscheidungen

StGB/Nebengebiete

Notwehr, Dauer der Notwehrlage, Erforderlichkeit gebotener Verteidigung

Gericht / Entscheidungsdatum: BayObLG, Beschl. v. 03.02.2022 - 202 StRR 9/22

Leitsatz des Gerichts:
1. Hat der Angreifer bereits eine Verletzungshandlung begangen, ist der Angriff so lange gegenwärtig im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB, wie eine Wiederholung und damit ein erneutes Umschlagen in eine Verletzung unmittelbar zu befürchten sind.
2. Ein Verteidigungsverhalten in Form eines Faustschlags ins Gesicht ist erforderlich, wenn es zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihm um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung steht. Bei Beurteilung dieser Frage hat der Tatrichter insbesondere das bisherige Verhalten des Angreifers zu berücksichtigen, der sich durch geringer dosierte Abwehrmittel (hier: Wegstoßen) nicht von einer Körperverletzungshandlung zum Nachteil des Angegriffenen abhalten ließ.
3. Bei der Frage, ob eine das Notwehrrecht einschränkende Provokation des Angegriffenen vorausgegangen war, ist es rechtsfehlerhaft, wenn der Tatrichter ein Verhalten desjenigen, der sich auf Notwehr beruft, einseitig aus einem Gesamtgeschehen herausgreift und dabei außer Acht lässt, dass dieses Verhalten rechtmäßig war und durch den Angreifer provoziert worden war.


In pp.

I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts vom 27.09.2021 mit den Feststellungen zum weiteren Geschehensablauf, nachdem die Nebenklägerin dem Angeklagten eine Ohrfeige versetzt hatte, aufgehoben; die übrigen Feststellungen bis zu diesem Zeitpunkt und diejenigen zu den von der Nebenklägerin erlittenen Verletzungen bleiben aufrechterhalten.
II. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
III. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht hat den Angeklagten am 15.03.2021 wegen Körperverletzung zur Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 50 Euro verurteilt. Mit Urteil vom 27.09.2021 verwarf das Landgericht die Berufung des Angeklagten mit der Maßgabe, dass die Tagessatzhöhe auf 35 Euro festgesetzt wird. Mit seiner gegen das Berufungsurteil gerichteten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Revision des Angeklagten als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

III.

Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Am 04.09.2019 gegen 17:30 Uhr kam es auf dem Parkplatz der Firma W. in S. zu einer zunächst verbalen Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten, der seine Arbeitsstelle aufsuchen wollte, und der Nebenklägerin. Vorausgegangen war ein Überholmanöver des Angeklagten, das die Nebenklägerin, obwohl nach den Feststellungen des Berufungsurteils eine Gefährdung nicht vorgelegen hatte, als gefährlich empfand und diese veranlasste, dem Angeklagten nachzufahren, um ihn auf das Überholmanöver anzusprechen.

Die Nebenklägerin stellte ihr Fahrzeug schräg vor den parkenden Pkw des Angeklagten und fragte ihn, was er sich „dabei gedacht“ habe, „so gefährlich zu überholen“. Es kam zu einer lautstarken Auseinandersetzung, bei der sich die Nebenklägerin dem Angeklagten auf etwa eine Armlänge annäherte. Dies nahm der Angeklagte zum Anlass, die Nebenklägerin mit beiden Händen - gerichtet gegen die Schultern der Nebenklägerin - wegzustoßen, wodurch sie mehrere Schritte rückwärts machte und über die Motorhaube eines Fahrzeugs zu Boden fiel. Die Nebenklägerin stand sogleich wieder auf, ging erneut auf den Angeklagten zu und versetzte ihm mit der rechten Hand eine Ohrfeige ins Gesicht, „um sich für den Schubser zu revanchieren“. Danach machte die Nebenklägerin „keinerlei Anstalten mehr, den Angeklagten weiter anzugreifen“. „Nach kurzem Überlegen“ schlug der Angeklagte mit der rechten Faust auf die linke Gesichtshälfte im Bereich unterhalb des Ohres, sodass die Nebenklägerin zu Boden ging und einen Bruch des linken Kiefers erlitt.

Das Landgericht hat eine Rechtfertigung des Verhaltens des Angeklagten wegen Notwehr gemäß § 32 StGB verneint. Zwar habe die Nebenklägerin ihm eine Ohrfeige versetzt, was einen rechtswidrigen Angriff darstellte. Dieser sei jedoch nicht mehr gegenwärtig gewesen, weil die Nebenklägerin „keinerlei“ Anstalten mehr gemacht habe, weiter auf den Angeklagten loszugehen. Im Übrigen wäre der Faustschlag auch nicht erforderlich gewesen, zumal „allenfalls“ mit weiteren „wenig intensiven Angriffen, ähnlich der bereits erfolgten Ohrfeige, zu rechnen war“. Schließlich wäre das Notwehrrecht des Angeklagten aufgrund einer „vorangegangenen schuldhaften Provokation“ eingeschränkt gewesen, wobei das Landgericht die Provokation darin gesehen hat, dass der Angeklagte die Nebenklägerin vorher weggestoßen hatte.

IV.

Die Erwägungen, mit denen die Berufungskammer eine Rechtfertigung durch Notwehr gemäß § 32 StGB verneint hat, sind in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaft.

1. Die Feststellungen zur abgelehnten Gegenwärtigkeit des Angriffs seitens der Nebenklägerin auf den Angeklagten sind lückenhaft und orientieren sich nicht hinreichend an der höchstrichterlichen Rechtsprechung.

a) Ein Angriff ist gegenwärtig, wenn das Verhalten des Angreifers unmittelbar in eine Rechtsgutsverletzung umschlagen kann, so dass durch das Hinausschieben einer Abwehrhandlung entweder deren Erfolg in Frage gestellt wäre oder der Verteidiger das Wagnis erheblicher eigener Verletzungen auf sich nehmen müsste (BGH, Urt. v. 13.09.2017 – 2 StR 188/17 = NStZ 2018, 84 = Rechtsmedizin 29, 42 (2019) m.w.N.). Gegenwärtig kann auch ein Verhalten sein, das zwar noch kein Recht verletzt, aber unmittelbar in eine Verletzung umschlagen kann und deshalb ein Hinausschieben der Abwehrhandlung unter den gegebenen Umständen entweder deren Erfolg gefährden oder den Verteidiger zusätzlichen, nicht mehr hinnehmbaren Risiken aussetzen würde (BGH, Beschl. v. 07.06.2017 – 4 StR 197/17 = NStZ-RR 2017, 270 = StV 2018, 731 m.w.N.). Hat der Angreifer - wie hier die Nebenklägerin durch den Schlag ins Gesicht des Angeklagten - bereits eine Verletzungshandlung begangen, dauert der Angriff so lange an, wie eine Wiederholung und damit ein erneutes Umschlagen in eine Verletzung unmittelbar zu befürchten ist (BGH a.a.O.).

b) Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist die knappe Feststellung der Strafkammer, wonach die Nebenklägerin „keinerlei“ Anstalten mehr gemacht habe, den Angeklagten weiter anzugreifen, nicht geeignet, einen gegenwärtigen Angriff abzulehnen.

aa) Das Landgericht beschreibt bereits nicht das konkrete Verhalten der Nebenklägerin, nachdem sie den Angeklagten ins Gesicht geschlagen hatte, sondern beschränkt sich auf die bloße Mitteilung der negativen Tatsache, sie habe „keinerlei“ Anstalten gemacht. Zudem hat die Berufungskammer völlig außer Acht gelassen, dass es jeder Lebenserfahrung widerspräche, wenn bei der aufgeheizten Stimmung, die von Anfang an von der Nebenklägerin ausging und die durch ständig sich steigerndes und übergriffiges Vorgehen gegenüber dem Angeklagten gekennzeichnet war, ihr bisheriges Verhalten urplötzlich in ein reines Untätig sein ohne weitere Reaktion umgeschlagen wäre. Dabei muss insbesondere in den Blick genommen werden, dass die Nebenklägerin es war, die grundlos den Angeklagten wegen eines Überholmanövers, das überdies nach den Feststellungen der Berufungskammer nicht gefährdend war, verfolgte, um ihn zur Rede zu stellen. Sie hatte damit weder einen Anlass für ihr Verhalten, noch ist ein nachvollziehbares Interesse auch nur ansatzweise ersichtlich. Ihre an den Angeklagten gerichtete Frage, „was er sich dabei gedacht habe“, die selbst bei einem gefährlichen Fahrmanöver unsinnig wäre, war in der gegebenen Situation rein provokativ. Dies wird durch ihre Distanzlosigkeit in physischer Hinsicht noch verstärkt. Ihr Verhalten gipfelte schließlich in dem tätlichen Angriff auf den Angeklagten in Form einer Ohrfeige. Bei lebensnaher Betrachtung des gesamten Geschehens ist ein völlig passives Verhalten unmittelbar nach Abschluss dieses aggressiven Vorgehens gänzlich unwahrscheinlich.

bb) Unabhängig davon hätte gerade bei Berücksichtigung der geschilderten Gesamtumstände die Verneinung der Gegenwärtigkeit des von der Nebenklägerin geführten Angriffs positiver Feststellungen, wie etwa einer Entschuldigung wegen der vorangegangenen Tätlichkeit oder eines Rückzugs seitens der Nebenklägerin, bedurft, um auszuschließen, dass der von ihr unzweifelhaft unternommene und auch rechtswidrige Angriff nicht mehr gegenwärtig war.

cc) Zudem fehlen konkrete Feststellungen zur Zeitspanne zwischen der Ohrfeige und der Reaktion des Angeklagten. Dass der Angeklagte, bevor er der Nebenklägerin ins Gesicht schlug, „kurz überlegte“, was auf die Feststellung eines inneren Vorgangs beim Angeklagten hinausläuft, wird zudem nicht durch die Beweiswürdigung belegt.
2. Soweit das Landgericht einen „Verteidigungswillen“ des Angeklagten verneint hat, beruht dies darauf, dass es rechtsfehlerhaft zu dem Ergebnis gelangte, der Angriff durch die Nebenklägerin sei nicht mehr gegenwärtig gewesen.

3. Ebenso wenig ist es rechtlich haltbar, soweit die Strafkammer – hilfsweise - dem Angeklagten die Berufung auf das Notwehrrecht versagt hat, weil er die Situation schuldhaft provoziert habe. Zwar kann eine Einschränkung des Notwehrrechts bei schuldhafter Provokation in Erwägung gezogen werden (vgl. nur BGH, Beschl. v. 03.03.2021 – 4 StR 318/20 = NStZ 2021, 607; 15.12.2020 – 2 StR 140/20 = NStZ-RR 2021, 134 = StV 2021, 420; 19.08.2020 – 1 StR 248/20 = StV 2021, 97). Allerdings ist das Landgericht zu Unrecht davon ausgegangen, dass dem Angeklagten durch das Wegstoßen der Nebenklägerin eine derartige Provokation anzulasten sei. Die Berufungskammer hat dabei einseitig das Verhalten des Angeklagten aus dem Geschehensablauf herausgegriffen, nicht aber auf die Gesamtsituation abstellt, die - wie bereits dargelegt - durch ein allein von der Nebenklägerin ausgehendes und mit ständig gesteigerten Aggressionshandlungen einhergehendes Verhalten gekennzeichnet war. Überdies stellte bereits das distanzlose und unberechtigte Zur-Rede-Stellen einen Angriff ihrerseits auf die Willensbestimmungsfreiheit des Angeklagten dar, wodurch das vom ihm vorgenommene Wegstoßen seinerseits nach § 32 StGB gerechtfertigt war und deshalb nicht als eine das Notwehrrecht einschränkende Provokation gewertet werden kann.

4. Auch die Hilfserwägungen des Landgerichts, mit denen die Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung i.S.d. § 32 Abs. 2 StGB verneint wurden, sind rechtsfehlerhaft.

a) Ein Verhalten ist erforderlich, wenn es zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihm um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung steht. Ob dies der Fall ist, bestimmt sich auf der Grundlage einer objektiven ex-ante-Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung. Danach muss der Angegriffene auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel nur zurückgreifen, wenn deren Abwehrwirkung unzweifelhaft ist (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urt. v. 12.08.2021 – 3 StR 447/20, bei juris m.w.N.). Dabei darf sich der Angegriffene grundsätzlich des Abwehrmittels bedienen, was er zur Hand hat und das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten lässt (vgl. BGH, Beschl. v. 17.04.2019 - 2 StR 363/18, bei juris). Auf einen Kampf mit ungewissem Ausgang braucht er sich nicht einzulassen. Bei mehreren Einsatzmöglichkeiten des vorhandenen Abwehrmittels hat der Verteidigende nur dann das für den Angreifer am wenigsten gefährliche zu wählen, wenn ihm Zeit zum Überlegen zur Verfügung steht und durch die weniger gefährliche Abwehr dieselbe, oben beschriebene Wirkung erzielt wird (vgl. BGH a.a.O.).

b) Der Faustschlag ließ eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten. Der Angeklagte musste sich nicht etwa auf ein (erneutes) Wegstoßen der Nebenklägerin oder einen Schlag mit der flachen Hand einlassen. Die Nebenklägerin ließ sich zum damaligen Zeitpunkt schon nicht durch das vorangegangene Wegstoßen einschüchtern. Vielmehr nahm sie dies sogar zum Anlass für ihren tätlichen Angriff auf den Angeklagten. In dieser Situation war eine weitere Ausweitung der von der Nebenklägerin verursachten Eskalation naheliegend, sodass ein weniger intensives, aber gleich wirksames Verteidigungsverhalten nicht denkbar war. Auch der Umstand, dass der Schlag mit so erheblicher Wucht geführt wurde, dass er zu durchaus erheblichen Verletzungsfolgen führte, beseitigt die Erforderlichkeit nicht, zumal das Risiko der jeweils korrekten Dosierung des Gegenschlags nicht der Angegriffene trägt.

V.

Wegen der aufgezeigten Rechtsfehler ist das Urteil des Landgerichts in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang aufzuheben (§ 353 StPO) und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO). Die tatsächlichen Feststellungen bis zur der dem Angeklagten verabreichten Ohrfeige und zu den der bei der Nebenklägerin eingetretenen Verletzungen werden von den Rechtsfehlern nicht berührt und können daher aufrechterhalten werden.


Einsender: RiBayObLG Dr. G. Gieg, Bamberg

Anmerkung:


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