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Entscheidungen

StPO

Arrest, weitere Beschwerde, erheblicher Zeitablauf

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 17.05.2023 – 12 Qs 16/23

Leitsatz des Gerichts:

1. Die auf weitere Beschwerde ergangene Bestätigung eines Arrestes entfaltet materielle Rechtskraft nur insoweit, als sich die zugrundeliegenden Verhältnisse nicht derart ändern, dass der Bestätigung die Grundlage entzogen wird.
2. Erheblicher Zeitablauf kann ein Novum darstellen, das eine von der Bestätigung abweichende Sachentscheidung rechtfertigt.


In pp.

1. Auf die Beschwerde der Verteidigerin wird der Arrestbeschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 17.05.2018 - 57 Gs 4549/18 - aufgehoben.
2. Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin.

Gründe

I.

Am 19. Mai 2017 wurde der Beschuldigte, ein italienischer Staatsbürger mit Wohnsitz in Italien, von Beamten des Zollfahndungsamtes M einer Kontrolle unterzogen. Dabei wurde bei ihm Bargeld gefunden und vorläufig sichergestellt. Das Zollfahndungsamt informierte die italienischen Behörden hierüber; tatsächlich führte da bereits die Staatsanwaltschaft A (Italien) gegen den Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen Steuerhinterziehung. Am 17. Mai 2018 erließ das Amtsgericht Nürnberg in Erfüllung des daraufhin eingegangenen italienischen Rechtshilfeersuchens einen Arrestbeschluss gegen den Beschuldigten über 249.050 €. Auf dessen Grundlage wurde das sichergestellte Bargeld i.H.v. 200.000 € gepfändet. Die Verteidigerin des Beschuldigten beschwerte sich gegen den Arrest. Am 22. Januar 2019 verwarf das Oberlandesgericht Nürnberg ihre weitere Beschwerde schließlich als unbegründet.

Am 10. Januar 2023 stellte die Verteidigerin beim Amtsgericht Nürnberg erneut den Antrag, den Arrestbeschluss aufzuheben. Das lehnte das Amtsgericht ab. Der Antrag sei unzulässig, weil der Arrestbeschluss vom 17. Mai 2018 durch Ausschöpfung des Rechtswegs in materielle Rechtskraft erwachsen sei und keine neuen Tatsachen vorlägen, die dessen Abänderung rechtfertigen.

Dagegen legte die Verteidigerin Beschwerde ein. Zur Begründung führte sie aus, das Geld sei nunmehr schon über Jahre gepfändet, ohne dass eine Entscheidung hierüber getroffen wäre. Bei einer Gesamtabwägung der widerstreitenden Interessen müsse der Arrest namentlich wegen des Zeitablaufs nunmehr aufgehoben werden. Das Amtsgericht half der Beschwerde nicht ab. Die Staatsanwaltschaft beantragt, sie zu verwerfen.

II.

Die Beschwerde ist statthaft und auch im Übrigen zulässig erhoben. Sie ist auch begründet.

1. Die Kammer konnte die Sache nicht dem Oberlandesgericht Nürnberg gem. § 61 Abs. 1 Satz 1 IRG (i.V.m. § 61 Abs. 1 Satz 3, § 33 Abs. 1 IRG) vorlegen, weil die Voraussetzungen der Vorlagepflicht nicht erfüllt waren. Sie musste daher selbst entscheiden.

a) Die Kammer muss das Oberlandesgericht anrufen, wenn sie die Voraussetzungen für die Leistung der Rechtshilfe als nicht gegeben erachtet (§ 61 Abs. 1 Satz 1 IRG). Gegenstand der Entscheidung des Oberlandesgerichts ist die Leistungsermächtigung, d.h. die Frage nach dem Vorliegen der Voraussetzungen des „Ob“ der Leistung von Rechtshilfe nach außen gegenüber dem ersuchenden Staat. Für Entscheidungen, die allein die innerstaatlichen Voraussetzungen der Hilfeleistung betreffen (Vornahmeermächtigung), ist das Oberlandesgericht dagegen unzuständig. Die Rechtsmittel richten sich dann über § 77 IRG nach der einschlägigen Verfahrensordnung (OLG Koblenz, Beschluss vom 23. Januar 2012 - 1 Ausl S 184/11, juris Rn. 19; OLG Dresden, Beschluss vom 30. November 2010 - OLG Ausl 74/10, juris Rn. 8 f., je m.w.N.; BT-Drs. 9/1338, S. 82), hier also nach der Strafprozessordnung. Die Kammer hat in diesem Fall kein Recht, die Sache dem Oberlandesgericht vorzulegen (OLG Stuttgart, Beschluss vom 3. Februar 2015 - 1 Ausl 466/14, juris Rn. 14; Güntge in Ambos/König/Rackow, Rechtshilferecht in Strafsachen, 2. Aufl., § 61 IRG Rn. 51). So liegen die Dinge hier.

Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der innerstaatlichen Umsetzung der Rechtshilfe betrifft zunächst die Vornahmeermächtigung, weil strafprozessuale Eingriffsmaßnahmen stets am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen sind (vgl. Lagodny/Zimmermann, in Schomburg/Lagodny, Int. Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., § 61 IRG Rn. 11). Allerdings kann auch die Leistungsermächtigung insoweit berührt sein, als Wertungen des ersuchenden Staats zum Gewicht der betreffenden Tat zu berücksichtigen sind. Letztere darf nicht nur als geringfügig zu bewerten sein, weil andernfalls die Rechtshilfe unzulässig wäre (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10. September 1990 - 1 Ws 800/90, NJW 1991, 647; Lagodny/Zimmermann, aaO; Trautmann/Zimmermann, ebenda, § 59 IRG Rn. 65; Johnson in Grützner/Pötz/Kreß/Gazeas, Int. Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 133. EL 10/2022, § 58 IRG Rn. 9).

b) Das Oberlandesgericht Nürnberg hat im Rahmen seiner Beschwerdeentscheidung vom 22. Januar 2019 (Ws 778/19) festgestellt, dass die formellen und materiellen Voraussetzungen der Leistung der Rechtshilfe gegeben waren und dass die Verhältnismäßigkeit des Arrestes gewahrt war. Die Kammer stellt das nicht infrage. Die dem Beschuldigten vorgeworfene Steuerhinterziehung in Italien ist danach eine hinreichend gewichtige Straftat, die die Leistung der Rechtshilfe durch Anordnung eines Arrestes rechtfertigt, sodass die Leistungsermächtigung gegeben ist. Die Kammer meint allerdings, dass der Arrest – bei voller Beachtung des Gewichts der vorgeworfenen Steuerhinterziehung – infolge des inzwischen eingetretenen Zeitablaufs unverhältnismäßig geworden ist (dazu unter 4). Das betrifft die Ebene der Vornahmeermächtigung, weil die Zulässigkeit der Vollzugsdauer eine innerstaatliche Voraussetzung für die weitere Aufrechterhaltung des Arrestes bildet, die herkömmlich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit geprüft wird (vgl. Köhler in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 111e Rn. 18 m.w.N.).

2. Die Kammer hat – vermittelt über die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth – die Staatsanwaltschaft A gem. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 Rahmenbeschluss 2003/577/JI des Rates vom 22. Juli 2003 [RB-Sicherstellung] über ihre Rechtsauffassung, wonach der Arrest infolge Zeitablaufs unverhältnismäßig geworden ist, unterrichtet und ihre Absicht avisiert, ihn deshalb aufzuheben. Zugleich erhielt die Staatsanwaltschaft A Gelegenheit, hiergegen Bemerkungen vorzubringen (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 RB-Sicherstellung). Der RB-Sicherstellung ist hier anwendbar (vgl. Art. 40 Abs. 2 Verordnung (EU) 2018/1805 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018). Art. 6 Abs. 2 RB-Sicherstellung ermöglicht es, dem vorläufigen Charakter der Sicherstellung oder des Arrestes Rechnung zu tragen, indem der Vollstreckungsstaat (hier Deutschland) deren Dauer nach Maßgabe seines innerstaatlichen Rechts begrenzt, weil die Beschlagnahme von Vermögensgegenständen die wirtschaftliche Freiheit des Betroffenen erheblich beeinträchtigen kann. Die Staatsanwaltschaft A hat sich in gesetzter Frist nicht geäußert.

3. Der Sachentscheidung der Kammer steht die Rechtskraft des Beschlusses des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 22. Januar 2020 nicht entgegen. Dieser ist zwar formell rechtskräftig; seine materielle Rechtskraft steht jedoch unter dem Vorbehalt der Abänderbarkeit.

Formelle Rechtskraft liegt vor, wenn eine Entscheidung mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbar ist. Materielle Rechtskraft führt demgegenüber zu einer Sperrwirkung in dem Sinne, dass der Gegenstand der getroffenen gerichtlichen Sachentscheidung nicht erneut zum Gegenstand einer neuen Sachentscheidung gemacht werden kann (vgl. Beulke in SSW-StPO, 5. Aufl., Einleitung Rn. 341 f.). Die auf weitere Beschwerde (§ 310 Abs. 1 Nr. 3 StPO) ergangene Entscheidung des Oberlandesgerichts über einen Arrest erwächst zwar in formelle, aber nur eingeschränkt auch in materielle Rechtskraft. Ändern sich die zugrundeliegenden Verhältnisse nämlich derart, dass der ursprünglichen Entscheidung die Grundlage entzogen wird, kann der Arrest später aufgehoben werden (vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., Einleitung Rn. 166). Für den zivilprozessualen Arrest ist das ausdrücklich in § 927 Abs. 1 ZPO geregelt (vgl. G. Vollkommer in Zöller, ZPO, 34. Aufl., Vorbemerkungen zu §§ 916-945b Rn. 13). Beim strafprozessualen Arrest gilt nichts anderes. Der Annahme umfassender materieller Rechtskraft steht der vorläufige Charakter des Arrestes entgegen. Jede zum Arrest getroffene Entscheidung ist gleichsam eine Momentaufnahme und die Anforderungen an die Rechtfertigung seiner Aufrechterhaltung steigen mit der Dauer seines Vollzugs (BVerfG, Beschluss vom 17. April 2015 - 2 BvR 1986/14, juris Rn. 12; OLG Nürnberg, Beschluss vom 31. August 2021 - Ws 718/21, juris Rn. 14; OLG Hamm, Beschluss vom 23. Juni 2022 - III-5 Ws 94/22, juris Rn. 33). Gegenstand der neu vorzunehmenden Sachprüfung ist demgemäß auch nicht Frage der ursprünglichen Rechtmäßigkeit des Arrestes, sondern die Frage, ob der Arrest im Zeitpunkt der jetzt anstehenden Entscheidung noch rechtmäßig ist.

4. Der Arrest war aufzuheben, weil er nicht mehr als verhältnismäßig angesehen werden konnte (zum Übermaßverbot als Maßstab vgl. Köhler in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 111e Rn. 8 f. m.w.N.).

Entgegen der Annahme des Amtsgerichts stellt allein schon der Zeitablauf, der seit der Entscheidung des Oberlandesgerichts Nürnberg eingetreten ist, ein Novum dar, das zur neuen Sachentscheidung über den Arrest berechtigt. Es trägt eine neue – negative – Bewertung seiner Verhältnismäßigkeit. Dem Beschuldigten ist das gepfändete Geld seit nunmehr sechs Jahren (vorläufig) entzogen. Es wurde am 19. Mai 2017 vorläufig sichergestellt. Der Arrestbeschluss, der am 17. Mai 2018 vom Amtsgericht Nürnberg erlassen wurde und der seitdem vollzogen wird, besteht seit fünf Jahren. Das Oberlandesgericht hat den Sachverhalt am 22. Januar 2019 beurteilt. In der ganzen Zeit ist keine Entscheidung eines italienischen Gerichts ergangen, die zu einer Übergabe des gepfändeten Geldes nach Italien berechtigen würde. Die Anfragen der hiesigen Staatsanwaltschaft wurden von italienischer Seite entweder nicht beantwortet oder die von dort angekündigten Erledigungstermine sind fruchtlos verstrichen. So erhielt die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth am 23. Mai 2019 die Mitteilung, gegen den Beschuldigten sei in Italien Anklage erhoben worden und am 11. Juni 2019 solle seine erste gerichtliche Anhörung stattfinden. Die Sachstandsanfragen vom 5. Dezember 2019 und 4. März 2020 blieben unbeantwortet. Am 18. Mai 2020 teilte die italienische Seite mit, die Sache sei noch bei Gericht und es sei nicht mit einem Abschluss vor Ende des Jahres zu rechnen. Am 17. Februar 2021 teilte sie mit, es sei mit einem Verfahrensabschluss im Januar 2022 auszugehen. Am 10. Oktober 2021 fragte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth an, ob die italienischen Behörden ein Ersuchen nach Art. 10 Abs. 1 RB-Sicherstellung stellen wollen. Diese antworteten darauf nicht, ließen aber am 15. Dezember 2021 wissen, weitere Gerichtstermine seien im Zeitraum Januar bis März 2022 angesetzt, sodass ein Verfahrensabschluss im April 2022 möglich sei. Am 13. September 2022 wiederholte die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth ihre Anfrage. Am 6. Dezember 2022 ging eine Mitteilung der Staatsanwaltschaft A ein, wonach die gerichtliche Anhörung des Beschuldigten am 6. und 20. Dezember 2022 fortgesetzt werden solle, allerdings sei damit zu rechnen, dass die Einziehungsentscheidung wegen voraussichtlicher Rechtsmittel nicht vollstreckbar sein würde. In einer Mitteilung der italienischen Behörden vom 15. Februar 2023 hieß es, ein Urteil solle am 7. März 2023 ergehen. Seitdem gingen hier keine weiteren Informationen ein. Die Aufrechterhaltung des Arrestes war nach alldem am Maßstab des deutschen Rechts nicht mehr zu rechtfertigen (Beispiele zur zulässigen Dauer des Arrestes bei Cordes, NZWiSt 2021, 45, 49 f. m.w.N.).

5. Die Kammer hat eine aufgrund des Arrestes ausgebrachte Forderungspfändung bereits aufgehoben (Beschluss vom 22. Februar 2023 - 12 Qs 75/22, juris, dazu instruktiv Bittmann, ZWH 2023, 81); nun wird auch gepfändete Bargeld auszukehren sein.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 467 StPO.


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