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Entscheidungen

StPO

Zuständigkeit, Strafmaßprognose, Beurteilungsspielraum

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Dresden, Beschl. v. 05.12.2022 - 2 Ws 230/22

Eigener Leitsatz:

Die Strafmaßprognose zur Bestimmung der Gerichtszuständigkeit ist zunächst von der Staatsanwaltschaft bei Anklageerhebung und sodann vom Gericht bei der Eröffnungsentscheidung einzelfallbezogen vorzunehmen. Dabei obliegt dem Gericht nicht nur eine Nachprüfung der Zuständigkeitsauswahl der Staatsanwaltschaft, sondern mit der Prüfung auch eine gerichtliche Entscheidung über den vorbestimmten gesetzlichen Richter. Für die zu treffende Prognoseentscheidung besteht ein weiter Beurteilungsspielraum.


Oberlandesgericht Dresden

Strafsenat

2 Ws 230/22

BESCHLUSS

In der Strafsache
gegen pp.
wegen Verbrechens nach § 29a BtMG
hier Beschwerde StA gegen Eröffnung vor dem Amtsgericht
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Dresden am 05.12.2022 beschlossen:

1. Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Leipzig gegen den Beschluss des Landgerichts Leipzig vom 1,.4. Juli 2022 wird als unbegründet verworfen.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der dem Angeklagten hierdurch
erwachsenden notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe:

I.

Die Staatsanwaltschaft Leipzig hat dem Angeklagten mit Schrift vom 7. März 2022 zur Last gelegt, im Zeitraum vom 15. Mai 2020 bis zum 11. Juni 2020 in drei selbstständigen Handlungen jeweils unerlaubt mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Handel getrieben zu haben. Dem Angeklagten wird vorgeworfen, sich deshalb wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen gemäß § 1 Abs, 1 i. V. m. Anlage 1 zum BtMG, §§ 3 Abs. 1, 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG 1. V. m. § 53 StGB strafbar gemacht zu haben. Er soll am 15. Mai 2020 insgesamt sechs Kilogramm Marihuana mit einem durchschnittlichen Wirkstoffgehalt von zumindest 10 % Tetrahydrocannabinol (THC) für 33.000,00 EUR angekauft und gewinnbringend für mindestens 36.000,00 EUR weiterveräußert haben. Außerdem soll er im Zeitraum vom 25. Mai 2020 bis 28. Mai 2020 weitere fünf Kilogramm Marihuana mit einem durchschnittlichen Wirkstoffgehalt von zumindest 10 % THC erworben und für 26.000,00 EUR weiterverkauft haben. Schließlich wird dem Angeklagten angelastet, am 11. Juni 2020 abermals zwei Kilogramm Marihuana mit einem durchschnittlichen Wirkstoffgehalt von mindestens 10 % THC zu einem Preis von 10.000,00 EUR gekauft und anschließend für 11.000,00 EUR weiterverkauft zu haben. Der Angeklagte hat sich zum Tatvorwurf bislang nicht geäußert. Er ist nach den Ermittlungsergebnissen der Staatsanwaltschaft bisher strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten. Wegen der Einzelheiten der Tatvorwürfe wird auf den Inhalt der Anklageschrift vom 7. März 2022 Bezug genommen.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Landgericht Leipzig - 8. Strafkammer - die Anklage ohne Änderungen zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren abweichend vom Antrag der Staatsanwaltschaft vor dem Amtsgericht Leipzig - Schöffengericht — eröffnet Zur Begründung hat die Kammer ausgeführt, es sei nicht zu erwarten, dass im Falle einer Verurteilung des nicht vorbestraften Angeklagten eine Gesamtstrafe von mehr als vier Jahren ausgesprochen werde. In Anbetracht der im Raum stehenden Menge der Betäubungsmittel, den zu erwartenden Einzelfreiheitsstrafen und unter Beachtung des engen zeitlichen, sachlichen und situativen Zusammenhangs sowie aufgrund des Umstandes, dass der Angeklagte bislang strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten ist und zudem seit der Tatbegehung zwei Jahre vergangenen seien, sei eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren oder darüber nicht zu erwarten. Nach der Spruchpraxis des Landgerichts Leipzig in sogenannten „Encrochat-Verfahren sei dies nach Bewertung der vorliegenden Sachlage im Falle eines Schuldspruches ausgeschlossen. Die 8. Strafkammer hat hierzu auf mehrere Urteile anderer Strafkammern des Landgerichts und dort ausgeurteilte Einzelstrafen für den Handel mit Marihuana verwiesen,

Die Staatsanwaltschaft Leipzig hat gegen den ihr am 19. Juli 2022 zugestellten Beschluss am 20. Juli 2022 sofortige Beschwerde eingelegt, soweit das Verfahren vor dem Amtsgericht Leipzig - Schöffengericht - eröffnet worden ist. Das Landgericht habe seine Beurteilungsprognose lediglich zugunsten des Angeklagten ausgeführt. Auch wenn es sich bei Marihuana um eine sogenannte „weiche" Droge handele, habe der Angeklagte mit Betäubungsmitteln im zweistelligen Kilogrammbereich gehandelt, die nicht geringe Menge sei vorliegend um ein Vielfaches überschritten, Hinzu komme das professionelle Vorgehen unter Verwendung eines mit nicht unerheblichen Kosten verbundenen Kryptotelefons (Encrochat). Die in anderen Verfahren verhängten - aus Sicht der Staatsanwaltschaft unangemessen niedrigen - Einzelfreiheitsstrafen würden keine Bindungswirkung entfalten, weshalb bei einer Gesamtschau nicht auszuschließen sei, dass eine Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als vier Jahren zu verhängen sein könnte. Ungeachtet dessen sei die Strafkammer auch zuständig, weil die Strafsache einen besonderen Umfang und besondere Bedeutung habe. Dies ergäbe sich vorliegend aus den Auswirkungen der Straftat durch die Benutzung eines „Encrochat"-Telefons und dem damit einhergehenden großen öffentlichen Interesse. Die Verfahren aus dem Komplex „Encrochat" seien mit gewöhnlich vorkommenden Ermittlungsverfahren wegen Verbrechen nach dem Betäubungsmittelgesetz nicht gleichzusetzen. Die Vielzahl der Problemfelder hebe derartige Verfahren - so auch das hiesige - deutlich von der Masse der durchschnittlichen Strafsachen ab.

Die Strafkammer hat auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Leipzig am 25. Juli 2022 Stellung genommen und dabei den besonderen Umfang und die besondere Bedeutung der Sache verneint.

II.

1. Die sofortige Beschwerde ist gemäß § 210 Abs. 2 StPO statthaft. Die sofortige Beschwerde
ist zulässig; insbesondere form- und fristgerecht eingelegt.

2. In der Sache ist die sofortige Beschwerde jedoch unbegründet.

Die Zuständigkeit des Landgerichts ist im vorliegenden Fall weder aufgrund der Straferwartung im Einzelfall noch deshalb eröffnet, weil die Staatsanwaltschaft wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Bedeutung des Falles Anklage beim Landgericht erhoben hätte.

a) Die Zuständigkeit des Landgerichts Leipzig ergibt sich nicht aus § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 GVG.

Nach § 24 Abs. 1 GVG liegt die sachliche Zuständigkeit der ersten Instanz grundsätzlich bei den Amtsgerichten (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. März 1959 -1 BOR 295/58 = BVerfGE 23, 223 (227); Eschelbach in Beck-OK GVG, 16. Ed., 15. August 2022, § 24, Rn. 6). Eine Ausnahme von diesem Leitbild für den gesetzlichen Richter kann sich aus den Nr. 1 bis 3 der Vorschrift ergeben. Für die Verschiebung der Zuständigkeit nach § 24 Abs. 1 Nr. 2 GVG aufgrund der Begrenzung des Strafbanns für Amtsgerichte auf vier Jahre (§ 24 Abs. 2 GVG) ist maßgeblich, Ob im Einzelfall eine höhere Strafe als vier Jahre (Gesamt-)Freiheitsstrafe zu erwarten ist. Das bedeutet, dass bei einer überschlägigen Prognoseentscheidung unter Abwägung der für die Strafzumessung maßgeblichen Umstände eine jedenfalls höhere Wahrscheinlichkeit dafür bestehen muss, dass eine Strafe von mehr ais vier Jahren ausgesprochen wird, Es kommt insofern nicht darauf an - wie die Staatsanwaltschaft in ihrer Beschwerdebegründung ausführt —es sei (lediglich) „nicht auszuschließen, dass eine Gesamtfreiheitsstrafe von über vier Jahren zu verhängen sein könnte".

Die Strafmaßprognose zur Bestimmung der Gerichtszuständigkeit ist zunächst von der Staatsanwaltschaft bei Anklageerhebung und sodann vom Gericht bei der Eröffnungsentscheidung einzelfallbezogen vorzunehmen. Dabei obliegt dem Gericht nicht nur eine Nachprüfung der Zuständigkeitsauswahl der Staatsanwaltschaft, sondern mit der Prüfung auch eine gerichtliche Entscheidung über den vorbestimmten gesetzlichen Richter (vgl. Beck-OK GVG, a.a.O., Rn. 10). Für die zu treffende Prognoseentscheidung besteht ein weiter Beurteilungsspielraum (vgl. BGH, Urteil vom 29. April 2015 - 2 StR 405/14, juris), der im Rahmen seiner Entscheidung dem Landgericht zusteht.

Die vorliegend getroffene Entscheidung bewegt sich im Rahmen dieses Beurteilungsspielraumes, Die Strafkammer hat - auch unter Beachtung der ergänzenden Ausführungen im Ver-merk vom 25. Juli 2022 - anhand sachlicher Erwägungen und unter Benennung der für die Strafzumessung bestimmenden Umstände eine nicht zu beanstandende Prognoseentscheidung getroffen. Die Kammer hat unter konkretem Verweis auf die beim Landgericht Leipzig für vergleichbare Fälle bestehende Spruchpraxis nachvollziehbar dargelegt, welche Einzelstrafen zu erwarten sein werden. Zwar binden in anderen Verfahren verhängte Einzelstrafen die Strafkammer für ihre Urteilsfindung nicht. Gleichwohl ist die Orientierung am im Gerichtsbezirk für vergleichbare Taten üblicherweise verhängten Strafmaß ein geeignetes Beurteilungskriterium für die zu treffende Prognose, Es bewegt sich deshalb im Rahmen des der Kammer zustehenden Beurteilungsspielraums, wenn diese unter Beachtung der im Vergleich zu anderen Verfahren deutlich geringeren Betäubungsmittelmengen der ,,weichen Droge" Marihuana, vor dem Hintergrund, dass der Angeklagte zwar nicht geständig, aber bislang auch nicht vorbestraft ist, Einzelstrafen von deutlich unter drei Jahren erwartet. Dass das Landgericht schließlich bei den innerhalb nur eines Monats liegenden Tatzeitpunkten für eine im verurteilungsfall zu bildende Gesamtstrafe auf einen engen zeitlichen, sachlichen und situativen Zusammenhang abstellt und unter Beachtung der seit Tatbegehung vergangenen Zeit eine Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als vier Jahren nicht prognostiziert, überschreitet die Grenze des Beurteilungsspielraums ebenfalls nicht.

b) Die Zuständigkeit des Landgerichts ergibt sich auch nicht aus § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG, weil die Staatsanwaltschaft wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Bedeutung des Falles Anklage beim Landgericht erhoben hätte.

Voraussetzung des § 24 Abs, 1 Satz 1 Nr. 3 GVG ist grundsätzlich, dass die Staatsanwaltschaft gerade wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Bedeutung der Sache zum Landgericht anklagt. Die Vornahme dieser Einschätzung hat sie regelmäßig in der Anklageschrift darzulegen. Mitzuteilen sind die Umstände, aus denen die Staatsanwaltschaft den besonderen Umfang oder die besondere Bedeutung der Sache ableitet. Etwas anderes gilt nur, wenn die Anknüpfungspunkte dafür bereits offensichtlich sind (vgl. Beck-OK GVG, a.a.O., Rn. 18; BGH, Beschluss vom 10. Februar. 1998 - 1 StR 760/97; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Auflage 2022, § 24 GVG, Rn. 5; RiStBV Nr. 113 Abs. 2). Vorliegend wäre die Staats-anwaltschaft zu solchen Ausführungen verpflichtet gewesen, da sich unter Beachtung des Ausnahmecharakters des § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GVG ein besonderer Umfang oder eine besondere Bedeutung der Sache nicht aufdrängen.

Ungeachtet dessen ist der Senat nicht gehindert, die Eröffnungsentscheidung des Landgerichts auch unter diesem Gesichtspunkt zu überprüfen. Denn der „besondere Umfang" und die „besondere Bedeutung des Falles" sind unbestimmte Rechtsbegriffe, die der gerichtlichen Nachprüfung unterliegen. Insofern hat die Staatsanwaltschaft auch keinen Beurteilungs- oder -Ermessensspielraum für eine Anklageerhebung zum Landgericht (vgl. BVerfGE 9, 223 (227), Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rn. 7). Auf ihre sofortige Beschwerde, mit der sie auch auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GVG abstellt, ist deshalb die umfassende Überprüfung der Zuständigkeitsentscheidung möglich (vgl. KG Berlin, Beschluss -vom 27. September 2004 - 5 Ws 255/04; OLG Hamburg, Beschluss vom 4. März 2005 - 2 Ws 22/05; Schuster in Münchener Kommentar, StPO, 1. Aufl. 2018, § 24 GVG, Rn. 5).

Im Ergebnis. dieser Überprüfung sind weder ein besonderer Umfang noch eine besondere Bedeutung der vorliegenden Sache im Sinne von § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG gegeben.

Ein besonderer Umfang der Sache kann sich in einer Gesamtschau aus der Zahl der Angeklagten, der Zahl der vorgeworfenen Taten, aus dem Umfang des Aktenmaterials und der zu erwartenden Beweisaufnahme und Verfahrensdauer ergeben (vgl. Beck-OK GVG, Rn. 14, OLG Karlsruhe, StV 2011, 614; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rn. 7). Die besondere Bedeutung der Sache kann auf rechtlichen oder tatsächlichen Gründen beruhen, wobei das Ausmaß der Rechtsverletzung, die Auswirkungen der Straftat, eine Erhöhung des Unrechtsgehalts durch eine herausragende Stellung des Angeklagten oder des Verletzten in den Blick zu nehmen ist. Im Ergebnis dieser Betrachtung muss schließlich beurteilt werden, ob es sich um ein Verfahren handelt, welches sich aus der Masse der durchschnittlichen Strafsachen (auch im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität) heraushebt oder es um die Entscheidung einer für eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle bedeutsame Rechtsfrage geht (vgl. Beck-OK GVG, a.a.O., Rn. 16, Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rn. 8).

Solche Umstände liegen für das hiesige Verfahren, das einer Einzelfallbetrachtung zu unter-ziehen ist, nicht vor. Dies gilt auch unter Beachtung dessen, dass es sich um ein Verfahren aus den „Encrochat-Fällen handelt. Die Sachakten bestehen derzeit aus lediglich zwei Leitzordnem Sachakten mit insgesamt 573 Seiten sowie neun Sonderbänden (sechs Leitzordner und drei Aktenbände). Bedeutsame Rechtsfragen sind geklärt (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 — 5 StR 457/21; OLG Dresden, Beschluss vom 16. Juni 2021 -3 Ws 37/21 und Beschluss vom 25. August 2021 - 3 Ws 63/21; OLG Delle Beschluss vom 12. August 2021 — 2 Ws 250121).


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