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Entscheidungen

Haftfragen

Haftgrundbezogene Beschränkungen der U-Haft, Verdunkelungsgefahr, Wiederholungsgefahr, Fluchtgefahr

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Bremen, Beschl. v. 10.05.2022 – 1 Ws 30/22

Eigener Leitsatz: 1. Anordnungen von haftgrundbezogenen Beschränkungen in der Untersuchungshaft nach § 119 Abs. 1 StPO können auch mit solchen Haftgründen (Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr) begründet werden, die nicht auch dem Haftbefehl zugrunde liegen.
2. Für das Vorliegen einer Gefahr, die die Anordnung von haftgrundbezogenen Beschränkungen rechtfertigen kann, müssen konkrete Anhaltspunkte bestehen. Zu ihrer Feststellung darf dabei aber auch auf tatsachengestützte allgemeine Erfahrungssätze zurückgegriffen werden.
3. In besonderem Maße gilt das Erfordernis konkreter Anhaltspunkte für die Annahme einer im Rahmen des § 119 Abs. 1 StPO relevanten Verdunkelungsgefahr, wenn bereits eine, wenn auch mit der Revision angegriffene, Entscheidung der letzten Tatsacheninstanz ergangen ist. Für die Annahme einer dennoch fortbestehenden Verdunkelungsgefahr kommt es dann insbesondere auf konkrete Anhaltspunkte aus dem Verhalten des Angeklagten an, auf den Verfahrensablauf und gegebenenfalls eine – gegen eine Verdunkelungsgefahr sprechende – Rekonstruierbarkeit der den Feststellungen zugrundeliegenden Beweisergebnisse für den Fall einer erneuten Verhandlung.


In pp.

Die Beschwerde des Angeklagten A. vom 15.03.2022 gegen den Beschluss der Vorsitzenden der Strafkammer 9 des Landgerichts Bremen vom 01.03.2022 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Gründe

I.

Die Beschwerde richtet sich gegen die Zurückweisung des Antrages auf Aufhebung einer Beschränkungsanordnung im Sinne des § 119 Abs. 1 StPO.

Mit Urteil vom 27.07.2021 hat das Landgericht Bremen den Angeklagten wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 26 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 12 Jahren und 6 Monaten verurteilt und die Einziehung eines Betrages von EUR 4.252.086,50 als Wert des Erlangten angeordnet. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, der Angeklagte hat Revision eingelegt.

Das Amtsgericht Bremen hatte in dieser Sache am 11.09.2020 einen Haftbefehl gegen den Angeklagten erlassen, den es auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt hat, und zugleich auf Antrag der Staatsanwaltschaft Bremen gemäß § 119 Abs. 1 StPO folgende Beschränkungen angeordnet:

„1. Der Empfang von Besuchen bedarf der Erlaubnis.
2. Besuche sind akustisch zu überwachen.
3. Die Telekommunikation bedarf der Erlaubnis.
4. Die Telekommunikation ist zu überwachen.
5. Der Schrift- und Paketverkehr ist zu überwachen.
6. Die Übergabe von Gegenständen mit Ausnahme geringwertiger Nahrungs- und Genussmittel bedarf der Erlaubnis.
7. Der Beschuldigte ist zu trennen von folgenden Personen:
B. – K.
8. Die Ausantwortung bedarf der Genehmigung."

Ein Antrag des Angeklagten vom 12.01.2021 auf Aufhebung der Trennungsanordnung vom aus dem Beschluss vom 11.09.2020 wurde mit Beschluss der Strafkammervorsitzenden vom 05.03.2021 zurückgewiesen; die hiergegen eingelegte Beschwerde des Angeklagten vom 09.03.2021 wurde mit Beschluss des Senats vom 30.04.2021 als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung wurde neben einer nach allgemeinen Erfahrungssätzen zu befürchtenden Gefahr der Erschwerung oder gar Vereitelung der Wahrheitsfindung durch den unkontrollierten Informationsaustausch der mutmaßlichen Tatbeteiligten, gegenüber denen der Verdacht des Vorliegens organisierter Kriminalität bestand, auch darauf verwiesen, dass beim Angeklagten in seinem Haftraum am 20.01.2021 ein Smartphone aufgefunden wurde, welches er unerlaubt in seinem Besitz hatte.

Auf einen weiteren Antrag des Angeklagten vom 03.06.2021 hob die Vorsitzende der Strafkammer 9 mit Beschluss vom 06.08.2021 die Trennungsanordnung aus dem Beschluss vom 11.09.2020 hinsichtlich aller Personen auf, bis auf die Trennung des Angeklagten vom Mitangeklagten B. Im Übrigen wurden die Anordnungen aus dem Beschluss des aufrechterhalten.

Mit Schriftsatz vom 02.02.2022 beantragte der Angeklagte erneut die Aufhebung der Beschränkungen nach § 119 StPO. Dieser Antrag wurde durch die Vorsitzende der Strafkammer 9 mit Beschluss vom 01.03.2022 zurückgewiesen.

Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde vom 15.03.2022, die er unter anderem damit begründet hat, dass die Beschränkungsanordnung auf die Annahme einer Verdunkelungsgefahr gestützt sei, während der Haftbefehl mit dem Haftgrund der Fluchtgefahr begründet worden sei, sowie damit, dass für die getroffene Anordnung keine Begründung bestehe und dass die Einschränkung persönlicher Besuche auch für die Kinder des Angeklagten eine unzumutbare Härte darstelle; die Vorsitzende der Strafkammer 9 hat dieser Beschwerde am 18.03.2022 nicht abgeholfen und die Sache dem Hanseatischen Oberlandesgericht in Bremen zur Entscheidung vorgelegt.

Die Generalstaatsanwaltschaft Bremen hat am 24.03.2022 beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen. Der Verteidiger des Angeklagten hat mit Schriftsatz vom 06.04.2022 hierzu Stellung genommen.

II.

Die Beschwerde des Angeklagten A. vom 15.03.2022 gegen den Beschluss der Vorsitzenden der Strafkammer 9 den Landgerichts Bremen vom 01.03.2022 ist statthaft gemäß den §§ 119 Abs. 5 i.V.m. 304 Abs. 1 StPO. Sie ist formgerecht eingelegt (§ 306 Abs. 1 StPO) und wegen der sich für den Angeklagten aus der Fortdauer der Beschränkungsanordnung ergebenden Beschwer daher auch zulässig; in der Sache ist die Beschwerde jedoch nicht begründet, da mit dem Beschluss vom 01.03.2022 in formeller wie materieller Hinsicht zu Recht die Fortdauer der Beschränkungen nach § 119 StPO angeordnet wurde.

1. Nach § 126 Abs. 2 S. 3 StPO werden nach der Erhebung der öffentlichen Klage Maßnahmen nach § 119 StPO durch den Vorsitzenden des Gerichts angeordnet, das mit der Sache befasst ist, wobei während des Revisionsverfahrens nach § 126 Abs. 2 S. 2 StPO das Gericht zuständig ist, dessen Urteil angefochten ist. Hieraus ergibt sich eine Zuständigkeit der Vorsitzenden der Strafkammer 9 des Landgerichts Bremen für die Entscheidung über den Antrag des Angeklagten vom 02.02.2022, wobei diese Zuständigkeit auch für die Entscheidung über einen – hier vorliegenden – Antrag auf Aufhebung einer bereits getroffenen Beschränkungsanordnung gilt (siehe KG Berlin, Beschluss vom 11.06.1996 – 4 Ws 84-85/96, juris Ls., NStZ-RR 1996, 365; OLG Frankfurt, Beschluss vom 17.02.2014 – 3 Ws 122/14, juris Rn. 5, NStZ-RR 2014, 217; OLG Hamm, Beschluss vom 06.10.2016 – III-5 Ws 341/16, juris Rn. 12; OLG Stuttgart, Beschluss vom 08.02.2022 – 1 Ws 21/22, juris Rn. 11).

2. Auch in materieller Hinsicht ist mit dem Beschluss vom 01.03.2022 zu Recht die Fortdauer der Beschränkungen angeordnet worden.

a) Nach § 119 Abs. 1 S. 1 StPO können einem inhaftierten Beschuldigten Beschränkungen auferlegt werden, soweit dies zur Abwehr einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr (§§ 112, 112a StPO) erforderlich ist, insbesondere unter anderem nach § 119 Abs. 1 S. 2 StPO die Erlaubnisbedürftigkeit des Empfangs von Besuchen (Nr. 1), die Überwachung von Besuchen, Telekommunikation sowie des Schrift- und Paketverkehrs (Nr. 2), die Erlaubnisbedürftigkeit der Übergabe von Gegenständen bei Besuchen (Nr. 3) und die Trennung des Beschuldigten von einzelnen oder allen anderen Inhaftierten (Nr. 4).

aa) Die nach § 119 Abs. 1 StPO anzuordnenden Beschränkungen zu Lasten eines inhaftierten Beschuldigten können nicht nur auf die im Haftbefehl ausdrücklich genannten Haftgründe gestützt werden. Sie kommen nach einheitlicher Auffassung in der jüngeren Rechtsprechung der Oberlandesgerichte auch zur Abwehr aller anderen Gefahren in Betracht, denen durch die Anordnung der Untersuchungshaft begegnet werden soll; mithin kann auch auf im Haftbefehl nicht genannte weitere Haftgründe zur Begründung einer Beschränkungsanordnung zurückgegriffen werden (siehe KG Berlin, Beschluss vom 12.08.2013 – 4 Ws 102/13, juris Rn. 10, StV 2014, 229; OLG Celle, Beschluss vom 11.05.2020 – 3 Ws 94/20, juris Rn. 20, StV 2021, 380; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25.01.2021 – 3 Ws 7/21, juris Ls., StraFo 2021, 200; OLG Hamm, Beschluss vom 28.05.2019 – 5 Ws 217/19, juris Rn. 22; OLG Köln, Beschluss vom 15.03.2021 – 2 Ws 133/21, juris Rn. 8, StV-S 2021, 108; OLG Stuttgart, Beschluss vom 08.02.2022 – 1 Ws 21/22, juris Rn. 14; siehe auch die Begründung des Regierungsentwurfs zum Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 21.01.2009, BT-Drucks. 16/11644, S. 24; zustimmend aus der Literatur statt vieler siehe KK-Schultheis, 8. Aufl., § 119 StPO Rn. 8; LR-Gärtner, 27. Aufl., § 119 StPO Rn. 17; Meyer-Goßner/Schmitt, 64. Aufl., § 119 StPO Rn. 5; MK-Böhm/Werner, § 119 StPO Rn. 21; so auch die Rechtsprechung des Senats, siehe u.a. Hanseatisches OLG in Bremen, Beschluss vom 13.01.2017 – 1 Ws 180/16, juris Rn. 18, StV 2017, 45; zuletzt Beschluss vom 30.04.2021 – 1 Ws 30/21 n.v.). Dies ergibt sich unmittelbar aus dem Wortlaut der Norm, welche von der Auferlegung der Beschränkungen zur Abwehr einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr spricht, ohne dies darauf zu verengen, dass auch der Haftbefehl auf die Annahme derselben Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr gestützt sein müsste. Es handelt sich um unterschiedliche Entscheidungen mit jeweils unterschiedlicher Eingriffsintensität, so dass kein Grund für die Annahme besteht, dass nur eine bereits im Haftbefehl angenommene Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr auch Grundlage für die Anordnung einer Beschränkung nach § 119 Abs. 1 StPO sein könnte und dass zuvor eine entsprechende Ergänzung des Haftbefehls vorzunehmen wäre, bevor Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 StPO auf weitere Haftgründe gestützt werden könnten; es ist vielmehr im Rahmen der Anordnung einer Beschränkung nach § 119 Abs. 1 StPO eine selbständige Entscheidung darüber zu treffen, ob das Vorliegen dieser Gründe die Auferlegung von Beschränkungen rechtfertigt. Soweit in der Literatur sehr vereinzelt eine gegenteilige Auffassung vertreten worden ist (siehe u.a. König, NStZ 2010, 185, 187, unter Bezugnahme auf kritische Stimmen zur früheren Fassung des § 119 Abs. 1 StPO), ist dem mithin nach dem Wortlaut des § 119 Abs. 1 StPO in der seit dem 01.01.2010 geltenden Fassung die Grundlage entzogen.

bb) Die Auslegung der Vorschriften des Untersuchungshaftrechts hat generell dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und deshalb allein den unvermeidlichen Beschränkungen unterworfen werden darf, und es wird deswegen der Vollzug der Untersuchungshaft in besonderem Maße durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.03.1973 – 2 BvR 664/72, juris Rn. 8 f., BVerfGE 35, 5; Beschluss vom 06.04.1976 – 2 BvR 61/76, juris Rn. 11, BVerfGE 42, 95; Beschluss vom 10.01.2008 – 2 BvR 1229/07, juris Rn. 17, BVerfGK 13, 163; Beschluss vom 30.10.2014 – 2 BvR 1513/14, juris Rn. 18, NStZ-RR 2015, 79; siehe auch die Rechtsprechung des Senats in Hanseatisches OLG in Bremen, Beschluss vom 13.01.2017 – 1 Ws 180/16, juris Rn. 20, StV 2017, 45). Bei der Anwendung des generalklauselartigen § 119 Abs. 1 StPO ist danach grundsätzlich die Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles geboten. Voraussetzung für die Zulässigkeit von Grundrechtseingriffen auf der Grundlage von § 119 Abs. 1 StPO ist eine reale Gefährdung der in der Bestimmung bezeichneten öffentlichen Interessen, der durch die Inhaftierung allein nicht ausreichend entgegengewirkt werden kann (siehe BVerfG, Beschluss vom 30.10.2014 – 2 BvR 1513/14, juris Rn. 18, NStZ-RR 2015, 79).

cc) Für das Vorliegen einer Gefahr, die die Anordnung von Beschränkungen rechtfertigen könnte, müssen konkrete Anhaltspunkte bestehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.03.1973 – 2 BvR 664/72, juris Rn. 9, BVerfGE 35, 5; Beschluss vom 05.02.1981 – 2 BvR 646/80, juris Rn. 20, BVerfGE 57, 170; Beschluss vom 30.10.2014 – 2 BvR 1513/14, juris Rn. 18, NStZ-RR 2015, 79). Die bloße Möglichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener seine Freiheiten missbraucht, reicht nicht aus (siehe BVerfG, Beschluss vom 30.10.2014, a.a.O.; siehe auch die Rechtsprechung des Senats in Hanseatisches OLG in Bremen, a.a.O.). Zur Feststellung des konkreten Vorliegens darf dagegen aber durchaus auf tatsachengestützte allgemeine Erfahrungssätze zurückgegriffen werden wie etwa zur Feststellung einer Verdunkelungsgefahr auf den Erfahrungssatz, dass der unkontrollierte Informationsaustausch zwischen nicht geständigen mutmaßlichen Tatbeteiligten untereinander die Gefahr der Erschwerung oder sogar Vereitelung der Wahrheitsfindung durch eine Absprache des Einlassungsverhaltens mit sich bringt (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 12.08.2013 – 4 Ws 102-103/13, juris Rn. 20, StV 2014, 229; Beschluss vom 07.08.2014 – 1 Ws 52/14, juris Rn. 7, NStZ-RR 2014, 377; Meyer-Goßner/Schmitt, 64. Aufl., § 119 StPO Rn. 22).

In besonderem Maße gilt das Erfordernis konkreter Anhaltspunkte für die Annahme einer im Rahmen des § 119 Abs. 1 StPO relevanten Gefahr dann, wenn Beschränkungsmaßnahmen wegen Verdunkelungsgefahr angeordnet werden und bereits ein mit der Revision angegriffenes Urteil ergangen ist. Allein die bloße Möglichkeit, dass ein Angeklagter für den Fall der Aufhebung des Urteils und der Zurückverweisung der Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung noch eine Gelegenheit bekommen könnte, Verdunkelungshandlungen zu begehen, kann regelmäßig für die Annahme eines Haftgrundes nicht genügen (siehe die Rechtsprechung des Senats in Hanseatisches OLG in Bremen, a.a.O., juris Rn. 23; ebenso KG Berlin, Beschluss vom 03.08.2018 – 5 Ws 140/18, juris Rn. 30; OLG Stuttgart, Beschluss vom 08.02.2022 – 1 Ws 21/22, juris Rn. 22; zustimmend auch KK-Schultheis, 8. Aufl., § 119 StPO Rn. 8; LR-Gärtner, 27. Aufl., § 119 StPO Rn. 21). Insoweit kommt es für die Annahme einer dennoch fortbestehenden Verdunkelungsgefahr insbesondere auf konkrete Anhaltspunkte aus dem Verhalten des Angeklagten, auf den Verfahrensablauf und gegebenenfalls eine – gegen eine Verdunkelungsgefahr sprechende – Rekonstruierbarkeit der den Feststellungen zugrundeliegenden Beweisergebnisse für den Fall einer erneuten Verhandlung an (siehe OLG Köln, Beschluss vom 15.03.2021 – 2 Ws 133/21, juris Rn. 14, StV-S 2021, 108; vgl. ähnlich KG Berlin, Beschluss vom 07.08.2014 – 1 Ws 52/14, juris Rn. 6 ff., NStZ-RR 2014, 377; OLG Celle, Beschluss vom 22.02.2019 – 3 Ws 67/19, juris Rn. 12, StraFo 2019, 219).

b) Gemessen an diesen Voraussetzungen ist der Antrag des Angeklagten vom 02.02.2022 auf Aufhebung der Beschränkungen nach § 119 StPO mit dem Beschluss vom 01.03.2022 in der Sache zu Recht zurückgewiesen worden.

Die Fortdauer der Beschränkungen nach § 119 StPO durfte zulässigerweise auf die Verdunkelungsgefahr gestützt werden, auch wenn der gegen den Angeklagten fortbestehende Haftbefehl lediglich den Haftgrund der Fluchtgefahr nennt, da – wie vorstehend unter 2.a.aa. ausgeführt – die Anordnung von Beschränkungen nach § 119 Abs. 1 StPO nicht auf die im Haftbefehl angenommenen Haftgründe eingeschränkt ist.

Eine solche Verdunkelungsgefahr, der durch die Anordnung der Beschränkungen zu begegnen ist, ist vorliegend zu bejahen, dies auch unter Berücksichtigung der erhöhten Anforderungen an die Annahme einer solchen Gefahr bei Vorliegen einer, wenn auch mit der Revision angegriffenen, Entscheidung der letzten Tatsacheninstanz. Die Annahme der Verdunkelungsgefahr ergibt sich vorliegend nicht nur aus dem allgemeinen Erfahrungssatz, dass bei mehreren mutmaßlichen Beteiligten als Mitangeklagten der unkontrollierte Informationsaustausch die Gefahr der Erschwerung oder sogar Vereitelung der Wahrheitsfindung durch eine Absprache des Einlassungsverhaltens mit sich bringt. Vorliegend sprechen auch weitere Umstände des Einzelfalls dafür, hier abweichend vom Regelfall eine fortbestehende Verdunkelungsgefahr anzunehmen: Bei dem Angeklagten ist während der Zeit der Untersuchungshaft ein Smartphone in seinem Haftraum aufgefunden worden, welches er unerlaubt in Besitz hatte und womit seine Neigung zur unerlaubten und nicht offengelegten Kommunikation belegt wurde, die auch der Annahme des Bestehens einer Verdunkelungsgefahr zugrunde liegt. Das Landgericht hat in seinem Urteil auf eine bandenmäßige Begehung des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln erkannt und damit die Angeklagten dem Kreis der organisierten Kriminalität zugeordnet, bei der in besonderem Maße das Bestehen einer Verdunkelungsgefahr zu besorgen ist. Die Angeklagten haben sich zudem vor dem Landgericht nicht eingelassen und die Verurteilung ist maßgeblich auf die Ergebnisse der Verwertung der Encrochat-Daten gestützt. Daher ergibt sich in besonderem Maße die Gefahr, dass für den Fall einer Aufhebung des Urteils in der Revision die Angeklagten in einer erneuten Tatsacheninstanz durch dann abgestimmte Einlassungen die Wahrheitsermittlung erschweren. Dass die Beschränkungsanordnung auch die Kommunikation mit der Familie des Angeklagten betrifft, ist der bestehenden Verdunkelungsgefahr geschuldet, da auch die Möglichkeit einer Abstimmung des Einlassungsverhalten durch Kommunikation über Dritte zu besorgen ist.

Die Beschränkungsanordnung ist schließlich auch im Hinblick auf die betroffenen Interessen und Rechtsgüter angemessen. Hier ist namentlich zu berücksichtigen die Schwere und die Vielzahl der dem Angeklagten zur Last gelegten Taten aus dem Bereich der Organisierten Kriminalität, wegen derer das Landgericht gegen ihn eine Freiheitsstrafe von 12 Jahren und sechs Monaten verhängt hat. Es ist daher auch bei einer Dauer der Untersuchungshaft unter den Bedingungen der Beschränkungen von nunmehr mehr als 20 Monaten nicht festzustellen, dass die Belastungen hierdurch außer Verhältnis zur Tatschwere stünden sowie zu der Gefahr, dass wegen Verdunkelungshandlungen die Wahrheitsfindung hinsichtlich dieser Taten erschwert oder vereitelt werden könnte. Der Angeklagte kann – wenn auch überwacht – Besuche empfangen und telefonieren und somit insbesondere den Kontakt zu seiner Familie halten. Dass die Anstalt derzeit offenbar Skype-Gespräche nicht ermöglichen kann, beruht auf mangelnden Kapazitäten der JVA, nicht dagegen auf den angeordneten Beschränkungen.


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