Gericht / Entscheidungsdatum: LG Stuttgart, Beschl. v. 14.07.2022 18 Qs 36/22
Leitsatz des Gerichts: 1. Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers kommt ausnahmsweise in Betracht, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 StPO vorlagen und die Entscheidung allein aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die der (ehemalige) Beschuldigte keinen Einfluss hatte.
2. In dem Antrag eines Wahlverteidigers auf Beiordnung als Pflichtverteidiger ist in der Regel die Ankündigung der Niederlegung des Wahlmandats für den Fall der Beiordnung zu sehen, ohne dass es einer ausdrücklichen diesbezüglichen Erklärung bedarf.
In pp.
1. Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen den Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart vom 29. Juni 2022 wird als unbegründet
verworfen.
2. Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und etwaige notwendige Auslagen des Beschuldigten im Beschwerdeverfahren.
Gründe
I.
Gegen den vormals Beschuldigten wurde anlässlich eines Vorfalls, der sich am 23. März 2022 in einer Wohngemeinschaft in der U. Straße [
] in S. ereignet haben soll, wegen schweren Raubes ermittelt. Der Beschuldigte war am 25. März 2022 von einem der Anzeigeerstatter in der K. Passage in S. wiedererkannt und von der hierauf verständigten Polizei einer Personenkontrolle unterzogen worden. Dabei wurde festgestellt, dass gegen den Beschuldigten ein Haftbefehl in anderer Sache bestand, worauf der Beschuldigte in der Justizvollzugsanstalt S. in Untersuchungshaft genommen wurde. Mit Fax vom 13. April 2022 legitimierte sich die Verteidigerin des Beschuldigten unter Vorlage einer entsprechenden Vollmacht des Beschuldigten in vorliegender Sache und beantragte mit einem weiteren Fax vom selben Tag, dem Beschuldigten bereits im Ermittlungsverfahren als Pflichtverteidigerin beigeordnet zu werden, da sich der Beschuldigte in anderer Sache in Untersuchungshaft befinde.
Mit Verfügung vom 31. Mai 2022 stellte die Staatsanwaltschaft Stuttgart das Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten in vorliegender Sache nach § 170 Abs. 2 StPO ein.
Mit Schriftsatz vom 9. Juni 2022 erinnerte die Verteidigerin an ihren Antrag auf Beiordnung und teilte ergänzend zum Antrag vom 13.04.2022 mit, dass die Wahlverteidigung für den Fall der Beiordnung niedergelegt wird (Zitat). Die Staatsanwaltschaft legte den Antrag dem Amtsgericht Stuttgart mit Schreiben vom 27. Juni 2022 vor, eingegangen beim Amtsgericht Stuttgart am 28. Juni 2022. Darin vertrat die Staatsanwaltschaft die Auffassung, die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers sei grundsätzlich unzulässig. Soweit vertreten werde, dass von diesem Grundsatz unter bestimmten Voraussetzungen eine Ausnahme zu machen sei, seien diese Voraussetzungen jedenfalls nicht gegeben, da die Verteidigung zum Zeitpunkt der Antragstellung durch die Wahlverteidigung gesichert gewesen sei.
Durch Beschluss vom 29. Juni 2022 ordnete das Amtsgericht Stuttgart - Ermittlungsrichter - dem Beschuldigten die Verteidigerin als Pflichtverteidigerin bei. Zur Begründung stützte es sich darauf, eine rückwirkende Beiordnung in einem bereits abgeschlossenen Verfahren sei zulässig, wenn der Antrag rechtzeitig gestellt und dem Erfordernis der Unverzüglichkeit der Beiordnung nicht genügt worden sei. Dies sei vorliegend der Fall. Es sei unschädlich, dass der Antrag auf Bestellung zum Pflichtverteidiger nicht mit der ausdrücklichen Erklärung verbunden worden sei, dass das Wahlmandat für den Fall der Bestellung niedergelegt werde. Der Antrag auf Bestellung als Pflichtverteidiger beinhalte bereits den Verzicht auf das Wahlmandat.
Gegen den bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart am 4. Juli 2022 zur Zustellung eingegangenen Beschluss hat die Staatsanwaltschaft mit Schreiben vom selben Tag, eingegangen beim Amtsgericht Stuttgart am 6. Juli 2022, sofortige Beschwerde eingelegt. Zur Begründung brachte die Staatsanwaltschaft vor, die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers sei auch nicht ausnahmsweise möglich. Der Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers beinhalte gerade nicht den Verzicht auf das Wahlverteidigermandat. Die Verteidigerin sei auch nicht davon ausgegangen, dass ihr Antrag entsprechend verstanden werde, sondern habe erst am 9. Juni 2022 erklärt, die Wahlverteidigung für den Fall der Beiordnung niederzulegen.
Das Amtsgericht Stuttgart legte die Beschwerde der Kammer mit dem ergänzenden Hinweis vor, dass für die Frage der Auslegung einer Willenserklärung der Zeitpunkt der Abgabe entscheidend und die spätere Erklärung der Verteidigerin daher unbeachtlich sei.
II.
Die gemäß § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Stuttgart ist nicht begründet.
Die Staatsanwaltschaft geht zwar zutreffend davon aus, dass eine rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers grundsätzlich unzulässig ist, da die Beiordnung eines Pflichtverteidigers allein der ordnungsgemäßen Verteidigung eines Beschuldigten sowie der Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs in schwerwiegenden Fällen dient (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 25. Februar 2015 - 1 ARs 1/15, juris). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz besteht jedoch jedenfalls dann, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung gemäß § 140 StPO vorlagen und die Entscheidung allein aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die der (ehemalige) Beschuldigte keinen Einfluss hatte (vgl. u.a. LG Mannheim, Beschluss vom 26. März 2020 - 7 Qs 11/20, juris; LG Hechingen, Beschluss vom 20. Mai 2020 - 3 Qs 35/20, BeckRS 2020, 14359; LG Stuttgart, Beschluss vom 29. Oktober 2020 - 8 Qs 55/20; LG Regensburg, Beschluss vom 30. Dezember 2020 - 5 Qs 188/20, juris). Zwar trifft es zu, dass die Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht im Kosteninteresse eines Beschuldigten oder im Interesse eines Verteidigers an einem Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse erfolgt, sondern vielmehr der ordnungsgemäßen Verteidigung und einem ordnungsgemäßen Verfahrensablauf in der Zukunft dient (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 9. März 2020 - 1 Ws 19/20, 1 Ws 20/20, NStZ 2020, 625 mwN). Indes würde die Versagung einer rückwirkenden Bestellung trotz rechtzeitigen Beiordnungsantrags dazu führen, dass der mittellose Beschuldigte auf notwendige Verteidigung - und gerade nicht nur auf Kostenerstattung - faktisch verzichten müsste, da Rechtsanwälte in Kenntnis einer Versagung rückwirkender Bestellungen in der Endphase eines Verfahrens nicht mehr zur Übernahme der Verteidigung mittelloser Beschuldigter bereit sein dürften. Daher sind rückwirkende Bestellungen im Falle rechtzeitig gestellter Beiordnungsanträge schon zur Verwirklichung des Rechts auf ein faires Verfahren geboten (s. auch MünchKommStPO/Thomas/Kämpfer, 1. Auf. (2014), § 141, Rn. 9). Nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung muss eine rückwirkende Bestellung erst recht möglich sein, da hierdurch insgesamt der frühzeitige Zugang zu einem Rechtsbeistand insbesondere auch für mittellose Beschuldigte gewährleistet und nicht nur die tatsächliche Verteidigung, sondern auch die Bezahlung des Rechtsbeistandes gesichert werden soll. Eine effektive Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten als deklariertes Regelungsziel würde jedoch unterlaufen, wenn eine Pflichtverteidigung nur deswegen versagt werden könnte, weil die Entscheidung hierüber verzögert getroffen wurde (so unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 - 1 Ws 260/21, BeckRS 2021, 14711, Rn. 14 ff.; s. auch OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. November 2020 - Ws 962/20, Ws 963/20, Ws 962 - 963/20, juris Rn. 25 ff.; LG Hamburg, Beschluss vom 15. Juli 2021 - 622 Qs 22/21, BeckRS 2021, 20600; s. auch Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. (2022), § 142, Rn. 20; vgl. insges. zum Streitstand BeckOKStPO-Krawczyk, § 142, Nr. 30).
Der Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung wurde hier bereits am 13. April 2022 und damit rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt, der am 31. Mai 2022 und damit fast sieben Wochen später verfügt wurde. Die Entscheidung über die Bestellung hat eine wesentliche Verzögerung allein aufgrund justizinterner Vorgänge erfahren. Die Staatsanwaltschaft hätte diesen Antrag gemäß § 142 Abs. 1 Satz 2 StPO unverzüglich dem zuständigen Gericht zur Entscheidung vorlegen müssen. Tatsächlich legte die Staatsanwaltschaft Stuttgart den Antrag dem Amtsgericht Stuttgart erst mit Schreiben vom 27. Juni 2022, eingegangen beim Amtsgericht Stuttgart am 28. Juni 2022, vor, worauf das Amtsgericht Stuttgart am 29. Juni 2022 und damit elf Wochen nach Antrag auf Bestellung zum Pflichtverteidiger eine Entscheidung traf.
Es lag zum maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung am 13. April 2020 ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vor. Der vormals Beschuldigte befand sich zu diesem Zeitpunkt in anderer Sache in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt S. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO findet auch Anwendung, wenn Untersuchungshaft in anderer Sache vollstreckt wird (LG Würzburg, Beschluss vom 10. November 2020 - 6 Qs 197/20, juris Rn. 12).
Schließlich stand auch § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO der Pflichtverteidigerbestellung nicht entgegen. Zwar ist danach Voraussetzung für die Bestellung eines Pflichtverteidigers, dass der Beschuldigte noch keinen Verteidiger hat. Vorliegend hatte sich die Verteidigerin jedoch durch Fax vom 13. April 2022 als Wahlverteidigerin des Beschuldigten legitimiert. Indes ist es als ausreichend anzusehen, wenn der Wahlverteidiger im Moment der Bestellung als Pflichtverteidiger sein Wahlmandat niederlegt (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, aaO, § 141, Rn. 4). In dem Antrag eines Wahlverteidigers auf Beiordnung als Pflichtverteidiger ist in der Regel die Ankündigung der Niederlegung des Wahlmandats für den Fall der Beiordnung zu sehen, ohne dass es einer ausdrücklichen diesbezüglichen Erklärung bedarf (MünchKommStPO/Thomas/Kämpfer, aaO, § 141, Rn. 4 mwN; LG Freiburg, Beschluss vom 26. August 2020 - 16 Qs 40/20, NStZ 2021, 191, 192; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20. Dezember 1982 - VI 5/82, juris; a.A. LG Würzburg, Beschluss vom 10. November 2020 - 6 Qs 197/20, juris Rn. 16). Nachdem der Antrag auf Bestellung als Pflichtverteidigerin vorliegend - angesichts der offensichtlich nicht gegebenen Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO - nur bei Niederlegung des Wahlmandats Aussicht auf Erfolg hatte, kann der Antrag der Verteidigerin vom 13. April 2022 nur dahingehend verstanden werden, dass diese im Fall der Bestellung das Wahlmandat niederzulegen gedachte. Dem steht nicht entgegen, dass die Verteidigerin (erst) mit Schriftsatz vom 9. Juni 2022 ausdrücklich erklärte, die Wahlverteidigung für den Fall der Beiordnung niederzulegen. Zunächst dürfte dem Amtsgericht Stuttgart dahingehend beizupflichten sein, dass für die Auslegung des Antrags der Verteidigerin vom 13. April 2022 auf den Zeitpunkt der Abgabe dieser Erklärung abzustellen sein dürfte. Jedenfalls aber erfolgte die Erklärung vom 9. Juni 2022 ausdrücklich ergänzend zum Antrag vom 13.04.2022 (Zitat), sollte also gerade nicht zu einer inhaltlichen Abänderung des bereits gestellten Antrags führen, sondern diesen lediglich vervollständigen. Es besteht Grund zu der Annahme, dass der Verteidigerin zwischenzeitlich aufgefallen war, dass die - durchaus übliche - ausdrückliche Ankündigung der Niederlegung des Wahlmandats in dem Antrag vom 13. April 2022 unterblieben war. Dafür, dass der Ergänzung eine Absichtsänderung auf Seiten der Verteidigerin zugrunde lag und diese zunächst tatsächlich beabsichtigt haben könnte, das Wahlmandat auch nach Beiordnung als Pflichtverteidigerin weiterzuführen, bestehen keine Anhaltspunkte.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.
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