Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Hamm, Beschl. v. 11.10.2022 5 Ws 270/22
Leitsatz des Gerichts:
Funktionell zuständig für einen in laufender Hauptverhandlung gestellten Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers ist gemäß § 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO alleine der Vorsitzende. Dies gilt - über den Wortlaut der Vorschrift hinausgehend - nicht nur für die Bestellung, sondern auch für die Ablehnung eines solchen Antrags.
In pp.
Der Beschluss des Landgerichts Essen vom 28. Juni 2022 wird aufgehoben.
Der Antrag des Beschwerdeführers auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers wird abgelehnt.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Verurteilte.
Gründe
I.
Am 02. März 2022 hat das Amtsgericht Essen den Beschwerdeführer, der syrischer Staatsangehöriger ist und für die Hauptverhandlung einen Dolmetscher für Arabisch benötigte, wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c Abs. 1 Nr. 2 a), Abs. 3 Nr. 2 StGB) in Tateinheit mit vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe von 45 Tagessätzen zu je 10 EUR verurteilt und eine Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis von sechs Monaten verhängt.
Bereits im Ermittlungsverfahren hatte sich der Verteidiger für den Beschwerdeführer als Wahlverteidiger bestellt und mit Schreiben vom 31. Januar 2022 die Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragt. Zur Begründung führte er aus, dass sein Mandant einen Dolmetscher benötige und der zwischenzeitlich ergangene Strafbefehl nur in deutscher Sprache vorliege. Nachdem dem Beschwerdeführer am 25. Februar 2022 eine Übersetzung des Strafbefehls zugestellt worden war, hat das Amtsgericht Essen den Beiordnungsantrag am 02. März 2022 im Rahmen der Hauptverhandlung abgelehnt. Gegen diesen Beschluss hat der Beschwerdeführer mit am 03. März 2022 beim Amtsgericht eigegangenen Schreiben sofortige Beschwerde und gleichzeitig Berufung gegen das ergangene Urteil eingelegt.
In der Hauptverhandlung vor der Berufungskammer des Landgerichts Essen am 28. Juni 2022 hat der Verteidiger für die Berufungsverhandlung die Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragt. Diesen Antrag hat das Landgericht in der Hauptverhandlung per Kammerbeschluss mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Voraussetzungen des § 140 StPO nicht vorlägen. Sprachschwierigkeiten seien durch die Hinzuziehung eines Dolmetschers ausgeräumt worden. Tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten bestünden nicht. Nach Verkündung des Beschlusses hat der Beschwerdeführer die Berufung zurückgenommen.
Mit am 28. Juni 2022 - nach dem Schluss der Berufungshauptverhandlung - eingegangenem Verteidigerschriftsatz hat der Beschwerdeführer gegen die Ablehnung der Pflichtverteidigerbestellung für das Berufungsverfahren "Beschwerde" eingelegt. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, das amtsgerichtliche Urteil sei ihm nicht in seiner einzig beherrschten Herkunftssprache übermittelt worden. Auch die Anklageschrift in arabischer Sprache habe er erst wenige Tage vor der Hauptverhandlung erhalten. Mit Beschluss vom 01. Juli 2022 hat das Landgericht der Beschwerde nicht abgeholfen. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die sofortige Beschwerde zu verwerfen.
II.
Das durch Verteidigerschriftsatz am 28. Juni 2022 eingelegte und mit "Beschwerde" überschriebene Rechtsmittel war gemäß § 300 StPO als das nach §§ 142 Abs. 7, 311 StPO statthafte Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde auszulegen. Es kann dahinstehen, ob diese auch im Übrigen zulässig erhoben ist. Sie ist jedenfalls unbegründet.
1. Die sofortige Beschwerde wurde form- und fristgerecht eingelegt. Die Erklärung "legen wir hiermit Beschwerde ein..." im Verteidigerschriftsatz vom 28. Juni 2022 legt der Senat zugunsten des Beschwerdeführers dahingehend aus, dass das Rechtsmittel im Namen des Beschwerdeführers und nach seinem ausdrücklichen Auftrag und nicht als eigenes Rechtmittel des Verteidigers eingelegt wurde.
Ob die sofortige Beschwerde mangels Beschwer unzulässig ist, weil das Verfahren gegen den Beschwerdeführer bereits im Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels rechtskräftig abgeschlossen war, wird in der Rechtsprechung kontrovers entschieden. Die Frage kann hier aber (s. o.) offenbleiben (für Unzulässigkeit weiterhin die überwiegende obergerichtliche Rechtsprechung, vgl. z.B. (alle juris): OLG Brandenburg, Beschluss vom 23. März 2022 - 1 Ws 28/22 (S); OLG Braunschweig, Beschluss vom 02. März 2021 - 1 Ws 12/21; OLG Hamburg, Beschluss vom 23. September 2020 - 1 Ws 120/20; KG Berlin, Beschluss vom 04. September 2020 - 5 Ws 217/19; für Zulässigkeit bei rechtzeitiger Antragstellung und offensichtlicher Begründetheit unter Bezugnahme auf das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BGBL. I S. 2128) in Umsetzung der sog. "PKH-Richtlinie" (Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016) z.B.: OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 - 1 Ws 260/21; OLG Nürnberg, Beschluss vom 06. November 2020 - Ws 962/20; LG Stuttgart, Beschluss vom 14, Juli 2022 - 18 Qs 36/22; LG Frankfurt, Beschluss vom 30. Mai 2022 - 24 Qs 36/22; LG Bochum, Beschluss vom 18. September 2020 - 10 Qs 6/20; ausdrücklich offengelassen BGH, Beschluss vom 29. Juni 2022 - StB 26/22; OLG Köln, Beschluss vom 28. März 2022 - 2 Ws 103/22).
2. Das Rechtsmittel führt zwar zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, da dieser unter Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften ergangen ist, hat im Ergebnis aber keinen Erfolg.
a) Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls der Berufungsinstanz vom 28. Juni 2022 hat das Landgericht über den Beiordnungsantrag als Kammer unter Mitwirkung der Schöffen entschieden. Funktionell zuständig war gemäß § 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO jedoch alleine die Vorsitzende. Dies gilt - über den Wortlaut der Vorschrift hinausgehend - nicht nur für die Bestellung, sondern auch für die Ablehnung eines Antrags auf Beiordnung als Pflichtverteidiger (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 142 Rn. 18).
Der Verstoß gegen die funktionelle Zuständigkeit führt aufgrund der eingelegten Beschwerde zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und eigenen Sachentscheidung des Senats.
Soweit teilweise vertreten wird, eine Entscheidung des Kollegialgerichts sei unschädlich, weil sich der Vorsitzende seiner Entscheidungsmöglichkeit nicht begebe (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, ebenda, § 142 Rn. 18, unter Bezugnahme auf BGH, Beschluss vom 18. November 2003 - 1 StR 481/03 - juris und BVerwG, Beschluss vom 14. Juli 1969 - II WDB 3/69 - juris), teilt der Senat diese Rechtsauffassung nicht (ebenso OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 - 1 Ws 260/21 - juris; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 22. November 2021 - 1 Ws 278/21 - juris). Dagegen spricht bereits der eindeutige Wortlaut des § 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO, der Ausnahmen nicht vorsieht. Auch handelt es sich bei der Ablehnung eines Antrags auf Pflichtverteidigerbestellung nicht um eine auf die Sachleitung bezügliche Anordnung, gegen die nach § 238 Abs. 2 StPO eine Entscheidung des Gerichts herbeigeführt werden kann (Senatsbeschluss vom 21. Juni 2022 - 5 Ws 118/22 - juris m.w.N.). Anders als bei § 238 Abs. 2 StPO ist es bei Einhaltung der Zuständigkeitsvoraussetzungen daher nicht möglich, dass es im Ergebnis zu einer von der Entscheidung des Vorsitzenden abweichenden Beschlussfassung kommt.
Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die in Bezug genommene höchstrichterliche Rechtsprechung nicht ohne weiteres auf den vorliegenden Fall übertragen. Gegenstand der Entscheidung des Bundesgerichtshofs im Jahr 2003 war nicht - wie hier - die Ablehnung der Bestellung eines Pflichtverteidigers, sondern dessen Bestellung. Hier sei der Verstoß - so der Bundesgerichtshof - angesichts der "Bedeutung einer ordnungsgemäßen Verteidigung" unschädlich. Das Bundesverwaltungsgericht ging in seiner Entscheidung im Jahr 1969 bei der Bestellung eines Pflichtverteidigers von einer Auffangzuständigkeit des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO im Rahmen der Hauptverhandlung aus.
b) Eine von dem Grundsatz des § 309 Abs. 2 StPO abweichende Zurückverweisung an die Vorsitzende der kleinen Strafkammer ist nicht geboten. Nachdem die zuständige Vorsitzende an der Entscheidung mitgewirkt hat, ist willkürliches Verhalten des Gerichts nicht erkennbar. Bei einer alleinigen Entscheidung durch die Vorsitzende wäre der Senat gleichermaßen für die Entscheidung über die Beschwerde zuständig gewesen. Damit wird dem Beschwerdeführer auch keine weitere Instanz genommen.
c) In der Sache war der Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers unbegründet. Ein Fall der notwendigen Verteidigung war nicht gegeben.
Für die Notwendigkeit einer Beiordnung nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 - 11 StPO gab es keine Anhaltspunkte. Auch waren die Tat und die im Zeitpunkt der Antragstellung zu erwartende Rechtsfolge nicht schwerwiegend, § 140 Abs. 2 Var. 1 und 2 StPO. Der Beschwerdeführer war in erster Instanz wegen eines Verkehrsdelikts zu einer Geldstrafe von 45 Tagessätzen zu je 10 EUR verurteilt und eine Sperrfrist für die Erteilung einer Fahrerlaubnis von sechs Monaten verhängt worden. Nachdem nur der Angeklagte Berufung eingelegt hatte, waren schwerere Rechtsfolgen im Berufungsverfahren nicht zu erwarten, § 331 Abs. 1 und 2 StPO.
Schwierigkeiten der Sach- und Rechtslage, § 142 Abs. 2 Var. 3 StPO, lagen ebenfalls nicht vor. Dem Beschwerdeführer wurde vorgeworfen, mit seinem Pkw ohne die erforderliche Fahrerlaubnis über eine bereits fünf Sekunden Rotlicht zeigende Lichtzeichenanlage gefahren zu sein und dabei einem anderen Fahrzeug die Vorfahrt genommen zu haben. Dies war auch Gegenstand des Berufungsverfahrens, wobei der Beschwerdeführer die Tat in erster Instanz überwiegend gestanden hatte. Der damit zur Verhandlung stehende Prozessstoff war auch für einen juristischen Laien sachlich und rechtlich ohne weiteres überschaubar.
Schließlich war der Beschwerdeführer auch in der Lage, sich selbst zu verteidigen, § 140 Abs. 2 Var. 4 StPO. Zwar war der Angeklagte in der Hauptverhandlung auf einem Dolmetscher angewiesen. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Unkenntnis der Verhandlungssprache zur notwendigen Bestellung führen kann (BGH, Beschluss vom 05. April 2022 - 3 StR 16/22 - juris m.w.N.). Dabei sind jedoch stets die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Eine Bestellung ist dann entbehrlich, wenn die mit den sprachbedingten Verständigungsproblemen einhergehende Beschränkungen durch den Einsatz von Übersetzungshilfen, insbesondere der unentgeltlichen Hinzuziehung eines Dolmetschers, angemessen ausgeglichen werden können (BGH, Beschluss vom 26. Oktober 2000 - 3 StR 6/00 - juris; KG Berlin Beschluss vom 10. Mai 2021 - 2 Ws 194/12 - juris). Das war vorliegend der Fall. Angesichts des einfach gelagerten Sachverhalts und der überschaubaren Rechtslage konnten die sprachlichen Einschränkungen des Beschwerdeführers in der Hauptverhandlung durch den hinzugezogenen Dolmetscher vollständig ausgeglichen werden. Eine Übersetzung des Strafbefehls wurde dem Beschwerdeführer eine Woche vor der Hauptverhandlung zugestellt, was zur Vorbereitung ausreichend ist. Die fehlende Übersetzung des amtsgerichtlichen Urteils war unschädlich, nachdem - ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls - das Urteil in Anwesenheit des Beschwerdeführers und des Dolmetschers durch Verlesung der Urteilsformel und mündliche Mittteilung des wesentlichen Inhalts der Urteilsgründe verkündet worden ist. Insgesamt war dem Beschwerdeführer damit eine sachgerechte Verteidigung auch ohne die Mitwirkung eines Verteidigers möglich.
3.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.
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