Gericht / Entscheidungsdatum: LG Zweibrücken, Beschl. v. 05.09.2023 – 1 Qs 28/23
Eigener Leitsatz:
Die nachträgliche, rückwirkende Bestellung für das im Rechtszug abgeschlossene Verfahren ist rechtswidrig, und zwar auch dann, wenn der Wahlverteidiger bereits rechtzeitig seine Bestellung beantragt hatte.
1 Qs 28/23
Landgericht Zweibrücken
Beschluss
In dem Ermittlungsverfahren
Gegen pp.
Verteidiger:
wegen Beleidigung
hier: sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Zweibrücken
hat die 1. Strafkammer des Landgerichts Zweibrücken durch die Vorsitzende Richterin am Landgericht, den Richter am Landgericht und den Richter am Landgericht am 05.09.2023 beschlossen:
1. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird der Beschluss des Amtsgerichts Zweibrücken vom 29.03.2023 (1 Gs 295/23) aufgehoben.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Landeskasse.
Gründe:
Die Staatsanwaltschaft führte ein Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Beschuldigten we-gen Beleidigung. Mit Schreiben vom 27.12.2022 beantragte sein Rechtsanwalt die Bestellung als Pflichtverteidiger gegenüber der Ermittlungsbehörde. Die zunächst befasste Staatsanwaltschaft Kaiserslautern hat mit Verfügung vom 11.02.2023 das Verfahren an die zuständige Staatsanwaltschaft Zweibrücken abgegeben, die das Verfahren mit Verfügung vom 23.02.2023 übernommen hat. Mit weiterer Verfügung vom gleichen Tag stellte die Staatsanwaltschaft Zweibrücken das Ver-fahren wegen des absoluten Strafverfolgungshindernisses des fehlenden Strafantrags gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein. Zugleich wurde in der Verfügung vermerkt, dass seitens der Staatsanwaltschaft ein Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers gern. § 141 Abs. 2 S. 3 StPO nicht gestellt wird. Auf diese Einstellungsverfügung beantragte der Verteidiger, das Verfahren dem Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Zweibrücken vorzulegen, damit er nunmehr nachträglich als notwendiger Verteidiger dem ehemaligen Beschuldigten beigeordnet wird.
Mit Beschluss vom 29.03.2023 bestellte der Direktor des Amtsgerichts Zweibrücken dem ehemaligen Beschuldigten Rechtsanwalt Philipp pp. als Pflichtverteidiger. Zur Begründung wurde aus-geführt, dass die Voraussetzungen für eine notwendige Verteidigung gern. § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO vorlägen und über den Antrag nicht rechtzeitig entschieden worden sei.
Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Zweibrücken.
Die gemäß § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO statthafte und auch im Ubrigen zulässige sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist begründet.
Der angefochtene Beschluss war aufzuheben, denn er findet keine Rechtfertigung in den §§ 140 ff. StPO. Die vorliegende nachträgliche, rückwirkende Bestellung des Wahlverteidigers, Rechtsanwalt pp. zum Pflichtverteidiger ist rechtswidrig.
Eine nachträgliche, rückwirkende Bestellung für das im Rechtszug abgeschlossene Verfahren wird in der Rechtsprechung überwiegend und mit überzeugender Argumentation als rechtswidrig angesehen und zwar auch dann, wenn der Wahlverteidiger bereits rechtzeitig seine Bestellung beantragt hatte (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Dezember 1996 - 1 StR 76/96 in NStZ 1997, 299 f und vom 27. April 1989 - 1 StR 627/88 in StV 1989, 378; Kammergericht, Beschlüsse vom 9. März 2006 - 1 AR 1407/05 - 5 Ws 563/05 - in StraFo 2006, 200 ff und vom 31. März 2014 - 4 Ws 27/14 - in NStZ-RR 2014, 279; OLG Köln, Beschluss vom 28. Januar 2011 - 111 2 Ws 74/11 - in NStZ-RR 2011, 325; OLG Bamberg, Beschluss vom 15. Oktober 2007 - 1 Ws 675/07 - in NJW 2007, 3796 f; OLG Hamm, Beschluss vom 28. Juni 2007 - 2 Ws 174/07 - in Juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 11. Dezember 2002 - 2 Ws 307/02 in StraFo 2003, 94; LG Berlin, Beschluss vom 21.12.2022- 534 Qs 97/22, zitiert nach beck online).
Die Bestellung eines Pflichtverteidigers dient grundsätzlich nicht dem Kosteninteresse des Beschuldigten oder seines Verteidigers, sondern allein dem Zweck, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass ein Betroffener in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhält und ein ordnungsgemäßer Verfahrensablauf gewährleistet ist (KG, BeckRS 2006, 3283 m.w.N.; KG, Beschluss vom 30. Dezember 2019 - 4 Ws 115/19; OLG Hamburg, Beschluss vom 16. September 2020 - 2 Ws 122/20 - juris). Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Wahlverteidiger seine Verteidigungsleistung aufgrund des Mandatsverhältnisses bei einem endgültig abgeschlossenen Verfahren bereits abschließend erbracht hat, sodass er die mit der Bestellung zum Pflichtverteidiger einsetzende öffentlich-rechtliche Pflicht zum Tätigwerden nicht mehr erfüllen kann. Die Pflichtverteidigerbestellung für ein zurzeit der Bestellung bereits abgeschlossenes Verfahren wäre damit auf eine unmögliche Leistung gerichtet und würde nicht der Gewährleistung einer noch notwendigen ordnungsgemäßen Verteidigung des Beschuldigten, sondern ausschließlich dem verfahrensfremden Zweck dienen, dem Verteidiger für ein bereits abgeschlossenes Verfahren einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 20. Juli 2000 - 1 Ws 206/00 - in juris).
Zwar wird teilweise in der Rechtsprechung und Literatur eine rückwirkende Bestellung dann für zulässig und geboten angesehen, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt sowie vom Gericht nicht, nicht rechtzeitig, ohne Gründe oder fehlerhaft beschieden wurde (vgl. LG Potsdam, Beschluss vom 25. August 2004 - 24 Qs 90/03 - in StraFo 2004, 381; LG Braunschweig, Beschluss vom 28. Dezember 2000 - 43 Qs 52/00 - in StV 2001, 447; LG Saarbrücken, Beschluss vom 26. Februar 2004 - 4 Qs 10/04 - in StV 2005, 82; Satzger/Schluckebier/Widmaier, StPO, 4. Aufl., 2020, § 141 Rn. 39; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., 2022, § 142 Rn. 20). Diese Ansicht überzeugt jedoch nicht, weil sie statt Sinn und Zweck der Vorschriften zur Pflichtverteidiger-bestellung die wirtschaftlichen Interessen des Betroffenen in den Vordergrund stellt. Zu einer anderen Beurteilung von Sinn und Zweck der §§ 140 ff. StPO gibt auch nicht die durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10. Oktober 2019 umgesetzte Richtlinie EU 2016/1919 des europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 - PKH-Richtlinie ¬Anlass. Zwar wird die Ansicht vertreten, die Intention des Gesetzgebers und der PKH-Richtlinie sei es, nicht nur eine ordnungsgemäße Verteidigung zu gewährleisten, sondern gleichermaßen den mittellosen Beschuldigten von den Kosten seiner Verteidigung freizustellen. Dieses Gesetzesziel spreche dafür, eine rückwirkende Bestellung dann als zulässig zu bewerten, wenn trotz des Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 140 f. StPO über den Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung nicht entschieden oder wenn der Antrag ohne Begründung abgelehnt wurde (vgl. Mey-er-Goßner/Schmitt, a.a.O.). Diese Ansicht wird nicht gefolgt. Dem Gesetzgeber war die vorherrschende Meinung zur Rechtswidrigkeit der nachträglichen, rückwirkenden Verteidigerbestellung bekannt. Wenn er durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10. Oktober 2019 diese Auslegung der Vorschriften hätte ändern wollen, so hätte er dies durch eine entsprechende eindeutige Vorschrift oder zumindest im Rahmen der Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gebracht. Dies hat er jedoch nicht getan.
Nach alledem erachtet die Kammer die Mindermeinung für nicht vereinbar mit dem Sinn und Zweck der Regelung zur Pflichtverteidigerbestellung und hält an der gegenteiligen sowie weiterhin zu der neuen Rechtslage überwiegend vertretenen Ansicht (vgl. KG, Beschluss vom 9. April 2020 - 2 Ws 30 - 31/20 - in StraFo 2020, 326; OLG Hamburg StraFo 2021, 486; OLG Bremen NStZ 2021, 253) fest, dass eine nachträgliche rückwirkende Beiordnung nicht in Betracht kommt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.
Einsender: RA P. Feth, Landstuhl
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