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Entscheidungen

OWi

Einsicht, Messunterlagen, Umfang, Bußgeldverfahren

Gericht / Entscheidungsdatum: AG Lippstadt, Beschl. v. 03.07.2023 - 7 OWi-32 Js 876/23-125/23

Eigener Leitsatz:

Dem Betroffenen/Verteidiger sind nach einer Messung mit einem standardisierten diejenigen Aktenbestandteile zur Verfügung zu stellen, die sich nicht bei der Verfahrensakte befinden, um mit ihrer Hilfe einen Überblick über die für die Verteidigung ggf. relevanten Informationen zu gewinnen, und das Messergebnis eigenständig überprüfen zu können.


7 OWi-32 Js 876/23-125/23
Amtsgericht Lippstadt

Beschluss

In dem Bußgeldverfahren
gegen pp.

Verteidiger:

hat das Amtsgericht Lippstadt durch den Richter pp. am 03. Juli 2023 beschlossen:

Die Verwaltungsbehörde wird angewiesen, dem Verteidiger folgende Unterlagen zur Verfügung zu stellen, soweit noch nicht oder nicht vollständig erfolgt:
Kopie der die gesamte Messserie vom 20.10.2022 von 10:00 Uhr bis 14:45 Uhr betreffenden Messdateien nebst Signaturschlüsseln.
Für den Fall, dass es nicht möglich sein sollte, die vorbezeichneten Unterlagen zu übersenden, wird die Verwaltungsbehörde angewiesen, dem Verteidiger hierüber schriftlich Auskunft zu erteilen.
Die Verwaltungsbehörde wird ferner angewiesen, dem Verteidiger Auskunft darüber zu erteilen, ob und ggf. welche Reparaturen, Wartungen, Eingriffe oder vergleichbare Maßnahmen an dem Messgerät ESO ES 3.0, Ident.-Nr. 5476 seit der am 16.05.2022 erfolgten Eichung vorgenommen worden sind. Beizufügen sind sämtliche diesbezüglich vorhandenen Dokumente, etwa Wartungszertifikate, Reparaturnachweise, etc.
Für den Fall, dass seit dem 16.05.2022 keine Reparaturen, Wartungen, Eingriffe oder vergleichbare Maßnahmen an dem Messgerät ESO ES 3.0, Ident.-Nr. 5476 vorgenommen worden sein sollten, wird die Verwaltungsbehörde angewiesen, dem Verteidiger hierüber schriftlich Auskunft zu erteilen und sämtliche diesbezüglich vorhandenen Dokumente (,Lebensakte', Geräteakte', etc.) im Sinne eines Negativattests beizufügen.
Für den Fall, dass über das Messgerät ESO ES 3.0, Ident.-Nr. 5476 keinerlei Unterlagen geführt werden, wird die Verwaltungsbehörde angewiesen, dem Verteidiger hierüber schriftlich Auskunft zu erteilen.
Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Betroffenen fallen, soweit sie den Antrag auf gerichtliche Entscheidung betreffen, der Landeskasse zur Last.

Gründe:

1. Unter dem 06.12.2022 hat die Landrätin des Kreises Soest (im Folgenden: Verwaltungsbehörde) einen Bußgeldbescheid gegen den Betroffenen erlassen, demzufolge dieser am 20.10.2022 um 12:58 Uhr die örtlich zulässige Höchstgeschwindigkeit (70 km/h) im Bereich der Landesstraße 856 in Lippstadt, Höhe Lohner Warte, Fahrtrichtung Schmerlecke um 27 km/h überschritten haben soll.

Hiergegen hat der Betroffene mit anwaltlichem Schriftsatz vom 13.12.2022 Einspruch eingelegt. Zugleich hat er Akteneinsicht beantragt, und folgende Unterlagen zur Einsicht erbeten:
o Messprotokoll/Einsatzprotokoll
o Eichschein
o Schulungsbescheinigung
o Gebrauchsanweisung (und zwar auch für etwaige Sonderbauten)
o Lebensakte
o Falldatensatz (ESO 3.0 und 8.0)

Nach Übersendung der vorbezeichneten Unterlagen beauftragte der Betroffene die VUT Sachverständigen GmbH & Co. KG mit der Erstellung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens. Hierzu forderte der Sachverständige - Herr S.- per E-Mail vom 14.02.2023 ergänzend die nachfolgenden Unterlagen an:

o Konformitätsbescheinigung
o Konformitätserklärung
o Wartungs- und Reparaturhinweise nach § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG
o Fotoliniendokumentation als Falldatei im eso-Format
o alle Falldateien des Messeinsatzes im eso-Format
o Statistikdatei mit der Bezeichnung ES30Stat_...txt
o Rohmessdaten, d. h. die digitalisierten, unselektierten, nicht von einem Algorithmus verarbeiteten Messsignale

Mit Schreiben vom 16.03.2023 hat die Verwaltungsbehörde erklärt, dass die Konformitätserklärung beim zuständigen Eichamt verbleibe und ihr deshalb nicht zur Verfügung stehe. Bis zuletzt sind die Unterlagen nicht vollständig übermittelt worden.

Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 17.04.2023, eingegangen bei der Verwaltungsbehörde, hat der Betroffene einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG gestellt. Die Verwaltungsbehörde hat das Verfahren an die Staatsanwaltschaft Paderborn abgegeben, ohne den vorbezeichneten Antrag zunächst dem Gericht zur Entscheidung zuzuleiten. Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 16.06.2023 hat der Betroffene erklärt, dass er an seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung festhalte.

2. Der nach § 62 Abs. 1 OWiG zulässige Antrag ist begründet.

a) Dem Betroffenen - wie auch seinem Verteidiger - steht aufgrund des verfassungsrechtlich verbürgten Rechts auf ein faires Verfahren ein erschöpfendes Akteneinsichtsrecht zu, das aus Art. 20 Abs. 3 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland abgeleitet und einfachgesetzlich durch Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention i. V. m. § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 147 Abs. 1, Abs. 4 StPO ausgestaltet wird.

Entgegen dem insoweit nicht abschließenden Wortlaut, der lediglich die dem Gericht vorliegenden oder vorzulegenden (§ 69 Abs. 4 S. 2 OWiG) Akten in Bezug nimmt, sind vom Akteneinsichtsrecht auch jene amtlichen Unterlagen erfasst, die zwar kein originärer Bestandteil der Verfahrensakte sind, jedoch aus Sicht der Verteidigung für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt werden (siehe BVerfG, Kammerbeschluss vom 12.11.2020, Az. 2 BvR 1616/18; OLG Koblenz, Beschluss vom 20.05.2020, Az. 2 OWi 6 SsRs 118/19 m. w. N.). Hierunter subsumieren in Bußgeldverfahren, denen eine Verkehrsordnungswidrigkeit zugrunde liegt, auch die den Eichzeitraum betreffenden Wartungs- und Instandsetzungsnachweise (sog. ‚Lebensakte', ,Geräteakte', etc.).

Bei einem standardisierten Messverfahren, wie es auch im Falle des Messgeräts ESO ES 3.0 vorliegt, sind an die Beweisführung des erkennenden Gerichts deutlich reduzierte Anforderungen gestellt. Eine nähere Überprüfung des Messergebnisses ist erst und nur dann veranlasst, sofern tatsachenfundierte Anhaltspunkte für Messfehler virulent geworden sind (siehe BVerfG a. a. 0.). Hieran anknüpfend ist es dem Betroffenen unbenommen, Zweifel an der Richtigkeit des Messergebnisses vorzubringen, alsdann Beweisanregungen zu unterbreiten oder durch explizite Formulierung eines Beweisantrags gestaltend auf das Ergebnis der Beweisaufnahme einzuwirken (siehe BVerfG, Beschluss vom 12.01.1983, Az. 2 BvR 864/81; OLG Bamberg, Beschluss vom 13.06.2018, Az. 3 Ss OWi 626/18). Diese prozessualen Optionen vermag der Betroffene aber nur dann einzulösen, wenn er auch von solchen Inhalten Kenntnis erlangt, die zwar nicht zur Verfahrensakte genommen, aber doch zum Zwecke der Ermittlungen angelegt worden sind (siehe BVerfG, Kammerbeschluss vom 12.11.2020, Az. 2 BvR 1616/18).

In diesem Sinne ist die Verwaltungsbehörde gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG -ungeachtet der Bezeichnung einer solchen Dokumentation (,Lebensakte', ‚Geräteakte', etc.) - verpflichtet, Nachweise über Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe am Messgerät zu erstellen und für den dort genannten Zeitraum aufzubewahren. Gleiches gilt für die weiteren im Tenor bezeichneten Unterlagen.

b) Dies zugrunde gelegt ist der namens des Betroffenen gestellte Antrag des Verteidigers vom 13.12.2022/14.02.2023 dahin auszulegen, dass dieser die Zugänglichmachung derjenigen Aktenbestandteile begehrt, die sich nicht bei der Verfahrensakte befinden, um mit ihrer Hilfe einen Überblick über die für die Verteidigung ggf. relevanten Informationen zu gewinnen, und das Messergebnis eigenständig überprüfen zu können.

Diesem Antrag hat die Verwaltungsbehörde nach Maßgabe der vorstehenden Ausführungen zu entsprechen. Denn es ist - im Interesse einer effektiven Verteidigung - allein Sache des Betroffenen bzw. des Verteidigers, darüber zu befinden, welche Unterlagen zur Überprüfung des Messergebnisses herangezogen werden sollen und welche nicht. Hierzu ist er aber nur dann in der Lage, wenn ihm sämtliche von der Verwaltungsbehörde geführten Aktenbestandteile uneingeschränkt und ohne selektive Vorauswahl zur Verfügung gestellt werden. Wird ihm dagegen ein Teil der Unterlagen von Vornherein vorenthalten, so ist hierin eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung zu erblicken.

So liegt es hier. Die bis anhin zur Einsicht überlassenen Aktenbestandteile sind nicht ausreichend, das eingangs skizzierte Akteneinsichtsrecht des Betroffenen bzw. des Verteidigers vollumfänglich zu erfüllen. Zwar hat die Verwaltungsbehörde die mit anwaltlichem Schriftsatz vom 13.12.2022 erbetenen Unterlagen weitüberwiegend zur Verfügung gestellt. Hinsichtlich der mit Schreiben vom 14.02.2023 angeforderten Unterlagen, insbesondere der Dokumentation gemäß § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG (,Geräteakte') sowie der weiteren Falldateien des Messeinsatzes im eso-Format hat sie dem Ersuchen des Verteidigers hingegen nicht entsprochen. Zu etwaigen Reparaturen oder vergleichbaren Eingriffen, welche ggf. im Zeitraum vom 16.05.2022 bis zum 20.10.2022 vorgenommen worden sein könnten, hat sie sich nicht verhalten. Hieraus lassen sich indes - aus der Perspektive des Betroffenen bzw. des Verteidigers - keine zureichenden Anhaltspunkte dafür entnehmen, welche Unterlagen tatsächlich bei der Verwaltungsbehörde geführt werden, und welche Informationen diese ggf. enthalten (siehe OLG Zweibrücken, Beschluss vom 27.04.2021, Az. 1 OWi 2 SsRs 173/20 m. w. N.).

Aus diesem Grund sind die im Tenor bezeichneten Unterlagen zum Zwecke der Akteneinsicht zur Verfügung zu stellen, jedenfalls aber die Gründe zu benennen, aus denen dies ggf. nicht möglich ist.

4) Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 62 Abs. 2 S. 2 OWiG, 467 Abs. 1 S. 1 StPO analog.

5) Diese Entscheidung ist gemäß § 62 Abs. 2 S. 3 OWiG unanfechtbar.


Einsender: RA G. Burmann, Lippstadt

Anmerkung:


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