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Entscheidungen

Verwaltungsrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis, Epilepsie, an den Schlaf gebundene Anfälle, Beweislastverteilung

Gericht / Entscheidungsdatum: BayVGH, Beschl. v. 12.10.2022 – 11 CS 22.1883

Eigener Leitsatz:

Zur Entziehung der Fahrerlaubnis in den Fällen der Epilepsie, und an den Schlaf gebundener Anfälle und zur Beweislastverteilung.


In pp.

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragssteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 5.000,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner zwischen dem 28. September 2007 und 5. Oktober 2011 erteilten Fahrerlaubnis der Klassen AM, A1, A2, A, B, BE und L.

Im September 2020 wurde dem Landratsamt Schwandorf bekannt, dass der Antragsteller am 7. Juli 2020 um 16:45 Uhr auf der BAB 93 mit seinem Pkw auf einen voranfahrenden Sattelzug aufgefahren war. Sein Beifahrer erklärte gegenüber der Polizei zum Unfallhergang, er habe kurz vor der Ausfahrt Dreieck Saalhaupt seine Augen geschlossen, um sich kurz auszuruhen. Als er die Augen wieder geöffnet habe, sei der Pkw einem Sattelzug immer nähergekommen. Er habe den Antragsteller mit Namen gerufen. Dieser habe jedoch nicht reagiert. Anschließend sei es zum Zusammenstoß gekommen. Danach habe der Antragsteller weiterhin nicht auf seine Zurufe reagiert, am Körper gezittert und einen starren Blick gehabt. Daraufhin habe er das Fahrzeug mittels Motor- und Handbremse zum Stillstand auf dem Standstreifen gebracht. Ein weiterer Zeuge erklärte, der Pkw des Antragstellers sei vor dem Zusammenstoß von der linken Fahrspur auf den Standstreifen und wieder zurück gewechselt, im Anschluss wieder nach rechts gefahren und sodann mit dem Sattelzug kollidiert.

Mit Schreiben vom 11. März 2021 forderte das Landratsamt den Antragsteller unter Bezugnahme auf diesen Sachverhalt auf, bis 30. April 2021 einen Befundbericht eines Facharztes für Neurologie vorzulegen.

Nach dem vorgelegten Attest der behandelnden Neurologin vom 12. April 2021 leidet der Antragsteller seit seinem sechsten Lebensjahr an einer Epilepsie, die medikamentös (mit Lamotrigin, Zonisamid, Valproat) behandelt wird. Am Tag auftretende Anfälle seien seit Mai 2008 nicht mehr beobachtet worden. Einige Jahre später seien ausschließlich schlafgebundene nächtliche Anfälle manifest geworden. Verschiedene medikamentöse Therapien hätten zu einer aktuellen Besserung der nächtlichen Anfallsfrequenz geführt. Daher bestehe Fahreignung für Pkw. Nach einem Attest seines Hausarztes vom 15. April 2021 hat dieser bei einer Untersuchung am Vortag keine weitergehenden körperlichen Auffälligkeiten festgestellt. Auch ein EKG habe keine Auffälligkeiten und Rhythmusstörungen ergeben. Ebenso wenig gebe es Hinweise auf eine internistische Erkrankung.

Nach Anhörung versah das Landratsamt die Fahrerlaubnis des Antragstellers mit Bescheid vom 29. Juni 2021 mit den Auflagen, dass er dem Landratsamt unaufgefordert regelmäßige Kontrolluntersuchungen eines Neurologen oder einer entsprechenden Fachklinik nachzuweisen habe. Dabei müssten neurologische Auffälligkeiten, verordnete Medikamente, diesbezügliche Änderungen und ein Absetzen der Medikation angegeben werden. Die Kontrolluntersuchungen seien beginnend im August 2021 in vierteljährlichen Abständen bei der Fahrerlaubnisbehörde vorzulegen.

Nach Eingang einer Stellungnahme des Neurologen einer Fachklinik vom 21. Dezember 2021 forderte das Landratsamt den Antragsteller mit Schreiben vom 13. Januar 2022 auf, ein ärztliches Gutachten zu den Fragen vorzulegen, ob er trotz des Vorliegens einer Erkrankung (Epilepsiesyndrom: fokale Epilepsie), die nach Nr. 6.6 der Anlage 4 FeV die Fahreignung infrage stelle, in der Lage sei, den Anforderungen an das Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 vollständig gerecht zu werden, ob eine ausreichende Adhärenz gegeben sei, ob und ggf. welche Beschränkungen und/oder Auflagen erforderlich seien, ob und ggf. wann eine (Nach-)Begutachtung erforderlich sei und ob besondere Umstände vorlägen, die eine Abweichung vom Regelfall gemäß Nr. 3 der Vorbemerkungen der Anlage 4 zur FeV möglich erscheinen ließen.

Das seit 14. April 2022 vorliegende Fahreignungsgutachten (Versandtag: 30.3.2022) verneint die Fahreignung des Antragstellers. Es lägen derzeit keine besonderen Umstände vor, die eine Abweichung vom Regelfall gemäß Nr. 3 der Vorbemerkungen der Anlage 4 zur FeV möglich erscheinen ließen.

Mit Bescheid vom 27. Mai 2022 entzog das Landratsamt dem Antragsteller die Fahrerlaubnis aller Klassen und forderte ihn unter Androhung eines Zwangsgelds zur unverzüglichen Abgabe seines Führerscheins spätestens am fünften Werktag nach Zustellung des Bescheids auf. Weiter ordnete es die sofortige Vollziehung dieser Verfügungen an. Am 2. Juni 2022 kam der Antragsteller seiner Ablieferungspflicht nach.

Am 30. Juli 2022 ließ er Klage zum Verwaltungsgericht Regensburg erheben, über die noch nicht entschieden ist, und weiter beantragen, die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen.

Den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 1. August 2022 ab und führte zur Begründung aus, der Antrag sei mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, soweit die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die verfügte Zwangsgeldandrohung begehrt werde. Im Übrigen sei er unbegründet. An der formellen Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung bestünden keine Zweifel, da sie insbesondere ausreichend begründet worden sei. Nach summarischer Prüfung spreche viel dafür, dass die Klage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis erfolglos bleiben werde, weil der Bescheid insoweit rechtmäßig sei. Das Gericht habe keine Bedenken hinsichtlich der Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit des Fahreignungsgutachtens vom 30. März 2022. Die Vorgeschichte, die Voraussetzungen einer günstigen Beurteilung, die Untersuchungsbefunde und die Bewertung würden wiedergegeben. Nach dem Ergebnis des Gutachtens habe beim Antragsteller am Untersuchungstag (4.3.2022) die Diagnose einer seit mehreren Jahren ausschließlich schlafgebundenen Epilepsie vorgelegen. Im August (richtig: Juli) 2020 sei es zu einem Unfallereignis gekommen, bei dem ursächlich am ehesten ein Anfallsgeschehen oder zumindest ein Anfallsäquivalent zu vermuten sei. Der Antragsteller habe vom Auftreten von Müdigkeit während der Fahrt berichtet, im Nachgespräch, dass die Anfälle ziemlich genau eine Stunde nach dem Einschlafen aufträten. Nach seiner Aussage sei es nach dem Vorfall zur Umstellung der Medikation (Lamotrigin, Zonisamid, Valproat) gekommen, die seit Anfang 2021 bestehe. Diese Aussagen seien nicht verifizierbar aufgrund der – nach den Attesten der behandelnden Ärztin – anderslautenden Dosierung des Valproats. In der Gesamtschau der Befunde seien derzeit keine besonderen Umstände erkennbar, die eine Abweichung vom Regelfall gemäß Nr. 3 der Vorbemerkungen der Anlage 4 zur FeV möglich erscheinen ließen. Bei Fortbestand von ausschließlich an den Schlaf gebundenen Anfällen könne frühestens im Juni 2023 eine erneute Begutachtung angestrebt werden, unter der Voraussetzung, dass sich anschließend kein weiteres ähnliches Geschehen wie beim Vorfall im Juni (richtig: Juli) 2020 (nicht eindeutig an den Schlaf gekoppelter Anfall oder Anfallsäquivalent) ereigne. Als Unfallursache für den Vorfall im Juli 2020 sei ein epileptisches Geschehen oder Anfallsäquivalent als am wahrscheinlichsten anzunehmen. Somit sei hier nicht von einem schlafgebundenen Anfall auszugehen. Dies erachtete das Verwaltungsgericht als schlüssig. Da es unstreitig nur ein Unfallereignis im Juli 2020 gegeben habe, handle es sich bei der Nennung von August und Juni um offensichtliche Unrichtigkeiten, die die Verwertbarkeit des Gutachtens nicht beeinträchtigten. Die Begutachtungsleitlinien für Kraftfahreignung (Nr. 3.9.6) seien zunächst dargestellt und später auch beachtet worden. Eine vom Bevollmächtigten vorgetragenen Beweislastverteilung, wonach der Gutachter bzw. die Behörde nachweisen müsse, dass es sich bei dem Geschehen im Juni (richtig: Juli) 2020 tatsächlich um einen nicht schlafgebundenen Anfall gehandelt habe, lasse sich aus den Begutachtungsleitlinien nicht ableiten und würde auch dem dort vorgesehenen Regel-Ausnahmeverhältnis widersprechen. Insoweit komme es auch nicht maßgeblich auf die derzeitige Medikation an, weshalb diesbezüglich auch keine weiteren Ermittlungen notwendig gewesen seien. Auf den Arztbrief des Neurologen der Fachklinik und dessen Aussage, es sei im Juni 2020 zu drei Anfällen tagsüber gekommen, sei das Gutachten nicht gestützt. Nachvollziehbar sei insbesondere, dass im Juli 2020 ein epileptisches Geschehen oder Anfallsäquivalent als am „wahrscheinlichsten“ anzunehmen sei. Dies lege die Zeugenaussage des Beifahrers nahe, die dieser später als unzutreffend dargestellt habe. Er habe zunächst detailreich und schlüssig berichtet, wie er in der Situation reagiert und wie sich der Antragsteller verhalten habe. Wenn der Zeuge aber tatsächlich nichts mitbekommen haben sollte und seine Aussage insoweit bewusst falsch gewesen sein solle, sei nicht schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, wie dann das Fahrzeug am Straßenrand zum Stehen gekommen sei, wenn sich auch der Antragsteller nicht an das Geschehen erinnere. Dies spreche dafür, dass es sich um eine Schutzbehauptung handle und ein Anfallsgeschehen „wahrscheinlich“ sei. Es sei für die Kammer daher auch nachvollziehbar, dass die Gutachterin keine Ausnahme nach Nr. 3 der Vorbemerkung der Anlage 4 zur FeV angenommen habe. Einer weiteren Sachaufklärung durch die Behörde habe es damit nicht mehr bedurft. Bei dieser Sachlage sei vielmehr davon auszugehen gewesen, dass der Antragsteller zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen gewesen sei. Ein Ermessen habe der Behörde bei der Entziehung nicht zugestanden. Im Rahmen der Interessenabwägung habe das Interesse des Antragstellers an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung hinter dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug zurückzustehen. Es spiele insoweit keine Rolle, dass ihm seit dem Unfall im Juli 2020 die Fahrerlaubnis belassen worden und es seitdem zu keinen Auffälligkeiten beim Fahren gekommen sei. Die mit der Entziehung verbundenen beruflichen und privaten Schwierigkeiten müsse er angesichts des von fahrungeeigneten Verkehrsteilnehmern ausgehenden besonderen Risikos für die Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs und des aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ableitbaren Auftrags zum Schutz vor erheblichen Gefahren für Leib und Leben hinnehmen.

Mit seiner Beschwerde, der der Antragsgegner entgegentritt, macht der Antragsteller geltend, es sei einzig und allein die Beantwortung der Frage maßgeblich, ob die in den Begutachtungsleitlinien „normierte“ dreijährige Beobachtungszeit vorliegend zugunsten des Antragstellers verstrichen sei oder nicht. Auch das Verwaltungsgericht stütze sich fehlerhaft auf die Annahme, dass das Unfallereignis im Juni (gemeint ist: Juli) 2020 auf ein Anfallsgeschehen bzw. Anfallsäquivalent zurückzuführen sei und fordere hierzu keinen Beweis. Diese Rechtsansicht sei fehlerhaft. Es gehe nicht darum, ob beim Antragsteller ein Fahreignungsmangel nachgewiesen sei. Ein solcher liege in Form der diagnostizierten Epilepsie eindeutig vor. Vielmehr gehe es darum, ob durch das vom Antragsgegner und letztendlich auch vom Verwaltungsgericht vermutete Anfallsgeschehen im Juli 2020 eine zeitliche Zäsur im Hinblick auf das Laufen der dreijährigen Beobachtungszeit eingetreten sei oder nicht. Hier genügten reine Vermutungen nicht. Die mangelnde Eignung müsse sich aus erwiesenen Tatsachen ergeben, der bloße Verdacht genüge nicht. Sonst hätte das Verwaltungsgericht zwingend zu dem Ergebnis kommen müssen, dass aufgrund der langjährigen Anfallsfreiheit tagsüber, nachgewiesen durch die Atteste der behandelnden Ärzte, eine Entziehung der Fahrerlaubnis aufgrund der bewiesenen Tatsachenlage nicht zu rechtfertigen sei. Selbst das vorgelegte Fahreignungsgutachten komme in der Bewertung zu dem Ergebnis, dass beim Antragsteller im Zeitpunkt der Gutachtenerstellung die Diagnose einer seit mehreren Jahren ausschließlich an den Schlaf gebundene Epilepsie vorliege. Der geforderte Nachweis in Bezug auf die Ursache des Unfallgeschehens führe auch nicht zu einer irgendwie gearteten Beweislastumkehr oder einer Verkehrung der Regel-Ausnahmesituation, bezogen auf die Begutachtungsleitlinien. Der Antragsteller habe den Nachweis durch Vorlage ärztlicher Stellungnahmen erbracht, dass seit Jahren ein ausschließlich an den Schlaf gebundenes Anfallsleiden vorliege. Die Verwaltungsbehörde stelle dies in Abrede und trage insoweit vor, das Unfallgeschehen sei mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ein solches Anfallsleiden oder auf ein Anfallsäquivalent zurückzuführen. Dies stelle kein rechtmäßiges Handeln dar.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde ist unbegründet.

Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern oder aufzuheben wäre.

Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Gesetz vom 15. Januar 2021 (BGBl I S. 530), in Kraft getreten zum 1. Mai 2022, und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), im maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Verordnung vom 18. März 2022 (BGBl I S. 498), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV). Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV kann die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens anordnen, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisinhabers begründen.

Nach Nr. 6.6 der Anlage 4 zur FeV ist die Fahreignung bei bestehender Epilepsie nur ausnahmsweise gegeben, wenn kein wesentliches Risiko von Anfallsrezidiven mehr besteht. Epilepsien sind komplexe Erkrankungen des Gehirns mit dem Leitsymptom epileptischer Anfälle, die häufig mit Störungen des Bewusstseins und der Motorik einhergehen, in aller Regel spontan, plötzlich und unvorhersehbar auftreten und willentlich nicht unterdrückt werden können. Hierdurch ist der Betroffene nicht mehr in der Lage, jederzeit ein Kraftfahrzeug sicher zu führen (vgl. Begründung zu Nr. 3.9.6 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung vom 27.1.2014 [VkBl S. 110] in der Fassung vom 17.2.2021 [Vkbl S. 198], in Kraft getreten am 1.6.2022, die nach Anlage 4a zur FeV Grundlage für die Eignungsbeurteilung sind [S. 51 f.]). Bei Fahrzeugen der Gruppe 1 kann nach einem Jahr der Anfallsfreiheit hiervon ausgegangen werden, bei Fahrzeugen der Gruppe 2 erst nach fünf Jahren der Anfallsfreiheit ohne Therapie. Die vom Verordnungsgeber in Nr. 6.6 der Anlage 4 zur FeV vorgesehenen, auf epidemiologischen Daten des Rezidivrisikos und des Risikoassessments beruhenden Beobachtungsintervalle sollen im Wesentlichen eingehalten werden; Verkürzungen bedürfen einer ausführlichen Erläuterung (vgl. von Wrede in Schubert/Huetten/Reimann/Graw, Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, Komm., 3. Aufl. 2018, S. 195).

Nach Nr. 3 der Vorbemerkungen der Anlage 4 zur FeV gelten die dort vorgenommenen Bewertungen für den Regelfall. Kompensationen durch besondere menschliche Veranlagung, durch Gewöhnung, durch besondere Einstellung oder durch besondere Verhaltenssteuerungen und -umstellungen sind möglich. Ergeben sich im Einzelfall in dieser Hinsicht Zweifel, kann eine medizinisch-psychologische Begutachtung angezeigt sein.

Nach Nr. 3.9.6 der Begutachtungsleitlinien (S. 50) kann die Fahreignung trotz persistierender Anfälle gegeben sein, wenn durch mindestens dreijährige Beobachtungszeit gesichert ist, dass die Anfälle ausschließlich an den Schlaf gebunden sind, oder wenn einfache fokale Anfälle ohne Bewusstseinsstörung und ohne motorische sensorische oder kognitive Behinderung einhergehen, sofern nach mindestens einjähriger Beobachtungszeit keine fahrrelevante Ausdehnung der Anfallssymptomatik und kein Übergang zu komplex-fokalen oder sekundär generalisierten Anfällen erkennbar geworden sind.

Die Einwendungen des Antragstellers richten sich nicht gegen die vorstehenden rechtlichen und medizinischen Grundsätze, sondern gegen die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts, insbesondere die Würdigung der Zeugenaussage des Beifahrers des Antragstellers am 7. Juli 2020 und des Fahreignungsgutachtens vom 30. März 2022, und damit gegen die richterliche Überzeugungsbildung. Nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO, der im Beschlussverfahren entsprechend gilt (§ 122 Abs. 1 VwGO), entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Diese ist, wie der Antragsgegner zutreffend geltend macht, nicht zu beanstanden.

Die Gutachterin hat ihrer ärztlichen Einschätzung den unbestrittenen Sachverhalt zugrunde gelegt, dass der Antragsteller an Epilepsie erkrankt ist und jedenfalls bis Ende Dezember 2021 weiterhin Anfälle erlitten hat. Damit war im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Entziehungsbescheids am 27. Mai 2022 die in Nr. 6.6 der Anlage 4 zur FeV vorausgesetzte Anfallsfreiheit von einem Jahr nicht gegeben. Soweit sich der Antragsteller auf einen der in Nr. 3.9.6 der Begutachtungsleitlinien festgelegten Ausnahmetatbestände zu Nr. 6.6 der Anlage 4 zur FeV beruft, nämlich darauf, dass er schon seit vielen Jahren ausschließlich an den Schlaf gebundene Anfälle erleide, sind die Gutachterin und das Verwaltungsgericht allerdings aus nachvollziehbaren Gründen und ohne erkennbaren Verstoß gegen die Denkgesetze nicht seiner Behauptung gefolgt, dass dem Unfall vom 7. Juli 2020 kein Anfallsgeschehen zugrunde lag.

Das Verwaltungsgericht hat die erste detailreiche Aussage seines damaligen Beifahrers, die durch die Aussagen des Zeugen G. und des geschädigten Sattelzugführers zum Teil bestätigt bzw. widerspruchsfrei ergänzt wird, zu Recht für insgesamt glaubhaft erachtet. Sie erklärt schlüssig, wie das Fahrzeug des Antragstellers auf dem Standstreifen der Autobahn zum Stehen kam. Dieser hat demgegenüber keinen plausiblen Verlauf des Geschehens dargelegt, insbesondere nicht, wie es zu dem Unfall kam, wer dafür gesorgt hat, dass das Fahrzeug ohne größeren Personenschaden zum Stehen kam und weshalb er keinerlei Erinnerung an das Geschehen hat, wenn er etwa selbst das Fahrzeug zum Stehen gebracht haben wollte. Für die von seinem Beifahrer geschilderten Symptome (keine Reaktion des Antragstellers auf Zurufe, Zittern am Körper, starrer Blick) gibt es keine andere plausible Erklärung als die eines Anfallsgeschehens oder Anfallsäquivalents. Auch wenn die Gutachterin die Wendung „am ehesten ... zu vermuten ist“ gebraucht hat, handelt es sich hierbei nicht um eine unzureichende „bloße“ Vermutung, sondern um eine ärztliche Verdachtsdiagnose aufgrund des von einem Dritten beim Antragsteller beobachteten körperlichen Zustands, des Unfallgeschehens und des sonst bekannten gesundheitlichen Hintergrunds. Es entspricht dem üblichen medizinischen Vorgehen, Diagnosen u.a. aufgrund einer körperlichen Untersuchung und der ärztlichen Erfragung von potenziell medizinisch relevanten Informationen vom Patienten (Eigenanamnese) oder einer dritten Person (Fremdanamnese) zu stellen, ohne dass jede Diagnose streng wissenschaftlich durch eine Labor- oder sonstige Untersuchung abgesichert werden könnte. Ein derartiger „Beweis“ eines mehr als ein Jahr zurückliegenden Anfallgeschehens dürfte vielmehr von vornherein ausscheiden. Auch die vorgenommene körperliche Untersuchung durch die Gutachterin konnte insoweit nur den Gesundheitszustand am Untersuchungstag feststellen.

Ein derartiger Beweis ist entgegen der Auffassung des Antragstellers auch nicht vom Antragsgegner zu erbringen. Nachdem sich der Antragsteller auf den in Nr. 3.9.6 der Begutachtungsleitlinien festgelegten Ausnahmetatbestand ausschließlich an den Schlaf gebundener Anfälle beruft, trägt er nach den allgemeinen Grundsätzen der Beweislastverteilung die materielle Beweislast für das Vorliegen der die Ausnahme begründenden Voraussetzungen (vgl. BayVGH, B.v. 26.9.2006 – 11 ZB 05.2738 – juris Rn. 4; allgemein zur Beweislastverteilung Brandt/Domgörgen, Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, 4. Aufl. 2018, Rn. 261 ff.; BVerwG, U.v. 26.1.1979 – IV C 52.76 – DÖV 1979, 602 = juris Rn. 12; U.v. 27.9.1982 – 8 C 62.81BVerwGE 66, 168 = juris Rn. 12; B.v. 1.11.1993 – 7 B 190.93NJW 1994, 468 = juris Rn. 3; B.v. 26.6.2006, 8 B 4.06ZOV 2006, 310 = juris Rn. 8). Zum gleichen Ergebnis führt die Überlegung, dass die Frage, ob die Anfälle ausschließlich an den Schlaf gebunden sind und dies durch einen ausreichend langen Beobachtungszeitraum gesichert erscheint, nur in Kenntnis von Umständen beantwortet werden kann, die in seiner Person bzw. seinem Lebenskreis liegen, was ebenfalls dafür spricht, die Folgen der Unerweislichkeit der Ausnahmeumstände seiner Sphäre zuzuweisen (vgl. BayVGH, B.v. 26.9.2006 a.a.O. Rn. 134 f.).

Demgegenüber ist mit den vorgelegten Attesten der behandelnden Neurologin und des Hausarztes des Antragstellers nicht nachgewiesen, dass er seit Jahren nur noch schlafgebundene Anfälle erleidet. Diese Atteste stützen sich – sofern sie überhaupt Aussagen zum Auftreten von Anfällen treffen – ganz wesentlich auf die Angaben des Antragstellers (vgl. das neurologische Attest vom 12.4.2021: „bzw. keine Anfälle dokumentiert wurden“), so dass es sich insoweit um rein subjektive Daten handelt (vgl. von Wrede in Schubert/Huetten/Reimann/Graw, a.a.O. S. 195 zur Feststellung von Anfällen in der fachneurologischen Untersuchung). In umfangreichen wissenschaftlichen Untersuchungen zur Anfallsdokumentation hat sich indes ergeben, dass je nach Art der Anfälle und Zeitpunkt ihres Auftretens bis zur 85,5 % der Anfälle vom Patienten selbst nicht wahrgenommen werden (von Wrede a.a.O.). Deshalb war offenbar auch eine „stationäre Abklärung mit Video-Monitoring ... geplant“ (vgl. neurologisches Attest vom 6.8.2021).

Damit durften der Antragsgegner und das Verwaltungsgericht davon ausgehen, dass die Voraussetzungen, unter denen die in Nr. 6.6 der Anlage 4 zur FeV geforderte Anfallsfreiheit als Grundlage der Fahreignung entfallen kann, nicht vorliegen.

Die Beschwerde war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1, 2 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, Nr. 46.1 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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