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Entscheidungen

Haftfragen

U-Haft, Urteil, Haftfortdauer, Beschleunigungsgrundsatz, verzögerte Protokollerstellung

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Bremen, Beschl. v. 20.10.2022 – 1 Ws 107/22

Leitsatz des Gerichts:

1. Das Ergehen auch einer noch nicht rechtskräftigen tatrichterlichen Verurteilung begründet ein Indiz für das Bestehen eines dringenden Tatverdachts auch für das Beschwerdegericht im Haftbeschwerdeverfahren.
2. Das Beschleunigungsverbot verliert seine Bedeutung nicht durch den Erlass des erstinstanzlichen Urteils, es vergrößert sich aber mit dieser Verurteilung das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, da aufgrund der gerichtlich durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Angeklagten als erwiesen angesehen worden ist.
3. Eine von der Justiz zu vertretende Verzögerung des Verfahrens kann dadurch kompensiert werden, dass derselbe Umstand zugleich dafür ursächlich geworden ist, dass weitere Verfahrensschritte früher abgeschlossen werden konnten, als dies im Übrigen der Fall gewesen wäre. So kann, wenn wegen zunächst fehlender Protokollfertigstellung die Übersendung eines schriftlichen Urteils zu wiederholen ist und dadurch der Lauf der Revisionsbegründungsfrist erst verzögert in Gang gesetzt wurde, die Verzögerung dadurch teilweise kompensiert werden, dass die Staatsanwaltschaft ihre Revisionsgegenerklärung bereits auf die nach der ersten, letztlich nicht wirksam erfolgten Urteilszustellung erstellte Revisionsbegründungsschrift hin erstellt.
4. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Angeklagten und dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse ist auch zu würdigen, ob eine Verfahrensverzögerung auf ein allgemeines Organisationsdefizit der Justiz bzw. auf eine entsprechende Absicht zurückzuführen ist, oder ob sich um ein bloßes Versehen im Einzelfall gehandelt hat. Ungeachtet der hohen Sorgfaltsanforderungen an die Strafjustiz, die in besonderer Weise bei der Bearbeitung von Haftsachen gelten, ist eine Fehlerfreiheit nicht erreichbar.


In pp.

Die Beschwerde des Angeklagten A. vom 30.08.2022 gegen den Haftfortdauerbeschluss der Strafkammer 5 des Landgerichts Bremen vom 24.08.2022 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Gründe

I.

Das Amtsgericht Bremen hat am 08.12.2020 zum Aktenzeichen 91b Gs 1240/20 (331 Js 39193/20) Haftbefehl gegen den Angeklagten wegen des dringenden Tatverdachts der unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß §§ 29a Abs. 1 Nr. 2, 30 Abs. 1 Nr. 4 BtMG erlassen. Der Haftbefehl ist auf den Haftgrund der Fluchtgefahr im Sinne von § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützt. Der Angeklagte wurde am 10.12.2020 aufgrund dieses Haftbefehls des Amtsgericht Bremen vorläufig festgenommen und befindet sich seit diesem Tag durchgehend im Vollzug der Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Bremen.

Am 03.03.2021 erhob die Staatsanwaltschaft Bremen vor der Großen Strafkammer 5 des Landgerichts Bremen Anklage gegen den Angeklagten A. und gegen seinen Bruder, den Mitangeklagten B. Die Staatsanwaltschaft legte dem Angeklagten A. insgesamt 22 Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz, dem Waffengesetz und dem Kriegswaffenkontrollgesetz im Zeitraum zwischen dem 28.03.2020 und dem 30.05.2020 zur Last. Auf die Verfügung der Vorsitzenden vom 05.03.2021 wurde die Anklageschrift dem Verteidiger C… am 15.03.2021 und dem Verteidiger D… am 10.03.2021 zugestellt.

Mit Beschluss vom 10.05.2021 ließ die Strafkammer die angeklagten Taten zur Hauptverhandlung zu, eröffnete das Hauptverfahren und ordnete gegen beide Angeklagte die Fortdauer der Untersuchungshaft an.

Nach Beginn der Hauptverhandlung am 28.05.2021 hat die Große Strafkammer 5 des Landgerichts Bremen den Angeklagten A. nach 33 Hauptverhandlungstagen am 11.02.2022 unter Teilfreispruch im Übrigen wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 7 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz (Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Maschinenpistole) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren und acht Monaten verurteilt und die Einziehung eines Betrages in Höhe von 949.476,- € angeordnet sowie beschlossen und verkündet, dass der Haftbefehl des Amtsgerichts Bremen vom 08.12.2020 gegen den Angeklagten nach Maßgabe des am 11.02.2022 verkündeten Urteils aufrechterhalten und in Vollzug bleibt.

Gegen den Mitangeklagten B., den Bruder des Angeklagten A., verhängte das Landgericht Bremen unter Teilfreispruch im Übrigen eine Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und zehn Monaten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 7 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen versuchter Anstiftung zur Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben in nicht geringer Menge. Zudem ordnete die Strafkammer gegen den Angeklagten B.die Einziehung eines Betrages in Höhe von 1.091.476,- € an, wobei tenoriert wurde, dass beide Angeklagte in einer Höhe von 920.476,- € als Gesamtschuldner haften.

Der Angeklagte A. hat über seinen Wahlverteidiger Rechtsanwalt C. am 14.02.2022 und über seinen beigeordneten Verteidiger Rechtsanwalt D. am 17.02.2022 das Rechtsmittel der Revision gegen das Urteil der Großen Strafkammer 5 vom 11.02.2022 eingelegt. Am 09.05.2022 hat die Vorsitzende die Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe, die am 27.04.2022 zur Geschäftsstelle gelangt sind, verfügt.

Durch weitere Verfügung der Vorsitzenden vom 20.06.2022 wurde die Übersendung der Akten gemäß § 347 Abs. 1 StPO an die Staatsanwaltschaft Bremen veranlasst. Dort wurde ausweislich einer Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 11.07.2022 festgestellt, dass die Teilprotokolle vom 20. und 29. Hauptverhandlungstag jeweils nicht von der eingesetzten Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterzeichnet worden waren. Nachdem die fehlenden Unterschriften noch am 11.07.2022 nachgeholt worden waren, verfügte die Vorsitzende unter dem 14.07.2022 erneut die Zustellung des Urteils. Die Verfügung wurde am 20.07.2022 ausgeführt. Rechtsanwalt D. verweigerte seine Mitwirkung bei der Zustellung, indem er das Empfangsbekenntnis nicht abgab, was er damit begründete, dass das per EGVP an ihn übersendete Schriftstück, welches u.a. die Angabe „2. Schreiben 20.07.2022 Urteil A.“ enthalten hatte, nicht eindeutig identifizierbar bezeichnet worden sei. Nachdem die Akten der Vorsitzenden am 05.08.2022 erneut vorgelegt worden waren, verfügte sie noch am selben Tag abermals die Urteilszustellung an Rechtsanwalt D., die ausweislich des durch den Verteidiger nunmehr abgegebenen Empfangsbekenntnisses sodann am 08.08.2022 erfolgte.

Bereits mit Datum vom 17.06.2022 hatte Rechtsanwalt D. die für den Angeklagten eingelegte Revision mit einem insgesamt 2.877 Seiten umfassenden Schriftsatz begründet, die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt sowie die Aufhebung des Urteils und die Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer beantragt. Mit Schriftsatz vom 16.08.2022 erklärte der Verteidiger, dass davon abgesehen werde, die Revisionsbegründungsschrift vom 17.06.2022 auf die erneute Urteilszustellung hin abermals zu übersenden; sie solle vielmehr „uneingeschränkt fortgelten“.

Mit weiterem Schriftsatz seines Verteidigers Rechtsanwalt D. ebenfalls vom 16.08.2022 wendete sich der Angeklagte gegen den Haftfortdauerbeschluss der Kammer vom 11.02.2022 und beantragte, den Haftbefehl wegen einer Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes aufzuheben.

Die Staatsanwaltschaft Bremen beantragte mit Verfügung von 22.08.2022, den Antrag des Angeklagten auf Aufhebung des Haftbefehls zurückzuweisen und wies darauf hin, dass die Gegenerklärung zu der Revisionsbegründung des Angeklagten A., mit der bereits Anfang Juli 2022 begonnen worden sei, zwischenzeitlich nahezu abgeschlossen sei.

Mit Beschluss der Großen Strafkammer 5 des Landgerichts Bremen vom 24.08.2022 wurde angeordnet, dass der Haftbefehl des Amtsgerichts Bremen vom 08.12.2020 betreffend den Angeklagten A. in Gestalt des Haftfortdauerbeschlusses der Kammer vom 11.02.2022 aus den fortbestehenden Gründen seines Erlasses aufrechterhalten und in Vollzug bleibt.

Gegen diese Haftfortdauerentscheidung wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde vom 30.08.2022, der das Landgericht Bremen nicht abgeholfen hat.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Stellungnahme vom 01.09.2022 beantragt, die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss vom 24.08.2022 als unbegründet zu verwerfen.

Der Angeklagte hat hierzu durch seinen Verteidiger mit Schriftsatz vom 09.09.2022 ergänzend Stellung genommen und erneut eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes in Haftsachen geltend gemacht.

Nachdem die Staatsanwaltschaft Bremen ihre Revisionsgegenerklärung vom 15.09.2022 zu den Akten des hiesigen Beschwerdeverfahrens gereicht hatte, erhielt der Verteidiger des Angeklagten Gelegenheit zur ergänzenden Stellungnahme bis zum 29.09.2022; die Frist wurde im Folgenden antragsgemäß bis zum 18.10.2022 verlängert.

Mit Schriftsatz vom 17.10.2022 trug der Angeklagte über seinen Verteidiger ergänzend vor, dass aufgrund der sozialen Verwurzelung des Angeklagten in Deutschland keine Fluchtgefahr bestehe und im Übrigen die Revisionsgegenerklärung der Staatsanwaltschaft noch zu überarbeiten sei, nachdem die Revisionsbegründung mit Schriftsatz vom 07.09.2022 vorsorglich erneut eingelegt worden sei.

II.

Die Beschwerde des Angeklagten A. vom 30.08.2022 ist statthaft und formgerecht eingelegt als Beschwerde gegen den Haftfortdauerbeschluss der Strafkammer 5 des Landgerichts Bremen vom 24.08.2022 als letzte gegen ihn ergangene Haftentscheidung. Die Beschwerde ist infolge der sich aus der angefochtenen Entscheidung ergebenden Beschwer insgesamt zulässig (§§ 304 Abs. 1, 306 Abs. 1 StPO).

Die Beschwerde erweist sich jedoch als unbegründet. Das Landgericht hat zu Recht die Untersuchungshaft aufrechterhalten und keine Haftverschonung gewährt. Das Beschwerdevorbringen führt zu keinem anderen Ergebnis. Der Angeklagte ist den ihm in den Haftbefehlen des Amtsgerichts Bremen vom 08.12.2020 in Gestalt des Haftfortdauerbeschlusses der Strafkammer 5 vom 11.02.2022 zur Last gelegten Taten weiterhin dringend verdächtig (1.), es besteht weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO (2.) und die Anordnung der Untersuchungshaft sowie deren Fortdauer gemäß §§ 112 Abs. 1 S. 2, 120 Abs. 1 S. 1 StPO sind verhältnismäßig (3.). Eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls kommt ebenfalls nicht in Betracht (4.).

1. Der Angeklagte ist den ihm in den Haftbefehlen des Amtsgerichts Bremen vom 08.12.2020 in Gestalt des Haftfortdauerbeschlusses der Strafkammer 5 vom 11.02.2022 zur Last gelegten Taten weiterhin dringend verdächtig. Dringender Tatverdacht besteht dann, wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer Straftat und eine Verurteilung wegen dieser Straftat mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (vgl. BGH, Beschluss vom 05.05.1992 – StB 9/92, juris Rn. 4; LR/Lind, 27. Aufl., § 112 StPO Rn. 19 m.w.N.; ebenso auch die ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. zuletzt Hanseatisches OLG in Bremen, Beschluss vom 03.01.2018 – 1 Ws 143-145/17, juris Rn. 16, OLGSt StPO § 112 Nr. 23; Beschluss vom 24.04.2019 – 1 Ws 44/19, juris Rn. 18, OLGSt StPO § 112 Nr. 26; Beschluss vom 18.12.2020 – 1 Ws 166/20, juris Rn. 10). Dabei hat das Gericht im Freibeweiswege zu prüfen, ob der dringende Tatverdacht aufgrund bestimmter Tatsachen besteht, wobei insbesondere bloße Vermutungen außer Betracht zu bleiben haben und kriminalistische oder sonstige Erfahrungen lediglich zur Beurteilung und Bewertung der Tatsachen herangezogen werden dürfen, diese jedoch nicht zu ersetzen vermögen (vgl. LR/Lind, 27. Aufl., § 112 StPO Rn. 22 m.w.N.; ebenso auch die st. Rspr. des Senats, vgl. zuletzt Hanseatisches OLG in Bremen, a.a.O.).

Ist vor der zu überprüfenden Haftentscheidung bereits ein – wenn auch nicht rechtskräftiges – Urteil ergangen, ist das in der Regel bereits ein Indiz für den dringenden Tatverdacht, weil der Tatrichter seine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten in der Hauptverhandlung auf Grund einer umfassenden Würdigung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände gewinnt und damit über Erkenntnisgrundlagen verfügt, die denen des Beschwerdegerichts, das lediglich nach Aktenlage entscheidet, überlegen sind (vgl. die ständige Rechtsprechung des Hanseatischen OLG in Bremen, zuletzt u.a. Beschluss vom 06.11.2018 – 1 Ws 107/18; siehe auch Hanseatisches OLG Hamburg, Beschluss vom 23.12.2021 – 2 Ws 124/21, juris Rn. 22, StV 2022, 174). Die Beweiswürdigung und Überzeugungsbildung des Landgerichts, die zur Verurteilung des Angeklagten geführt haben, unterliegen auf die eingelegte Revision nur noch der Überprüfung auf Rechtsfehler. Diesen Verfahrensstand hat der Senat bei der Bewertung des Tatverdachts gegen den Angeklagten zu berücksichtigen. Es könnte daher von der Beurteilung der Großen Strafkammer nur dann abgewichen werden, wenn bereits jetzt erkennbar wäre, dass dessen Beweiswürdigung revisionsrechtlicher Prüfung nicht standhalten kann (vgl. BGH, Beschluss vom 28.10.2005 – StB 15/05, juris Rn. 3; KG Berlin, Beschluss vom 07.03.2014 – 4 Ws 21/14, juris Rn. 8; Hanseatisches OLG in Bremen, Beschluss vom 11.05.2020 – 1 Ws 44/20, juris Rn. 9, OLGSt StPO § 112a Nr 7).

Nach diesen Grundsätzen folgt der dringende Tatverdacht vorliegend bereits aus der Verurteilung des Angeklagten durch das Urteil des Landgerichts Bremen vom 11.02.2022 wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 7 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz (Ausübung der tatsächlichen Gewalt über eine Maschinenpistole) zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren und acht Monaten. Anhaltspunkte dafür, dass die Verurteilung in einer die Haftentscheidung, insbesondere den dringenden Tatverdacht, berührenden Weise offensichtlich falsch sein könnte, bestehen auch unter Berücksichtigung der Revisionsbegründungsschrift des Verteidigers des Angeklagten nicht.

2. Es besteht weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Fluchtgefahr ist anzunehmen, wenn die Würdigung der Umstände des Falles es wahrscheinlicher macht, dass sich der Beschuldigte dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich im zur Verfügung halten werde (siehe BGH, Beschluss vom 29.11.2017 – AK 58/17, juris Rn. 22; siehe auch die ständige Rechtsprechung des Senats, zuletzt in Hanseatisches OLG in Bremen, Beschluss vom 24.04.2019 – 1 Ws 44/19, juris Rn. 25, FD-StrafR 2019, 419256 (Ls.) m.w.N.; Beschluss vom 18.12.2020 – 1 Ws 166/20, juris Rn. 39). Dabei begründet die Erwartung einer hohen Freiheitsstrafe für sich allein nach allgemein anerkannter Meinung noch nicht die Neigung zur Flucht. Vielmehr ist die hohe Straferwartung nur Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht unter Berücksichtigung aller sonstiger Umstände so erheblich ist, dass der Schluss gerechtfertigt ist, ein Angeklagter werde dem in der hohen Straferwartung liegenden Fluchtanreiz nachgeben (siehe die Rechtsprechung des Senats, zuletzt in Hanseatisches OLG in Bremen, a.a.O.). Fluchtgefahr ist jedoch bei Erwartung einer hohen Freiheitsstrafe dann anzunehmen, wenn unter Würdigung aller Umstände sonst ungünstige Verhältnisse in der Person des Angeklagten vorliegen. Je größer die Straferwartung ist, desto weniger Gewicht ist auf weitere Umstände zu legen, die für die Fluchtgefahr von Bedeutung sein können. Mit „ungünstigen Verhältnissen" sind nur solche Verhältnisse gemeint, die die Befürchtung verstärken können, dass sich der Angeklagte angesichts ihres Vorliegens dem Strafverfahren umso eher entziehen werde (siehe die Rechtsprechung des Senats, zuletzt in Hanseatisches OLG in Bremen, a.a.O.).

Bei Anwendung dieses Maßstabs ergibt eine zusammenfassende Würdigung der aus der Akte ersichtlichen Umstände und der Nichtabhilfeentscheidung des Landgerichts, dass die Annahme des Haftgrundes der Fluchtgefahr im vorliegenden Fall ausreichend belegt ist. Hierzu kann zunächst auf die Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 01.09.2022 verwiesen werden:

„Der Angeklagte wurde zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 10 Jahren und acht Monaten verurteilt. Daneben wurde die Einziehung in Höhe eines Betrages von 949.476,00 Euro angeordnet.

Neben der insofern zu erwartenden mehrjährigen Freiheitsstrafe, welche bereits einen nicht unerheblichen Fluchtanreiz darstellen dürfte, ist zu berücksichtigen, dass der Angeklagte Verbindungen in das außereuropäische Ausland aufweist. Der Angeklagte ist im Libanon geboren und hat die libanesische Staatsangehörigkeit, so dass von verwandtschaftlichen Beziehungen im Ausland auszugehen ist. Zudem ist davon auszugehen, dass der Angeklagte infolge der verfahrensgegenständlichen Tatvorwürfe sowohl Kontakte in organisierte kriminelle Strukturen als auch Zugriffsmöglichkeiten auf nicht unerhebliche Geldbeträge hat, um eine etwaige Flucht zu organisieren und zu finanzieren. Abschließend dürfte auch die zu erwartende Einziehungsentscheidung im nahezu siebenstelligen Bereich einen nicht unwesentlichen Fluchtanreiz darstellen. Allein der Umstand, dass der Angeklagte Ehefrau und Kinder in Deutschland hat, ist nicht geeignet, die bestehende Fluchtgefahr mit zureichender Wahrscheinlichkeit auszuschließen.“

Diesen Ausführungen tritt der Senat bei. Die für die Fluchtgefahr maßgebliche subjektive Straferwartung des Angeklagten ist durch das Urteil des Landgerichts Bremen vom 11.02.2022 dahingehend konkretisiert, dass er mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren und acht Monaten zu rechnen hat. Auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die von dem Angeklagten erlittene Untersuchungshaft nach Maßgabe des § 51 Abs. 1 StGB auf die erkannte Gesamtfreiheitsstrafe anzurechnen ist, verbleibt es letztlich für den Angeklagten bei einer zu erwartenden langjährigen Freiheitsstrafe sowie im Übrigen bei einer Einziehungsentscheidung über einen Geldbetrag in nahezu siebenstelliger Höhe. Hinreichende fluchthemmende Umstände sind auch unter Berücksichtigung der familiären und beruflichen Verwurzelung des Angeklagten in Bremen nicht zu verzeichnen. Dies gilt auch, soweit der Angeklagte über seinen Verteidiger mit Schriftsatz vom 17.10.2022 vorgetragen hat, sich bisherigen Strafverfahren gegen ihn stets zur Verfügung gehalten zu haben, zumal gegen den Angeklagten insoweit jeweils Geldstrafen oder zur Bewährung ausgesetzte Freiheitsstrafen verhängt worden sind, während er nunmehr durch Urteil des Landgerichts Bremen vom 11.02.2022 mit einer Freiheitsstrafe im zweistelligen Bereich sanktioniert worden ist.

3. Angesichts der Schwere der konkreten Tatvorwürfe war die Anordnung der Untersuchungshaft verhältnismäßig (§ 112 Abs. 1 S. 2 StPO). Die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft ist gleichfalls verhältnismäßig (§ 120 Abs. 1 StPO).

a) Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft ist stets das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig Verurteilten die Freiheit entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist, nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt (vgl. aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zuletzt u.a. BVerfG, Beschluss vom 17.01.2013 – 2 BvR 2098/12, juris Rn. 39 ff., StV 2013, 640; Beschluss vom 23.01.2019 – 2 BvR 2429/18, juris Rn. 54 ff., NJW 2019, 915; so auch die st. Rspr. des Senats, vgl. zuletzt u.a. Hanseatisches OLG in Bremen, Beschluss vom 03.01.2018 – 1 Ws 143/17 - 145/17, juris Rn. 26 ff., OLGSt StPO § 112 Nr 23; Beschluss vom 24.04.2019 – 1 Ws 44/19, juris Rn. 28 ff., jew. m. w. Nachw.). Dabei ist grundsätzlich die Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft nach der Dauer der Strafe zu beurteilen, die der Angeklagte mutmaßlich zu verbüßen haben wird (vgl. BVerfG, a.a.O.; BGH, Beschluss vom 21.04.2016 – StB 5/16, juris Rn. 16, NStZ-RR 2016, 217; Beschluss vom 05.10.2018 – StB 45/18, juris Rn. 10), wobei neben der Straferwartung dabei auch die Schwere des Eingriffs in die Lebenssphäre des Angeklagten, die Art des verletzten Rechtsguts, der konkrete Geschehensablauf, sowie tatbezogene Umstände aus der Person des Beschuldigten zu berücksichtigen sind (siehe auch die Rechtsprechung des Senats, Hanseatisches OLG in Bremen, a.a.O.). Mit zunehmender Dauer der Freiheitsentziehung nehmen auch die Anforderungen an den die Haftdauer rechtfertigenden Grund zu (vgl. BVerfG, a.a.O.; so auch die st. Rspr. des Senats, vgl. Hanseatisches OLG in Bremen, a.a.O., jew. m. w. Nachw.). Als besondere Ausprägung dieses Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit verlangt zudem der Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen, denn zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und zur Sicherstellung der Strafvollstreckung kann die Haft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verzögerungen verursacht worden ist. Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen stehen daher regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung entgegen (vgl. BVerfG, a.a.O.; so auch die st. Rspr. des Senats, vgl. Hanseatisches OLG in Bremen, a.a.O., jew. m. w. Nachw.).

Das Beschleunigungsgebot verliert seine Bedeutung auch nicht durch den Erlass des erstinstanzlichen Urteils. Es gilt für das gesamte Strafverfahren und ist auch im Rechtsmittelverfahren bei der Prüfung der Anordnung der Fortdauer von Untersuchungshaft zu beachten (BVerfG, Beschluss vom 22.02.2005 – 2 BvR 109/05, juris Rn. 28; Beschluss vom 11.06.2008 – 2 BvR 806/08, juris Rn. 32; Beschluss vom 13.05.2009 – 2 BvR 388/09, juris Rn. 22; Beschluss vom 24.08.2010 – 2 BvR 1113/10, juris Rn. 22; Hanseatisches OLG in Bremen, a.a.O.). Allerdings vergrößert sich mit der Verurteilung das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, da aufgrund der gerichtlich durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung einer Straftat durch den Angeklagten als erwiesen angesehen worden ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.08.2010 – 2 BvR 1113/10, juris Rn. 27; Hanseatisches OLG Hamburg, a.a.O., juris Rn. 48; OLG Schleswig, Beschluss vom 21.09.2021 – 1 Ws 160/21, juris Rn. 4). Der Umstand, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, steht dem nicht entgegen. Die Einlegung eines Rechtsmittels hindert lediglich die Vollstreckung der durch das angegriffene Urteil ausgesprochenen Sanktionen bis zur Überprüfung durch das nächsthöhere Gericht. Sie beseitigt indessen nicht die Existenz des angegriffenen Urteils und damit den Umstand, dass auf der Grundlage eines gerichtlichen Verfahrens bereits ein Schuldnachweis gelungen ist. Dem entspricht es, dass sowohl § 121 StPO als auch Art. 5 Abs. 3 EMRK der Untersuchungshaft spezifische Grenzen setzen, solange ein auf Freiheitsentziehung erkennendes Urteil nicht ergangen ist. (BVerfG, Beschluss vom 13.05.2009 – 2 BvR 388/09, juris Rn. 23; Hanseatisches OLG in Bremen, a.a.O.).

Die Feststellung einer sachlich nicht gerechtfertigten und vermeidbaren Verzögerung des Verfahrens, die den Strafverfolgungsbehörden oder den Strafgerichten zuzurechnen ist, steht der Fortdauer der Untersuchungshaft dann nicht entgegen, wenn die Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Angeklagten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein Überwiegen des Strafverfolgungsinteresses ergibt (BVerfG, Beschluss vom 17.01.2013 – 2 BvR 2098/12, juris Rn. 42 f.; BVerfG, Beschluss vom 13.05.2009 – 2 BvR 388/09, juris Rn. 29 f.; Hanseatisches OLG in Bremen, a.a.O.).

Schließlich ist noch bezüglich der Dauer der Verzögerung zu differenzieren: Bei kleineren Verfahrensverzögerungen kann die Fortdauer der Untersuchungshaft noch durch das Gewicht der zu ahndenden Straftat gerechtfertigt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.02.2005 – 2 BvR 109/05, juris Rn. 41, BVerfGK 5, 109; Beschluss vom 05.12.2005 – 2 BvR 1964/05, juris Rn. 62, 73, 76, BVerfGK 7, 21; Beschluss vom 23.01.2008 – 2 BvR 2652/07, juris Rn. 44, StV 2008, 198; Beschluss vom 13.05.2009 – 2 BvR 388/09, juris Rn. 30, BVerfGK 15, 474; Beschluss vom 20.12.2017 – 2 BvR 2552/17, juris Rn. 17; Beschluss vom 11.06.2018 – 2 BvR 819/18, juris Rn. 29, NJW 2018, 2948; Beschluss vom 01.08.2018 – 2 BvR 1258/18, juris Rn. 24, StV 2019, 111 (Ls.)). Dagegen kann die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung der Fortdauer einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft dienen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.02.2005 – 2 BvR 109/05, juris Rn. 41, BVerfGK 5, 109; Beschluss vom 05.12.2005 – 2 BvR 1964/05, juris Rn. 62, BVerfGK 7, 21; Beschluss vom 23.01.2008 – 2 BvR 2652/07, juris Rn. 44, StV 2008, 198; Beschluss vom 13.05.2009 – 2 BvR 388/09, juris Rn. 30, BVerfGK 15, 474; Beschluss vom 24.08.2010 – 2 BvR 1113/10, juris Rn. 26, BVerfGK 17, 517; Beschluss vom 20.12.2017 – 2 BvR 2552/17, juris Rn. 17; Beschluss vom 11.06.2018 – 2 BvR 819/18, juris Rn. 29, NJW 2018, 2948; Beschluss vom 01.08.2018 – 2 BvR 1258/18, juris Rn. 24, StV 2019, 111 (Ls.); Beschluss vom 23.01.2019 – 2 BvR 2429/18, juris Rn. 70, NJW 2019, 915). Dabei ist nicht entscheidend, ob eine einzelne verzögerte Verfahrenshandlung ein wesentliches Ausmaß hat. Es kommt vielmehr darauf an, ob die festgestellten Verfahrensverzögerungen in ihrer Gesamtheit ein Ausmaß erreichen, das im Rahmen der durchzuführenden Abwägung die Anordnung einer Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr erlaubt (BVerfG, Beschluss vom 13.05.2009 – 2 BvR 388/09, juris Rn. 30; Hanseatisches OLG in Bremen, a.a.O.). Bei der Abwägung zwischen den Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die unter anderem von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dies macht eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs erforderlich. An dessen zügigen Fortgang sind dabei umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert. Dieser Gedanke liegt auch der Regelung des § 121 StPO zu Grunde, der bestimmt, dass der Vollzug der Untersuchungshaft vor Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund den Erlass des Urteils noch nicht zugelassen haben und die Fortdauer der Haft rechtfertigen (vgl. ständige Rechtsprechung des BVerfG, Beschluss vom 30.07.2014 – 2 BvR 1457/14, juris Rn. 24; Beschluss vom 22.01.2014 – 2 BvR 2248/13, 2 BvR 2301/13, juris Rn. 37; Beschluss vom 17.01.2013 – 2 BvR 2098/12, juris Rn. 41; Beschluss vom 14.11.2012 – 2 BvR 1164/12, juris Rn. 44; Beschluss vom 04.05.2011 – 2 BvR 2781/10, juris Rn. 13; Beschluss vom 13.05.2009 – 2 BvR 388/09, juris Rn. 29f.; Beschluss vom 20.10.2006 – 2 BvR 1742/06, juris Rn. 36; Beschluss vom 05.12.2005 – 2 BvR 1964/05, juris Rn. 62, Hanseatisches OLG in Bremen, a.a.O.). Nur im Fall der besonderen Haftprüfung durch das Oberlandesgericht in den Fällen des § 121 Abs. 1 StPO findet eine Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Angeklagten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit nicht statt (BVerfG, Beschluss vom 15.02.2007 – 2 BvR 2563/06, juris Rn. 42, Hanseatisches OLG in Bremen, a.a.O.).

b) Nach diesen Maßstäben erweist sich der weitere Vollzug der nunmehr etwa rund ein Jahr und zehn Monate andauernden Untersuchungshaft nicht als unverhältnismäßig und es sind insbesondere auch nicht die Anforderungen des Beschleunigungsgebotes in Haftsachen verletzt.

aa) Bezüglich des Ermittlungsverfahrens, des Zwischenverfahrens und des Hauptverfahrens bis zur Niederlegung des schriftlichen Urteils in den Akten sind Verfahrensverzögerungen durch den Angeklagten weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Hierzu kann zunächst wiederum auf die Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 01.09.2022 verwiesen werden:

„Der Angeklagte befindet sich seit dem 10.12.2020 in Untersuchungshaft, mithin seit rund einem Jahr und neun Monaten. Mit Verfügung vom 03.03.2021 hat die Staatsanwaltschaft Anklage zum Landgericht erhoben (II 15 ff.). Das Hauptverfahren wurde mit Beschluss des Landgerichts Bremen vom 10.05.2021 eröffnet (III 105 f.). Die Hauptverhandlung begann am 28.05.2021 und dauerte bis zum 11.02.2022 an. Das Landgericht hat in dem angegriffenen Beschluss zutreffend darauf hingewiesen, dass der Verfahrensstoff sehr umfangreich ist. Die Papierakten umfassen neun Bände Hauptakten, 58 Fallakten, mehrere Bände Rechtshilfe und Datenverarbeitung sowie 15 Bände Finanzermittlungen. Hinzu kommt umfangreiche sichergestellte Kommunikation über den Diensteanbieter Encrochat. Ausweislich der Urteilsfeststellungen hat der Angeklagte sich zu den Vorwürfen nicht geäußert (VIII 33). Das Urteil wurde am 27.04.2022 zu den Akten gebracht (VIII 5 ff.).“

Der Senat schließt sich diesen Darlegungen an. Ergänzend bleibt hervorzuheben, dass der verstrichene Zeitraum zwischen dem Erlass der Eröffnungsentscheidung und dem Beginn der Hauptverhandlung von lediglich etwas mehr als zwei Wochen sogar als sehr kurz zu bezeichnen ist.

Darüber hinaus waren nach der Verkündung des Urteils am 11.02.2022 die Urteilsgründe gemäß § 275 Abs. 1 S. 1 StPO unverzüglich zu den Akten zu bringen, wobei dies nach der gemäß § 275 Abs. 1 S. 2 StPO verlängerten Höchstfrist von hier 13 Wochen spätestens bis zum Ablauf des 13.05.2022 zu geschehen hatte. Für das 142 Seiten umfassende Urteil schöpfte die Große Strafkammer diese Frist allerdings nicht aus. Das Urteil gelangte vielmehr bereits am 27.04.2022 zur Akte, was wiederum eine beschleunigte Behandlung seitens der Kammer erkennen lässt.

bb) Eine vermeidbare und dem Angeklagten nicht anzulastende Verfahrensverzögerung trat allerdings im nachfolgenden Verfahrensabschnitt dadurch ein, dass nach der Niederlegung der Urteilsgründe auf der Geschäftsstelle die Urteilszustellung letztlich mehrfach verfügt worden ist. Denn die mit Verfügung der Vorsitzenden der Strafkammer 5 vom 09.05.2022 erstmals veranlasste Urteilszustellung konnte die Revisionsbegründungsfrist nach § 345 Abs. 1 S. 1 StPO nicht in Lauf setzen. Die Frist beginnt gemäß der hier anzuwendenden Vorschrift des § 345 Abs. 1 S. 3, 1. Alt. StPO mit der Zustellung des Urteils. Gemäß § 273 Abs. 4 StPO darf das Urteil nicht zugestellt werden, bevor das Protokoll fertiggestellt ist. Fertiggestellt ist das Protokoll mit dem Vollzug der letzten erforderlichen Unterschrift. Erforderlich ist die eigenhändige Unterschrift des Vorsitzenden und des Urkundsbeamten (BeckOK-Peglau, 44. Edition, § 271 StPO Rn. 12). Vorliegend sind die Teilprotokolle des 20. und des 29. Hauptverhandlungstages zunächst nicht durch die in den jeweiligen Fortsetzungsterminen protokollführenden Urkundsbeamtinnen unterzeichnet worden, obwohl auf der letzten Seite des jeweiligen Teilprotokolls ein Feld mit Namensangabe für die Unterschrift vorhanden war und deshalb nur eine dort platzierte Unterschrift mit der gebotenen Sicherheit hätte erkennen lassen, dass neben der Vorsitzenden auch die jeweilige Urkundsbeamtin den Inhalt des jeweiligen Protokolls verantwortet. Erst hierdurch wären die jeweiligen Teilprotokolle und damit letztlich auch das Sitzungsprotokoll insgesamt fertiggestellt worden. Dieser Fehler ist nach einem entsprechenden Hinweis der Staatsanwaltschaft schließlich am 11.07.2022 behoben worden. In diesem Zusammenhang ist zu sehen, dass das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verlangt, dass die Erstellung eines kompletten Hauptverhandlungsprotokolls im unmittelbaren Anschluss an die Hauptverhandlung und damit parallel zur Erstellung der Urteilsgründe erfolgt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.03.2006 – 2 BvR 170/06, juris Rn. 35, BVerfGK 7, 421), wobei der vorliegende Fall keine Anhaltspunkte für eine abweichende Bewertung liefert.

Aufgrund der von der Vorsitzenden der Strafkammer erstmals am 09.05.2022 veranlassten Urteilszustellung wurden der Verteidigung des Angeklagten A. die Urteilsausfertigungen am 17.05.2022 übersendet. Wenn seinerzeit das Protokoll bereits fertiggestellt und die Zustellung insgesamt wirksam gewesen wäre, hätte die Revisionsbegründungsfrist gemäß § 345 Abs. 1 S. 1 StPO mit Ablauf des 17.06.2022 geendet.

Auch die nach der Fertigstellung des Protokolls mit Verfügung der Vorsitzenden der Strafkammer vom 14.07.2022 veranlasste erneute („zweite“) Urteilszustellung setzte den Lauf der Revisionsbegründungsfrist bezüglich des AngeklagtenA. noch nicht in Gang. Weil dem Verteidiger die Angabe „2. Schreiben 20.07.2022 UrteilC A.“ keine eindeutige Identifizierbarkeit des Schriftstücks ermöglicht hatte, verweigerte er die Abgabe des Empfangsbekenntnisses. Die Zustellung gegen Empfangsbekenntnis ist jedoch erst dann als bewirkt anzusehen, wenn der Rechtsanwalt das ihm zugestellte Schriftstück mit dem Willen entgegengenommen hat, es als zugestellt gegen sich gelten zu lassen, und dies auch durch Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses beurkundet (vgl. BGH, Urteil vom 18.01.2006 – VIII ZR 114/05, juris Rn. 8, NJW 2006, 1206; BeckOK-Günther, 37. Edition, § 14 BORA Rn. 8). Erst das mit Datum und Unterschrift des Adressaten versehene Empfangsbekenntnis erbringt den Nachweis über die Zustellung (§ 175 Abs. 3 ZPO i.V. mit § 37 Abs. 1 StPO), wobei auch für den elektronischen Rechtsverkehr mit § 175 Abs. 4 ZPO an diesem Prinzip festgehalten wurde (vgl. Hartung/Scharmer-Jacklofsky, Berufs- und Fachanwaltsordnung, 8. Auflage, § 14 BORA Rn. 24).

Schließlich verfügte die Vorsitzende am 08.08.2022 erneut – und damit zum dritten Mal – die Zustellung einer Urteilsausfertigung an die Verteidigung des Angeklagten A., die nunmehr ausweislich eines sodann durch Rechtsanwalt D. abgegebenen Empfangsbekenntnisses noch am selben Tag, dem 08.08.2022, gelang.

Die Revisionsbegründungsfrist des § 345 Abs. 1 S. 1 StPO endete damit erst mit dem Ablauf des 08.09.2022 und nicht bereits mit Ablauf des 17.06.2022. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass gerade die bereits mit Verfügung vom 09.05.2022 veranlasste, wenn auch letztlich nicht wirksam erfolgte Urteilszustellung dafür ursächlich geworden ist, dass der Verteidiger des Angeklagten seine Revisionsbegründungsschrift bereits am 17.06.2022, dem vermeintlich letzten Tag der Revisionsbegründungsfrist des § 345 Abs. 1 S. 1 StPO, eingereicht hatte. Deshalb konnte die Staatsanwaltschaft Bremen unbeschadet der letztlich erst am 08.08.2022 an den Angeklagten A. wirksam erfolgten Urteilszustellung mit ihrer Revisionsgegenerklärung zu der 2.877 Seiten umfassenden Revisionsbegründungsschrift des Verteidigers D. bereits Anfang Juli 2022 beginnen, weshalb die im Ergebnis 177 Seiten umfassende Revisionsgegenerklärung schließlich am 15.09.2022 fertiggestellt werden konnte. Vor dem Hintergrund dieser Abläufe, die auch seitens der Staatsanwaltschaft von einem besonderen Bemühen um Beschleunigung getragen waren, erachtet der Senat die von der Justiz zu vertretende Verzögerung des Verfahrens, welche infolge der fehlerhaften Protokollunterzeichnung und des daraus resultierenden Erfordernisses der erneuten („zweiten“) Urteilszustellung sowie der fehlerhaften Bezeichnung des übersendeten Schriftstücks und des in diesem Zuge verweigerten Empfangsbekenntnisses nebst erneuter („dritter“) Urteilszustellung eingetreten ist, als teilweise kompensiert und quantifiziert sie in einer Gesamtschau auf rund drei bis vier Wochen.

cc) Die weitere Sachbehandlung der Strafkammer seit der am 08.08.2022 erfolgten Urteilszustellung an den Verteidiger D. lässt keinen relevanten Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot erkennen; entsprechende Anhaltspunkte trägt auch der Angeklagte nicht mehr vor.

dd) In ihrer Gesamtheit führen die Verfahrensverzögerungen nicht zur Aufhebung des Haftbefehls. Der Freiheitsanspruch des Angeklagten hat derzeit in einer Gesamtschau noch hinter dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse zurückzustehen.

Zwar befindet sich der Angeklagte bereits seit einem Jahr und zehn Monaten im Vollzug der Untersuchungshaft, was zwar noch keine sehr lange, aber doch bereits eine lange Zeit des Freiheitsentzugs und damit einen erheblichen Eingriff in sein Freiheitsgrundrecht nach Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG darstellt. Vor diesem Hintergrund fallen die vorliegend festgestellten und vermeidbaren Verfahrensverzögerungen im Umfang von insgesamt rund drei bis vier Wochen durchaus ins Gewicht.

Angesichts der Komplexität der Sache und der Vielzahl der aufklärungsbedürftigen und schwerwiegenden Tatvorwürfe liegt ungeachtet der festgestellten Verzögerungen jedoch nach wie vor eine angemessene Verfahrensdauer vor. Insoweit ist zu würdigen, dass das Verfahren von erheblichem Umfang gewesen ist. Die Papierakten des Verfahrens umfassen neun Bände Hauptakten, 58 Bände Fallakten, mehrere Bände Sonderakten (Datenverarbeitung, Rechtshilfe) und 15 Bände Finanzermittlungen. Die vorliegend konkret in Rede stehenden Encrochats, die auch Geodaten, versendete Bilder und Kontakte enthalten, umfassen in elektronischer Form bereits über 12.000 Chatzeilen Kommunikation des Encrochatuser … und weitere knapp 7.000 Chatzeilen des Users …, bei denen es sich ausweislich der Urteilsfeststellungen um den Angeklagten A. und den Mitangeklagten B. handelt. Zudem erging der grundlegende Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 02.03.2022 (Az. 5 StR 457/21), mit dem die Verwertbarkeit der Encrochat-Daten ausführlich diskutiert und unter jedem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt bejaht wurde, erst nach dem Erlass des Urteils der Strafkammer 5 vom 11.02.2022.

Im Rahmen der Abwägung ist überdies zu würdigen, woraus die Verfahrensverzögerungen resultierten und in welcher Weise die Große Strafkammer darauf reagiert hat. Die fehlerhafte Protokollunterzeichnung hat zwar zu einer nicht unbeachtlichen Verfahrensverzögerung geführt. Es ist hierbei aber zu würdigen, dass diese Verzögerung nicht etwa auf ein allgemeines Organisationsdefizit oder eine zielgerichtete Absicht der Verfahrensverzögerung zurückzuführen ist, sondern es sich vielmehr um ein bloßes Versehen im Einzelfall gehandelt hat. Ungeachtet der hohen Sorgfaltsanforderungen an die Strafjustiz, die in besonderer Weise bei der Bearbeitung von Haftsachen gelten, ist eine Fehlerfreiheit nicht erreichbar (vgl. Hanseatisches OLG in Bremen, Beschluss vom 09.12.2014 – Ws 121/14). Zudem ist hinsichtlich der aus der fehlerhaften Protokollunterzeichnung resultierenden Verfahrensverzögerung zu beachten, dass die Vorsitzende, nachdem die Staatsanwaltschaft am 11.07.2022 auf den Fehler hingewiesen hatte, unverzüglich alle Möglichkeiten ausschöpfte, um auch die daraus erwachsende Verzögerung so gering wie möglich zu halten. Die Protokollberichtigung wurde noch am selben Tag veranlasst und die erneute Urteilszustellung umgehend verfügt. Insoweit wird das Bemühen des Gerichts um größtmögliche Beschleunigung des Verfahrens ersichtlich.

Mit Blick auf die insgesamt eher kleinere Verfahrensverzögerung ist ferner zu berücksichtigen, dass sich das Gewicht des in die Gesamtabwägung einzubeziehenden staatlichen Strafverfolgungsinteresses vorliegend dadurch erhöht hat, dass die Strafkammer 5 die abgeurteilten Taten des Angeklagten nach Durchführung der Beweisaufnahme als erwiesen angesehen hat. Die durch das Landgericht Bremen ausgeurteilte Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren und acht Monaten unter Festsetzung von acht Einzelstrafen – wobei sich fünf dieser Einzelstrafen zwischen fünf Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe bis zu neun Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe bewegen – sowie die ebenfalls hohe Einziehungssumme von 949.476,- € indizieren ein erhebliches Gewicht der dem Angeklagten vorgeworfenen Betäubungsmittelstraftaten.

Nach alledem überwiegt damit im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung das Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit das Freiheitsgrundrecht des Angeklagten trotz des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen insgesamt deutlich, sodass sich die Fortdauer der Untersuchungshaft trotz der eingetretenen Verfahrensverzögerung noch als verhältnismäßig erweist.

4. Eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls nach § 116 StPO kommt nicht in Betracht. Der Zweck der Untersuchungshaft kann angesichts der erheblichen Fluchtanreize infolge der durch das erstinstanzliche Urteil konkretisierten hohen Straferwartung sowie der ebenfalls hohen Einziehungssumme durch weniger einschneidende Maßnahmen als den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft nicht erreicht werden.


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