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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Unfähigkeit zur Selbstverteidigung, Zweifel

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Stralsund, Beschl. v. 20.01.2023 – 26 Qs 258/22

Eigener Leitsatz:

§ 140 Abs. 2 StPO hat bereits dann Anwendung zu finden, wenn an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung erhebliche Zweifel bestehen.


Landgericht Stralsund

Beschluss

In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.

Verteidiger;
Rechtsanwalt

wegen Bedrohung

hier: sofortige Beschwerde der Beschuldigten pp.

hat das Landgericht Stralsund - 26. Kammer (Große Strafkammer und Strafbeschwerdekammer) - durch die unterzeichnenden Richter am 20. Januar 2023 beschlossen:

1. Auf die sofortige Beschwerde der Beschuldigten vom 09.12.2022 wird der Beschluss des Amtsgerichts Stralsund vom 29.11.2022 (Az.: 332 Gs 1870/22 = 554 Js 21654/22) aufgehoben.
2. Der Beschuldigten wird Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet.

Gründe:

Mit Schriftsatz vom 27.10.2022 (BI. 50 d. A.) beantragte der Wahlverteidiger Rechtsanwalt pp. (unter der für diesen Fall angekündigten Niederlegung des Wahlmandats) der unter paranoider Schizophrenie (F20.0) leidenden Beschuldigten in dem gegen sie geführten Ermittlungsverfahren (554 Js 21654/22) der Staatsanwaltschaft Stralsund als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden. Dem Schriftsatz waren entsprechende Unterlagen zum Nachweis der Erkrankung beigefügt (Behandlungsbericht des MediClin Müritz-Klinikum vom 16.11.2011 [BI. 52 f. d. A.], ärztliches Attest der Universitätsmedizin Greifswald vom 02.01.2017 [BI. 56 d. A], Feststellungsbescheid des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Mecklenburg-Vorpommern vom 10.09.2015 [BI. 57 d. Al), die hinsichtlich der weiteren Einzelheiten in Bezug genommen werden.

Mit Vorlageverfügung vom 21.11.2022 (BI. 59 R d. A) beantragte auch die Staatsanwaltschaft die Beiordnung Rechtsanwalts Riemer als Pflichtverteidiger gern. § 140 Abs. 2 StPO.

Mit angefochtenem Beschluss vom 29.11.202 (BI. 61 d. A.) lehnte das Amtsgericht Stralsund (Az.: 332 Gs 1870/22 = 554 Js 21654/22) den Beiordnungsantrag ab. In der Begründung führte das Amtsgericht aus, dass die Voraussetzungen nach § 140 Abs. 2 StPO weder vorgetragen noch ersichtlich seien.

Nach Erhebung der sofortigen Beschwerde hiergegen (BI. 68 d. A.) durch Schriftsatz vom 09.12.2022 reichte Rechtsanwalt Riemer im Beschwerdeverfahren weitere ärztliche Unterlagen (u.a. Kurzarztbrief der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charite [Bl. 76 d. A] vorn 03.08.2018 und ein fachärztliches Attest des PD Dr. med. Dr. phil. pp. vom 25.05.2021 [BI. 78 d. A.]), die hinsichtlich des Inhalts in Bezug genommen werden. Rechtsanwalt Riemer teilte überdies mit Sct4iftsatz vom g501.2023 u.a. mit, dass die weiterhin unter paranoider Schizophrenie leidende Beschuldigte nicht in der Lege sei, Sachverhalte inhaltlich mit eigenen Erinnerungen hinsichtlich der Tatzeiträume zu verbinden und kommunikativ eingeschränkt sei (u.a. kein Blickkontakt), wobei es ihr nicht gelinge, konkrete Akteninhalte auf Vorhalt zeitlich einzuordnen und zu bewerten.

Die Staatsanwaltschaft hat die Verwerfung des Rechtsmittels beantragt (BI. 69 R d. A.).

II.

Die zulässige sofortige Beschwerde der Beschuldigten hat auch in der Sache Erfolg. Die Beiordnung Rechtsanwalts pp. als Pflichtverteidiger ist wegen anzunehmender Unfähigkeit zur Selbstverteidigung gern. § 140 Abs. 2 StPO geboten.

Die Mitwirkung eines Verteidigers ist gern. § 140 Abs. 2 StPO immer dann erforderlich, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Beschuldigte aus in seiner Person liegenden Gründen (geistige Fähigkeiten, Gesundheitszustand, sonstige Umstände; BVerfG StV 2021, 213 (216 f.); KG BeckRS 2016, 04227; StV 1985, 448; OLG Hamburg NStZ 1984, 281; OLG Hamm NJW 2003, 3286; LG Nürnberg-Fürth StraFo 2022, 103; LG Flensburg BeckRS 2013, 10662; LG Limburg NStZ-RR 2013, 87) nicht in der Lage sein wird, alle Möglichkeiten einer sachgemäßen Verteidigung zu nutzen (SK-StPO/Wohlers Rn. 46). Die Verteidigungsfähigkeit setzt dabei mehr voraus als die bloße Verhandlungsfähigkeit (OLG Düsseldorf NJW 1964, 877).

Unfähig, sich selbst zu verteidigen, ist der Beschuldigte, wenn auf Grund äußerer oder in seiner Person begründeter Umstände erhebliche Zweifel daran bestehen, dass er im Stande ist, seine Interessen zu wahren, insbesondere der Verhandlung zu folgen und - über die Hauptverhandlung hinaus - alle einer sachgerechten Verteidigung dienenden Handlungen vorzunehmen. Erhebliche kognitive Einschränkungen können die Annahme des § 140 Abs. 2 StPO dabei nahelegen. Die Beeinträchtigung muss sich dabei nicht notwendig im pathologischen Bereich bewegen (MüKoStPO/Kämpfer/Travers , 2. Aufl. 2023, StPO § 140 Rn. 49).

Nicht jedes seelische Gebrechen führt jedoch ohne Weiteres zu einer Unfähigkeit zur Selbstverteidigung; es kommt vielmehr auf Art und Grad der jeweiligen Einschränkung an. Bei psychischen Beeinträchtigungen ist die Art und der Grad der Beeinträchtigung entscheidend; geeignet zur Bejahung der Unfähigkeit zur Selbstverteidigung sollen dabei insbesondere Fälle schizophrener Erkrankungen sein (MüKoStPO/Kämpfer/Travers, 2. Aufl. 2023, StPO § 140 Rn. 49 m.w.N.).

Zwar kommt es aus Sicht der Kammer bei der Prüfung der Selbstverteidigungsfähigkeit i.S.v. § '140 Abs. 2 StPO nicht allein maßgeblich auf die gestellte Behandlungsdiagnose, sondern vielmehr auf die sich konkret daraus ergebenden kognitiven Einschränkungen und deren Auswirkungen auf die Fähigkeit zur Vornahme sachgerechter Verteidigungshandlungen an. Zweifel könnten sich vorliegend insofern daraus ergeben, dass die (ursprünglich) eingereichten Behandlungsunterlagen, aus denen sich hinsichtlich der Symptomatik klare Anhaltspunkte für eine fehlende Verteidigungsfähigkeit ergeben (Sinnestäuschungen/Halluzinationen, selbstschädigendes Verhalten, Konzentrationsprobleme, ungeordnete Gedankenausbrüche), zeitlich einige Jahre zurückreichen (die zunächst eingereichten Unterlagen datieren auf die Jahre 2011, 2015, 2017), sodass eine Überprüfung der gegenwärtigen Einschränkungen zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Beiordnung nicht möglich war.

Gleichwohl hat § 140 Abs. 2 StPO bereits dann Anwendung zu finden, wenn an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung erhebliche Zweifel bestehen (OLG Frankfurt a.M. StV 1984, 370; Mey-er-Goßner/Schmitt, StPO, § 140 Rn. 30a). Dies ist vorliegend - im Hinblick auf die ergänzend eingereichten Behandlungsunterlagen jüngeren Datums und die vor diesem Hintergrund plausibel erscheinenden Angaben des Verteidigers bezüglich des aktuellen Verhaltens der Beschuldigten der Fall.

Der Verteidiger beschreibt kommunikative und kognitive Einschränkungen der Beschuldigten, die es fraglich erscheinen lassen, dass diese selbständig zur ordnungsgemäßen Wahrnehmung ihrer Verteidigungsrechte im Stande ist. Auch die Mutter der Beschuldigten hat in ihrer polizeilichen Vernehmung vom 11.04.2022 (BI. 30 d. A.) bekundet, dass die Beschuldigte „krank" sei und „wenn sie in diese Phase rutscht, nicht mehr weiß, was sie tut, es ist alles in ihrem Kopf".

Neben der (durch die Befundunterlagen dokumentierten) Erkrankung der paranoiden Schizophrenie wird in dem fachärztlichen Attest vom 25.05.2021 (BI. 78 d. A.) zudem auf ein bestehendes Asperger-Syndrom und daraus resultierende erhebliche Konzentrationsschwierigkeiten im Zusammenhang mit einer extremen Geräuschempfindlichkeit hingewiesen. Das Asperger-Syndrom ist überdies nicht heil-, sondern lediglich therapierbar (vgl. DÄ 2007, S. 566). Vor dem Hintergrund dieser jüngeren Dokumentation der durchaus erheblichen kognitiven Einschränkungen der Beschuldigten und der in diesem Zusammenhang plausibel erscheinenden Darlegungen des Rechtsanwalts hinsichtlich der auch ihm gegenüber zutage tretenden Kommunikationsschwierigkeiten mit der Beschuldigten sowie der augenscheinlichen Nähe zu §§ 20, 21 StGB, bestehen jedenfalls erhebliche Zweifel an der Verteidigungsfähigkeit, sodass unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensfairness der Wahlverteidiger zwingend gern. § 140 Abs. 2 StPO beizuordnen ist.

Wird die Mitwirkung eines Verteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO für notwendig erachtet, umfasst sie das gesamte Verfahren (OLG Düsseldorf MDR 1984, 669; MüKoStPO/Thomas/Kämpfer Rn. 8; SSW StPO/Beulke Rn. 4). Erfasst ist — nach neuer Rechtslage — auch das Ermittlungsverfahren (BeckOK StPOIKrawczyk , 45. Ed. 1.10.2022, StPO § 140 Rn. 3).


Einsender: RA S. Riemer, Greifswald

Anmerkung:


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