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Entscheidungen

StPO

Beweiswürdigung, Erfahrungssatz

Gericht / Entscheidungsdatum: BayObLG, Beschl. v. 03.02.2022 - 202 StRR 11/22

Leitsatz des Gerichts: 1. Eine Verfahrensrüge, mit der die Ablehnung eines Beweisantrags beanstandet wird, entspricht nicht den Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, wenn in dem Beweisantrag auf Aktenstellen Bezug genommen wird, die Revision diese jedoch weder vorlegt noch inhaltlich mitteilt.
2. Die Beweiswürdigung ist unter anderem dann rechtsfehlerhaft, wenn der Tatrichter von einem Erfahrungssatz ausgeht, den es nicht gibt. Dies ist etwa der Fall, wenn er die von ihm gezogene Schlussfolgerung als zwingend ansieht, obwohl Alternativen ohne weiteres denkbar wären.
3. Will der Tatrichter aus dem äußeren Tatgeschehen Schlüsse auf den subjektiven Tatbestand ziehen, bedarf es einer Gesamtwürdigung des Tatgeschehens, wobei auch das unmittelbar nach Abschluss der Tat gezeigte Verhalten des Angeklagten von Bedeutung sein kann.


In pp.

I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts vom 06.09.2021 mit den Feststellungen mit Ausnahme derjenigen zum äußeren Tatgeschehen aufgehoben.
II. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
III. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht – Schöffengericht – verurteilte den Angeklagten am 18.11.2019 wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in je zwei tateinheitlichen Fällen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Auf seine hiergegen gerichtete Berufung hat das Landgericht die Berufung des Angeklagten unter Einbeziehung zweier noch nicht vollstreckter Einzelgeldstrafen aus einem seit dem 11.01.2020 rechtskräftigen Strafbefehl vom 27.12.2019 im Wege der nachträglichen Gesamtstrafenbildung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und einem Monat verurteilt und bestimmt, dass zum Ausgleich der unangemessen langen Verfahrensdauer zwei Monate der Gesamtfreiheitsstrafe als vollstreckt gelten. Zudem hat es die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Die auf das Strafmaß beschränkte Berufung der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht als unbegründet verworfen. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Mit Zuleitungsschrift vom 04.01.2022 hat die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Revision nach § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die statthafte (§ 333 StPO) und auch im Übrigen zulässige Revision des Angeklagten führt auf die Sachrüge hin zur Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung der Sache im tenorierten Umfang, weil die Beweiswürdigung des angegriffenen Urteils lückenhaft ist; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Die erhobene Verfahrensrüge, mit der beanstandet wird, dass das Landgericht dem Beweisantrag auf Inaugenscheinnahme der Tatörtlichkeit nicht nachgegangen ist, verhilft der Revision indes nicht zum Erfolg, weil sie bereits unzulässig ist. Die Rüge entspricht nicht den Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Demnach sind die Verfahrenstatsachen so vollständig, genau und aus sich heraus verständlich darzulegen, dass das Revisionsgericht allein anhand der Begründungsschrift prüfen kann, ob der geltend gemachte Verfahrensfehler gegeben wäre, wenn die behaupteten Tatsachen erwiesen wären (st.Rspr., vgl. etwa BGH; Beschl. v. 25.11.2021 – 4 StR 103/21 bei juris; 01.12.2020 – 4 StR 519/19 = NStZ-RR 2021, 116 = Blutalkohol 58 [2021], 159; 29.09.2020 – 5 StR 123/20 = JR 2021, 231 = NStZ 2022, 64; 13.05.2020 – 4 StR 533/19 = medstra 2021, 42 = NStZ 2021, 178 u. 17.07.2019 – 5 StR 195/19 bei juris). Dem wird die Revisionsbegründung aber schon deshalb nicht gerecht, weil in dem Beweisantrag mehrfach auf verschiedene Aktenstellen Bezug genommen wird, die Revision jedoch diese weder vorlegt noch inhaltlich mitteilt (vgl. zu diesem Erfordernis nur BGH, Beschl. v. 25.11.2021 – 4 StR 103/21; 11.05.2021 – 5 StR 110/21; 07.04.2021 – 6 StR 92/21, sämtliche bei juris; 16.02.2021 – 4 StR 517/20 = NStZ 2021, 761; 09.01.2020 – 5 StR 587/19; 03.07.2019 – 4 StR 459/18, jeweils bei juris; 09.04.2019 – 4 StR 38/19 = NStZ 2020, 758 und 02.12.2015 – 4 StR 423/15 bei juris).

2. Allerdings kann die Verurteilung aufgrund der Sachrüge keinen Bestand haben, weil das angefochtene Urteil sachlich-rechtliche Fehler aufweist.

a) Soweit für die Entscheidung des Senats relevant, hat die Berufungskammer folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Am Abend des 24.01.2019 kam es im Anschluss an eine tätliche Auseinandersetzung des Angeklagten mit seiner Ehefrau in deren gemeinsamer Wohnung im zweiten Stock eines Mietshauses zu einem Polizeieinsatz, nachdem die Ehefrau vor dem randalierenden Angeklagten zu ihrem im ersten Stock des Anwesens wohnenden Nachbarn geflüchtet war. Die zunächst aus einer Polizeibeamtin und einem Polizeibeamten bestehende Streife vor Ort entschloss sich, Verstärkung anzufordern und nach deren Eintreffen zur Aufklärung des Sachverhalts und zur Erteilung eines etwaigen Platzverweises den weiter lautstark randalierenden Angeklagten in dessen Wohnung aufzusuchen. Nach Eintreffen eines dritten Beamten begaben sich die beiden erstgenannten Beamten wieder in den 1. Stock, während sich der dritte Beamte noch im Treppenhaus auf dem Weg in den 1. Stock befand. In diesem Moment kam der Angeklagte aufgebracht und schreiend aus dem 2. Stock die Treppe hinunter, wobei er in der linken Hand einen ca. 0,95 Meter langen Birkenstock hielt und in der rechten Hand eine Axt mit einer Gesamtlänge von ca. 38 cm und geschärfter Klinge mit einer Klingenlänge von ca. 10 cm. Er hielt dabei den Birkenstock mit angewinkeltem Arm halbhoch vor seinen Körper und die Axt zunächst etwa auf Schulterhöhe. Dabei schrie der Angeklagte Unverständliches. Auf die Aufforderung „Waffe weg“ der beiden bereits im 1. Stock befindlichen Polizeibeamten reagierte der Angeklagte nicht, obgleich beide Beamte ihren Einsatzstock zogen. Während diese daraufhin im Flur zurückwichen, ging der Angeklagte mit dem Holzstock und der erhobenen Axt weiter auf die [beiden] Beamten zu. Die Polizeibeamtin warf ihren Einsatzstock weg und ergriff ihre Dienstwaffe. Der Angeklagte bewegte sich dabei immer noch auf die [beiden] Beamten […] zu, wobei er die Axt so hielt, dass die scharfe, geschliffene Seite der Axt in deren Richtung zeigte. Trotz eines erneuten Rufs der Beamten „Waffe weg“, bewegte sich der Angeklagte jedoch weiterhin auf die [beiden] Polizeibeamtem zu und machte mit der Axt eine Ausholbewegung nach oben über seinen Kopf, um auf die Beamten einzuschlagen und diese durch Einsatz von Axt und Stock zu verletzen. Der Angeklagte handelte dabei in der Absicht, sich den polizeilichen Anordnungen zu widersetzen. Insbesondere weigerte er sich, Axt und Stock wegzulegen. Als sich der Angeklagte noch etwa 2 Meter von den beiden Beamten entfernt befand, gab der zur Verstärkung hinzugezogene, sich zu diesem Zeitpunkt noch auf der Treppe zum 1. Stock befindliche dritte Polizeibeamte aus dem Treppenhaus heraus insgesamt 5 Schüsse aus seiner Dienstpistole ab, die den Angeklagten jedoch verfehlten. Der Angeklagte wich jetzt zunächst ins Treppenhaus zum 2. Stock zurück, ehe er unmittelbar darauf von den Beamten nach Einsatz von Pfefferspray überwältigt werden konnte. Bei dem Versuch der drei Beamten, den Angeklagten am Boden zu fixieren und zu fesseln, leistete dieser weiterhin Widerstand, indem er die Arme unter dem Körper sperrte und diese trotz Aufforderung nicht freigab. Nur unter Einsatz von Kraftaufwand gelang es den drei Beamten, die Hände des Angeklagten auf den Rücken zu ziehen und diesen letztlich zu fesseln.

b) Die Beweiswürdigung ist zum festgestellten Tatentschluss, der auf die Verwirklichung einer versuchten gefährlichen Körperverletzung gemäß §§ 224 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, 22 StGB gerichtet ist, rechtsfehlerhaft. Dies erfasst zugleich den Schuldspruch wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte gemäß § 114 Abs. 1 StGB, weil dieser eine unmittelbar auf den Körper des Beamten zielende Einwirkung, die nicht zum Erfolg geführt haben muss, voraussetzt (vgl. zuletzt BayObLG, Beschl. v. 01.06.2021 – 202 StRR 54/21 bei juris), was durch die Beweiswürdigung ebenfalls nicht belegt wird.

aa) Zwar ist die Beweiswürdigung Sache des Tatrichters und unterliegt nur eingeschränkter revisionsrechtlicher Kontrolle (st.Rspr.; vgl. zuletzt u.a. BGH, Beschl. v. 18.03.2021 - 4 StR 480/20 = BeckRS 2021, 9394 = NStZ-RR 2021, 182 [Ls] m.w.N.). Ein Urteil kann jedoch keinen Bestand haben, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder überhöhte Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung gestellt wurden (st.Rspr.; vgl. nur BGH, Urt. v. 20.04.2021 – 1 StR 286/20; 11.03.2021 – 3 StR 316/20; 26.01.2021 – 1 StR 376/20; Beschl. v. 14.04.2021 – 4 StR 91/21, jeweils bei juris; 13.10.2020 – 1 StR 299/20 = NStZ-RR 2021, 24; BayObLG, Urt. v. 16.07.2021 – 202 StRR 59/21 bei juris, jeweils m.w.N.). Dasselbe gilt, wenn sie sich auf nichtexistierende Erfahrungssätze stützt (vgl. nur BGH, Beschl. v. 16.07.2019 – 4 StR 231/19 = NStZ-RR 2019, 317 = wistra 2019, 513).

bb) Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung der Berufungskammer nicht gerecht.

(1) Das Landgericht schließt aus dem objektiven Geschehen, nämlich das Erheben der Axt in eine „Ausholbewegung“ über den Kopf und dem Zugehen des Angeklagten auf die Polizeibeamten, darauf, dass „der Angeklagte sich im Begriff befand, auf die Beamten einzuschlagen und dabei eine Verletzung in Kauf zu nehmen“. Schon die Annahme des Landgerichts, das objektive Geschehen lasse „nur“ den von ihm gezogenen Schluss zu, ist nicht haltbar. Das Landgericht legt seiner Überzeugungsbildung einen Erfahrungssatz zugrunde, den es nicht gibt, und lässt außer Acht, dass das Verhalten des Angeklagten auch ohne weiteres dahingehend interpretiert werden könnte, dass er die Polizeibeamten mit der Verwirklichung bedrohen wollte. Mit der von der Berufungskammer gezogenen Schlussfolgerungen hat sie sich den Blick auf eine denkbare und keineswegs durch die Beweiswürdigung fehlerfrei ausgeschlossene Sachverhaltsalternative von vornherein verstellt. Dies gilt umso mehr, als es nicht darauf ankommt, wie die Polizeibeamten das Verhalten des Angeklagten in der konkreten Situation verstehen mussten. Denn aus ihrer Sicht, die darauf gerichtet sein musste, erforderliche Maßnahmen nach dem Polizeiaufgabengesetz zu treffen, war es allein maßgeblich, ob eine konkrete Gefahr oder zumindest eine Anscheinsgefahr bestand (vgl. Art. 11 Abs. 1 Satz 1, 84 Abs. 1 Nr. 1 PAG in der zur Tatzeit geltenden Fassung v. 18.05.2018). Im Strafverfahren geht es aber im Gegensatz dazu darum, ob dem Angeklagten die Begehung der ihm angelasteten Straftat positiv nachgewiesen werden kann.

(2) Die Berufungskammer hat überdies die zwingend erforderliche, an einer lückenlosen Beweiswürdigung auszurichtende Gesamtwürdigung unterlassen.

(a) Das Berufungsurteil trifft keine Feststellungen dazu, dass der Angeklagte Hiebbewegungen in Richtung der Beamten unternommen hätte. Gerade damit hätte sich der Tatrichter aber auseinandersetzen müssen, zumal – wie dargelegt – die Bedeutung der Ausholbewegung als solche ambivalent ist.

(b) Das weitere Tatgeschehen nach Überwältigung des Angeklagten mittels des Einsatzes von Pfefferspray durch die Polizeibeamten hat das Landgericht bei seiner Überzeugungsbildung ebenfalls nicht in seine Überlegungen eingestellt und offensichtlich deshalb insoweit nur lückenhafte Feststellungen getroffen. Das Berufungsurteil stellt insoweit fest, dass der Angeklagte, bei dem Versuch der Polizeibeamten, ihn am Boden zu fixieren und zu fesseln, weiterhin Widerstand leistete, indem er die Arme unter den Körper sperrte und diese trotz Aufforderung nicht freigab. Dazu, wo sich mittlerweile die zunächst in der Hand gehaltene Axt befand und ob der Angeklagte hierauf noch Zugriff hatte, verhält sich das Landgericht nicht. Im Rahmen der gebotenen Gesamtschau hätte aber auch dieses Verhalten des Angeklagten unmittelbar nach dem Tatgeschehen eventuell Rückschlüsse darauf zulassen können, ob es ihm darauf ankam, die Polizeibeamten tatsächlich mit der Axt zu verletzen oder nicht.

III.

Die aufgezeigten Rechtsfehler führen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils in dem aus Ziff. I. des Beschlusstenors ersichtlichen Umfang, d.h. einschließlich des nach Auffassung der Berufungskammer tateinheitlich mitverwirklichten, aufgrund der lückenhaften Beweiswürdigung des Landgerichts allerdings ebenfalls nicht rechtsfehlerfrei begründeten Schuldspruchs wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in zwei tateinheitlichen Fällen.

Jedoch können die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des angefochtenen Urteils zum äußeren Tatgeschehen bestehen bleiben, weil sie von dem die Aufhebung bedingenden Rechtsfehler nicht betroffen sind (vgl. § 353 Abs. 2 StPO). Die neue Berufungskammer kann und darf deshalb ergänzende Feststellungen treffen, sofern sie zu den bisherigen nicht in Widerspruch treten (st.Rspr., vgl. zuletzt u.a. BGH, Beschl. v. 29.04.2021 – 5 StR 104/21 und 12.08.2021 – 1 StR 242/21, jew. bei juris).

IV.

Aufgrund der aufgezeigten Rechtsfehler ist das angefochtene Urteil im tenorierten Umfang aufzuheben (§ 353 StPO) und die Sache gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere (kleine) Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO).

V.

Die Entscheidung ergeht durch einstimmigen Beschluss gemäß § 349 Abs. 4 StPO.


Einsender: RiBayObLG Dr. G. Gieg, Bamberg

Anmerkung:


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