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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, rückwirkende Bestellung, Zulässigkeit

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Kiel, Beschl. v. 30.08.2021 - 1 Qs 30/21

Eigener Leitsatz: 1. Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung ist vorzunehmen, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ein Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt und das Erfordernis der Unverzüglichkeit der Bestellung nicht beachtet wurde.
2. Unverzüglich im Sinne des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO bedeutet, dass über den Beiordnungsantrag in der Regel innerhalb von zwei Wochen zu entscheiden ist.
3. Die Möglichkeit, nach § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO von einer Bestellung in denjenigen Fällen abzusehen, in denen beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, gilt ausdrücklich nicht für Fälle einer notwendigen Verteidigung nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO.


1 Qs 30/21

Landgericht Kiel

Beschluss

In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.
Verteidiger:

hat das Landgericht Kiel - 1. große Strafkammer - durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht pp., den Richter am Landgericht pp. und die Richterin am Landgericht pp. am 30. August 2021 auf die Beschwerde des ehemals Beschuldigten vom 04.03.2021 gegen den Beschluss des Amtsgerichts Kiel vom 22.02.2021 — 43 Gs 857/21 —, mit dem der Antrag auf Beiordnung von Rechtsanwalt pp. als Verteidiger abgelehnt wurde, beschlossen:

Unter Aufhebung des Beschlusses des Amtsgerichts Kiel vom 22.02.2021 — 43 Gs 857/21 — wird dem Beschwerdeführer Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger für den Zeit-raum vom 01.07.2020 bis zur Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft beigeordnet.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers trägt die Staatskasse.

Gründe:

I.

Der Beschwerdeführer hat mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 24.11.2020 beantragt, ihm Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beizuordnen. Mit Verfügung vom 08.01.2021 hat die Staatsanwaltschaft das Verfahren gemäß § 170 Abs. 2 StPO „wegen eines Verfahrenshindernisses" eingestellt.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Amtsgericht Kiel die Auffassung vertreten, dass die Voraussetzungen für die Beiordnung als Pflichtverteidiger jedenfalls zur Zeit der Antragstellung nicht vorgelegen hätten, da die Sache einstellungsreif gewesen sei. Der Zeuge habe bereits zu jener Zeit gesagt, dass er nicht vom Beschuldigten geschlagen worden sei.

II.

Die Beschwerde ist begründet, weil dem ehemals Beschuldigten rückwirkend Rechtsanwalt Ay-ka9 als Pflichtverteidiger beizuordnen ist. Eine rückwirkende Verteidigerbeiordnung ist auch nach Verfahrensbeendigung unter bestimmten Voraussetzungen grundsätzlich möglich (dazu Ziffer 1.). Diese Voraussetzungen liegen hier vor (dazu Ziffer 2.).

1. Die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers hat abweichend von der Auffassung des Amtsgerichts auch noch nach Beendigung des Verfahrens zu erfolgen, wenn (1) der Beiordnungsantrag bereits vor Verfahrensbeendigung gestellt worden ist, (2) die Voraussetzungen für eine Beiordnung zum damaligen Zeitpunkt vorlagen und (3) eine Entscheidung über die Beiordnung auf Grund justizinterner Vorgänge nicht unverzüglich erfolgt ist (ebenso: OLG Bamberg, Be-schluss vom 29. April 2021 — 1 Ws 260/21 —, Rn. 14 ff., juris; OLG Nürnberg, Beschluss vom 06. November 2020 — Ws 962/20 —, Rn. 25 ff., juris).

Gemäß § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO in der seit dem 13.12.2019 geltende Fassung wird dem Beschuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, in den Fällen der notwendigen Verteidigung unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn der Be-schuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt. Dieses Antragsrecht dient der Umsetzung der Vorgaben der PKH-Richtlinie (RL [EU] 2016/1919), die — ausgehend von einem System der Prozesskostenhilfe — voraussetzt, dass der Beschuldigte — auch zur effektiven Ausübung seines Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand — das Recht haben muss, die Beiordnung eines Verteidigers durch einen eigenen Antrag herbeizuführen (BT-Dr. 19/13829, S. 36). Die Intention dieses Gesetzes ist es, einem Beschuldigten im Fall der notwendigen Verteidigung einen früh-zeitigeren Zugang zu einem (Pflicht-)Verteidiger zu ermöglichen als dies bis zur Gesetzesänderung der Fall war (vgl. BT-Dr. 19/13829, S. 36). Insbesondere monetäre Gründe sollen den Be-schuldigten nicht davon abhalten, auch schon in einem frühen Stadium des Ermittlungsverfahrens von dem Recht auf Hinzuziehung eines Pflichtverteidigers Gebrauch zu machen.

Diesem Zweck stünde eine Gesetzesauslegung entgegen, nach der ein Beschuldigter, der sich auf sein Recht auf Pflichtverteidigerbestellung beruft und einen Verteidiger konsultiert, damit rechnen müsste, mit den Kosten seines Rechtsbeistandes deswegen belastet zu werden, weil — jeweils entgegen § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO — die Staatsanwaltschaft den Antrag nicht unverzüglich dem Gericht vorlegt oder aber das Gericht über einen solchen ihm vorliegenden Antrag nicht unverzüglich entscheidet (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 — 1 Ws 260/21; OLG Nürnberg, Beschluss vom 06. November 2020 — Ws 962/20; Beschlüsse der Kammer vom 09.08.2021 - 1 Qs 34/21 und vom 08.06.2021 - 1 Qs 14/21; LG Bochum, NStZ-RR 2020, 352, 353f; jedenfalls auch i. Erg. ebenso inzwischen wohl mehrheitlich weitere Landgerichte: LG Au-rich, Beschluss vom 05.05.2020 — 12 Qs 78/20; LG Hechingen, Beschluss vom 20.05.2020 — 3 Qs 35/20; LG Flensburg, Beschluss vom 09.12.2020 — II Qs 43/20; LG Regensburg, Beschluss vom 30.12.2020 — 5 Qs 188/20; LG Berlin, Beschluss vom 08.01.2021 — 512 Qs 62/20; LG Frankenthal, Beschluss vom 02.02.2021 — 1 Qs 16/21; LG Magdeburg, Beschluss vom 10.03.2021 —25 Qs 740 Js 42240/19 (2/21); LG Leipzig, Beschluss vom 25.03.2021 — 8 Qs 26/21; LG Gera, Beschluss vom 31.03.2021 — 11 Qs 96/21, 11 Qs 97/21; LG Köln, Beschluss vom 06.04.2021 —323 Qs 19/21; LG Hamburg, Beschluss vom 15.07.2021 - 622 Qs 22/21; offen lassend: OLG Bremen, NStZ 2021, 253; aA auch nach Änderung des Pflichtverteidigungsbeiordnungsrechts etwa: OLG Braunschweig, Beschluss vom 02.03.2021 - 1 Ws 12/21; OLG Hamburg, Beschluss vom 16.09.2020 - 2 Ws 112/20; LG Osnabrück, Beschluss vom 16.11.2020 — 1 Qs 47/2; LG Bielefeld, Beschluss vom 16.04.2021 — 02 Qs 138/21; LG Düsseldorf, Beschluss vom 21.04.2021 —12 Qs 9/21; LG Bonn, Beschluss vom 19.07.2021 - 63 Qs 51/21).

Für die Richtigkeit dieser Auffassung spricht auch die höchstrichterliche Rechtsprechung hin-sichtlich der Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Danach kommt eine rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach Abschluss des Verfahrens für den Fall in Betracht, dass vor dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens ein Bewilligungsantrag mit den erforderlichen Unterlagen gestellt, aber nicht bzw. nicht vorab beschieden worden ist und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe erforderliche getan hat (vgl. BGH, Beschluss vom 18. März 2021 — 5 StR 222/20 —, Rn. 4, juris). Es ist nicht ersichtlich, warum für die rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe andere Voraussetzungen gelten sollten als für die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers (so zutreffend: OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 — 1 Ws 260/21 —, Rn. 17 ff., juris).

Auch steht hier § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO der Beiordnung nicht entgegen. Nach jener Vorschrift kann die Bestellung unterbleiben, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünfte oder die Bei-ziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden sollen. Diese Regelung bezieht sich nach ihrem Wortlaut und der systematischen Stellung jedoch nicht auf den vorliegenden Fall einer aus-drücklichen Antragstellung durch die Beschwerdeführerin nach § 141 Abs. 1 StPO, sondern nur auf den vorliegend nicht einschlägigen Fall der Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen nach § 141 Abs. 2 StPO.

2. Hier lagen die oben genannten Voraussetzungen für eine rückwirkende Beiordnung nach Verfahrensbeendigung vor. Der Beiordnungsantrag war bereits vor Verfahrensbeendigung gestellt worden, die Voraussetzungen für eine Beiordnung lagen zum damaligen Zeitpunkt vor und eine Entscheidung über die Beiordnung ist auf Grund justizinterner Vorgänge nicht unverzüglich erfolgt.

Die Beiordnungsvoraussetzungen lagen zum Zeitpunkt des Eingangs des Beiordnungsantrags vor, weil gegen den damaligen Beschuldigten wegen des Verdachts der Körperverletzung ermittelt wurde und ihm der Tatvorwurf auch eröffnet worden war (§ 141 Abs. 1 StPO). Es lagen seinerzeit die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO vor. Denn bei der Entscheidung nach § 140 Abs. 2 StPO sind auch drohende schwerwiegende mittelbare Nachteile aus einer Verurteilung zu berücksichtigen. Ein solcher schwerwiegender mittelbarer Nachteil ergibt sich vorliegend daraus, dass dem Angeklagten im Falle einer Verurteilung die Ausweisung droht (vgl. LG Heilbronn, NStZ-RR 2002, 26; LG Berlin, Beschl. v. 04.03.2003 - 516 Qs 45/03). Dies war hier deswegen anzunehmen, weil sich der ehemals Beschuldigte ausweislich der von der Kammer beigezogenen Akte des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts 6 A 351/20 vor dem Verwaltungsgericht gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 09.12.2020 wehrt, mit dem dieses entschieden hat, die dem ehemals Beschuldigten mit Bescheid vom 03.04.2017 zuerkannte Flüchtlingseigenschaft zu widerrufen, ihm einen subsidiären Schutzstatus nicht zuzuerkennen und festzustellen, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen. Ausgangsbezugspunkt dieser Entscheidung ist eine Verurteilung des ehemals Beschuldigten mit Urteil des Amtsgerichts Lübeck vom 08.06.2017 zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und 6 Monaten wegen Raubes in Tateinheit mit Körperverletzung. In dem Bescheid hat das Bundesamt unter anderem ausgeführt, dass bei der Frage, ob von dem ehemals Beschuldigten auch künftig eine Gefährdung der Allgemeinheit zu besorgen sei, mithin eine konkrete Wiederholungsgefahr bestehe, auch anderweitige strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen den ehemals Beschuldigten zum Beispiel auch wegen Körperverletzung in die Betrachtung miteinzubeziehen seien. Dies legt nahe, dass sich eine mögliche Verurteilung des ehemals Beschuldigten im vorliegenden Verfahren - wie vom Verteidiger vorgetragen - ebenfalls nachteilig im Zusammenhang mit der Frage nach Aberkennung seiner Flüchtlingseigenschaft hätte auswirken können. Nicht ersichtlich ist, dass der Angeklagte schon jetzt aus anderen Gründen ausreisepflichtig wäre, was eine andere Beurteilung rechtfertigen könnte (vgl. KG, Beschl. v. 26.01.2000 - 1 AR 22/00-4 Ws 18/00).

Schließlich wurde der Antrag nicht unverzüglich beschieden, sondern erst - nach zuvor am 08.01.2021 erfolgter Einstellung des Verfahrens - am 22.02.2021. Gründe dafür, die Akte nicht zeitnah zum Eingang des Beiordnungsantrages dem zuständigen Amtsgericht zur Bescheidung jenes Antrags zuzuleiten, sind für die Kammer nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 StPO analog.


Einsender: RA A.A. Aykac, Kiel

Anmerkung:


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