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Entscheidungen

KCanG u.a.

KCanG, EncroChat-Kommunikation, Verwertbarkeit

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Hamburg, Beschl. 13.05.2024 - v. 1 Ws 32/24

Leitsatz des Gerichts:

1. Die Rechtmäßigkeit einer Verwertung von EncroChat-Daten vor dem 1. April 2024 wird durch die Neuregelungen des KCanG nicht berührt.
2. Nach Ansicht des Senats sprechen gute Gründe dafür, dass - es für die Verwertbarkeit nach § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO sowohl in tatsächlicher wie auch in rechtlicher Hinsicht auf den Zeitpunkt ankommt, in dem die betroffenen Beweismittel Eingang in das Strafverfahren gefunden haben und dementsprechend- eine Verwertung von EncroChat-Daten, die vor dem 1. April 2024 rechtmäßig in entsprechender Anwendung des § 100e Abs. 6 StPO Eingang in ein Strafverfahren gefunden haben, auch dann zulässig bleibt, wenn nunmehr aufgrund des seit dem 1. April 2024 in Kraft befindlichen Gesetzes zum Umgang mit Konsumcannabis (KCanG) aufgrund des Fehlens einer Katalogtat die Voraussetzungen des § 100e Abs. 6 StPO nicht mehr vorliegen.


In pp.

Die Beschwerde des Angeklagten V. vom 3. April 2024 gegen den Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts Hamburg, Große Strafkammer 26a, vom 20. Februar 2023 (Az.: 626a KLs 14/21) – betreffend die Fortdauer der Untersuchungshaft aus dem Haftbefehl des Amtsgerichts Hamburg vom 22. März 2021 – wird auf Kosten des Beschwerdeführers mit der Maßgabe verworfen, dass der Haftbefehl abgeändert und wie anliegend neu gefasst wird.

Gründe

I.

Die Staatsanwaltschaft Hamburg führt gegen den Angeklagten V. und vier weitere Angeklagte das verfahrensgegenständliche Strafverfahren.

Der Angeklagte wurde am 22. April 2021 festgenommen und befindet sich seitdem aufgrund des auf den dringenden Tatverdacht des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sechs Fällen, der bandenmäßigen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit bandenmäßigem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen sowie eines Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz in Tateinheit mit einem Verstoß gegen das Waffengesetz sowie den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützten Haftbefehls des Amtsgerichts Hamburg vom 22. März 2021 (Az.: 165 Gs 513/21) durchgängig in Untersuchungshaft.

Am 19. Juli 2021 erhob die Staatsanwaltschaft Hamburg Anklage gegen den Beschwerdeführer wegen der haftbefehlsgegenständlichen sowie zwei weiteren Taten zum Landgericht, Große Strafkammer.

Mit Beschluss vom 13. September 2021 ließ die Große Strafkammer 26a die Anklage der Staatsanwaltschaft zu, eröffnete das Hauptverfahren und ordnete Haftfortdauer „aus den zutreffenden und fortbestehenden Gründen“ des Haftbefehls vom 22. März 2021 an. Eine Anpassung des Haftbefehls an die Anklageschrift erfolgte nicht.

Die Hauptverhandlung begann am 24. September 2021.

Am 7. März 2022 beantragte die Verteidigung des Angeklagten V., den Haftbefehl aufzuheben bzw. hilfsweise die Vollziehung des Haftbefehls auszusetzen und den Angeklagten V. vom weiteren Vollzug der Untersuchungshaft – ggf. gegen im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO geeignete Auflagen – zu verschonen. Mit Beschluss vom 8. April 2022 hielt das Landgericht den gegen den Angeklagten bestehenden Haftbefehl aufrecht und ordnete die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Angeklagten vom 22. Mai 2022 wurde vom Senat mit Beschluss vom 6. Juli 2022 mit der Maßgabe verworfen, dass der dringende Tatverdacht hinsichtlich des dem Angeklagten unter 9b) vorgeworfenen Verstoßes gegen das Waffengesetz entfällt.

Mit Urteil vom 20. Februar 2023 wurde der Angeklagte V. am 51. Hauptverhandlungstag wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit bandenmäßiger Einfuhr von Betäubungsmitteln und Beihilfe zum bandenmäßigen Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Mit Beschluss vom selben Tag hat das Landgericht zudem die „Aufrechterhaltung des Haftbefehls des Amtsgerichts Hamburg vom 22. März 2021 in der Fassung des Eröffnungsbeschlusses vom 13. September 2021“ mit der Maßgabe angeordnet, dass der dringende Tatverdacht hinsichtlich des dem Angeklagten „unter 9a) und 9b) der Anklageschrift vorgeworfenen Verstoßes gegen das Waffengesetz entfällt“.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 20. Februar 2023, eingegangen beim Landgericht Hamburg am selben Tag, legte der Angeklagte V. gegen dieses Urteil Revision ein (LA Bd. 10, Bl. 2380).

Am 5. Mai 2023 gingen die schriftlichen Urteilsgründe auf der Geschäftsstelle ein. Nach Fertigstellung des Hauptverhandlungsprotokolls am 22. Juni 2023 ordnete der Vorsitzende der Großen Strafkammer 26a am 26. Juni 2023 die Zustellung der Urteilsausfertigungen an die Verteidiger an. Diese Verfügung wurde am 27. Juni 2023 ausgeführt. Dem Verteidiger des Angeklagten V. wurde die Urteilsausfertigung am 29. Juni 2023 und seiner Verteidigerin am 3. Juli 2023 zugestellt. Mit Schriftsatz vom 28. Juli 2023, eingegangen beim Landgericht am 1. August 2023, begründete die Verteidigerin des Angeklagten die Revision mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts. Mit Schriftsatz vom 28. Juli 2023, eingegangen beim Landgericht am gleichen Tag, beantragte Rechtsanwalt Prof. Dr. P. für den Angeklagten V. die Aufhebung des Urteils und erhob neben der Sachrüge auch Verfahrensrügen.

Die Revisionsbegründungen der Mitangeklagten gingen am 25. Juli 2023 (durch Rechtsanwalt E. für den Mitangeklagten G.), 31. Juli 2023 (durch Rechtsanwalt Dr. R. für den Mitangeklagten C.), 2. August 2023 (durch Rechtsanwältin F. für den Mitangeklagten A.) und 3. August 2023 (durch Rechtsanwalt L. für den Mitangeklagten C.) beim Landgericht ein. Aus nicht mehr feststellbaren Gründen ging kein Ausdruck des Revisionsbegründungsschriftsatzes des Angeklagten C. auf der Geschäftsstelle der Großen Strafkammer 26a ein, weshalb der Eingang im Geschäftsbereich der Kammer unbemerkt blieb (siehe Vermerk des Vorsitzenden vom 25. September 2023, LA Bd. 17, Bl. 5233). Am 9. August 2023 verfügte die Strafkammer die Aktenübersendung an die Staatsanwaltschaft, ohne dass zuvor die Revisionsbegründung des Mitangeklagten C. zur Akte genommen wurde. Am 16. August 2023 wurden die Revisionsbegründungsschriften der Staatsanwaltschaft zugestellt.

Unter dem 29. August 2023 gab die Staatsanwaltschaft eine Revisionsgegenerklärung im Hinblick auf die Revisionen des Beschwerdeführers und der Mitangeklagten G., C. und A. ab. Die Revisionsgegenerklärung wurde den Verteidigern zwischen dem 20. und 29. September 2023 mitgeteilt. Erst auf Nachfrage des Verteidigers des Angeklagten C. am 22. September 2023 gelangte dessen Revisionsbegründung zur Akte und wurde der Staatsanwaltschaft am 25. September 2023 zugestellt. Am 2. Oktober 2023 gab die Staatsanwaltschaft diesbezüglich eine Gegenerklärung ab (LA Bd. 17, Bl. 5237 ff.). Nach Kenntnisnahme der Gegenerklärung zur Revisionsbegründung des Angeklagten C. übersandte der Vorsitzende die Akte am 20. Oktober 2023 an die Staatsanwaltschaft. Am 30. November 2023 gingen die Akten bei der Generalstaatsanwaltschaft ein und wurden nach Durchführung der Revisionsvorprüfung am 11. Dezember 2023 an den Bundesgerichtshof abgesandt, wo sie seit dem 15. Dezember 2023 (Az. 5 StR 623/23) zur Entscheidung über die Revisionen des Angeklagten V. und seiner Mitangeklagten vorliegen.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 3. April 2024 hat der Angeklagte V. Beschwerde gegen den Haftfortdauerbeschluss vom 20. Februar 2023 eingelegt.
Randnummer13
Das Landgericht Hamburg, Große Strafkammer 26a, hat dieser Beschwerde mit Beschluss vom 5. April 2024 nicht abgeholfen.
Randnummer14
Die Generalstaatsanwaltschaft hat darauf angetragen, die Beschwerde des Angeklagten V. gegen den Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts Hamburg vom 20. Februar 2023 kostenpflichtig zu verwerfen.
Randnummer15
Der Angeklagte hat hierzu mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 16. April 2024 Stellung genommen und beantragt, den Haftbefehl des Amtsgerichts Hamburg vom 22. März 2021 in der Form der letzten Haftentscheidung aufzuheben, hilfsweise außer Vollzug zu setzen und den Angeklagten vom weiteren Vollzug der Untersuchungshaft nach § 116 Abs. 1 StPO – gegen geeignete Anweisungen – zu verschonen. Mit Schriftsatz vom 28. April 2024 hat Rechtsanwalt Prof. P. ergänzend vorgetragen.
II.
Randnummer16
Die Beschwerde ist gemäß § 304 Abs. 1 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig (§ 306 Abs. 1 StPO), bleibt jedoch in der Sache ohne Erfolg. Zu Recht hat das Landgericht die Untersuchungshaft aufrechterhalten und keine Haftverschonung gewährt.
Randnummer17
1. Die materiellen Voraussetzungen für die Haftfortdauer gemäß § 112 Abs. 1 und 2 StPO bestehen fort. Der Senat als Beschwerdegericht hat lediglich angesichts der seit dem 1. April 2024 geänderten Rechtslage und damit geänderten rechtlichen Bewertung der Cannabis betreffenden Taten sowie der bereits im Urteil geänderten rechtlichen Bewertung der haftbefehlsgegenständlichen Fälle unter den Ziffern 4, 5 und 8 den Haftbefehl des Amtsgerichts Hamburg vom 22. März 2021 in Gestalt des Haftfortdauerbeschlusses der Kammer vom 20. Februar 2023 entsprechend des anliegenden neu gefassten Haftbefehls anzupassen, § 114 Abs. 2 StPO.
Randnummer18
a) Der erforderliche dringende Tatverdacht liegt im Sinne des Änderungsbeschlusses vor (§ 112 Abs. 1 S. 1 StPO).
Randnummer19
aa) Die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht nach Durchführung der Hauptverhandlung und erstinstanzlichen Aburteilung der Sache vornimmt, kann im Haftbeschwerdeverfahren durch das Beschwerdegericht nur in eingeschränktem Umfang überprüft werden, da allein das Gericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfindet bzw. stattgefunden hat, in der Lage ist, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen sowie auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand fortbesteht (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Oktober 2012 – StB 9/12, juris, Rn. 6; HansOLG Hamburg, Beschluss vom 16. Oktober 2015 – 2 Ws 236/15, juris, Rn. 13).
Randnummer20
Wird ein Angeklagter nach abgeschlossener Beweisaufnahme verurteilt, belegt dies in der Regel den dringenden Tatverdacht (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Januar 2004 – StB 20/03, juris, Rn. 4; BGH, Beschluss vom 28. Oktober 2005 – StB 15/05, juris, Rn. 3; HansOLG, Beschluss vom 16. Oktober 2015 – 2 Ws 236/15, juris, Rn. 15).
Randnummer21
Der Umfang der Überprüfung im Beschwerdeverfahren bemisst sich in diesem Fall danach, welches Rechtsmittel gegen das tatrichterliche Urteil statthaft und eingelegt ist (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Januar 2004 – StB 20/03, juris, Rn. 5). Unterliegt ein Urteil – wie vorliegend – allein der Revision, kommt eine Abweichung von der durch das Tatgericht gewonnenen tatsächlichen und rechtlichen Beurteilung des erkennenden Gerichts nur bei offenkundiger Erfolgsaussicht der Revision in Betracht, da die Prognose, ob der Beschwerdeführer mit hoher Wahrscheinlichkeit rechtkräftig verurteilt werden wird, allein vom Erfolg der Revision abhängt (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Oktober 2005 – StB 15/05, juris, Rn. 3; HansOLG Hamburg, Beschluss vom 19. September 2023 – 1 Ws 75/23, S. 4 m.w.N.). Es ist dagegen nicht Aufgabe des Haftbeschwerdegerichts, die Erfolgsaussichten einer – häufig der Zuständigkeit eines anderen Gerichtes zugewiesenen – Revision im Einzelnen zu prüfen.
Randnummer22
bb) Nach dem Ergebnis der im vorstehenden Sinne eingeschränkten beschwerdegerichtlichen Überprüfung ist hier weiterhin vom Bestehen eines dringenden Tatverdachts auszugehen.
Randnummer23
(1) Zwar ist anzunehmen, dass die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten V. aufgrund des seit dem 1. April 2024 in Kraft befindlichen Gesetzes zum Umgang mit Konsumcannabis (KCanG) – eingeführt durch das Gesetz zum kontrollierten Umgang mit Cannabis und zur Änderung weiterer Vorschriften (Cannabisgesetz (CanG), BGBl. 2024 I Nr. 109 vom 27. März 2024) – wegen der Anwendung des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) in den Fällen 2, 3, 7, 8, 10 und 12 des Urteils (= Fälle 1, 3 bis 5, 7 und 8 des Haftbefehls = Fälle 2, 3, 7, 11 und 13 der Anklageschrift) hinsichtlich des Strafausspruchs Erfolg haben wird – dies gilt im Übrigen auch in Fall 15 des Urteils (= Fall 18 der Anklageschrift), der jedoch nicht Gegenstand des Haftbefehls ist. Eine auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts hin erfolgende Aufhebung auch des Schuldspruchs mit den zugrundeliegenden Feststellungen, die dazu führen könnte, dass der dringende Tatverdacht möglicherweise (teilweise) entfallen könnte, weil ein Tatnachweis im Rahmen einer gebotenen neuen Hauptverhandlung mit den zur Verfügung stehenden, zulässigen Beweismitteln nicht mehr geführt werden könnte, ist jedoch nicht zu erwarten.
Randnummer24
Der dringende Tatverdacht im Hinblick auf die haftbefehlsgegenständlichen Taten 1, 3 bis 5, 7 und 8 entfällt durch die neuen rechtlichen Bestimmungen zum Umgang mit Cannabis nicht; die unter den Ziffern 2 und 6 des Haftbefehls genannten, Kokain betreffenden Taten (= Fälle 4 und 9 des Urteils) wären von einer Aufhebung des Urteils wegen des neuen KCanG ohnehin lediglich mit Blick auf den Gesamtstrafenausspruch betroffen. Im Einzelnen:
Randnummer25
(a) Nach dem in § 2 Abs. 3 StGB normierten sog. Meistbegünstigungsprinzip ist in dem Fall, dass das Gesetz, das bei Beendigung der Tat galt, vor der Entscheidung geändert wird, das mildeste Gesetz anzuwenden. Der Zeitpunkt der Entscheidung, auf den § 2 Abs. 3 StGB abstellt, ist der der rechtskräftigen Aburteilung. Dementsprechend ist – wie auch § 354a StPO klarstellt – noch in der Revisionsinstanz im Fall der Erhebung einer zulässigen Sachrüge ein zwischenzeitlich in Kraft getretenes milderes Gesetz zu berücksichtigen (vgl. BGH, Beschluss vom 18. April 2024 – 1 StR 106/24, BeckRS 2024, 7982, Rn. 4; Urteil vom 26. Februar 1975 – 2 StR 681/74, NJW 1975, 1038; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 354a Rn. 2; KK-StPO/Gericke, 9. Aufl. 2023, StPO § 354a Rn. 9; weitergehend MüKoStGB/Schmitz, 4. Aufl. 2020, StGB § 2 Rn. 86, MüKoStPO/Knauer/Kudlich, 1. Aufl. 2019, StPO § 354a Rn. 7 f.,HK-GS/Peter Rackow, 5. Aufl. 2022, StPO § 354a Rn. 1-5, wonach auch ohne zulässige Sachrüge nach Einlegung der Revision vom Revisionsgericht das mildere Gesetz von Amts wegen anzuwenden sein soll).
Randnummer26
(b) Das KCanG ist für den Angeklagten V. in den genannten, Cannabis betreffenden Fällen aufgrund der erheblich niedrigeren Strafrahmenuntergrenzen und in den Fällen 1, 3 und 7 des Haftbefehls (= Fälle 2, 3 und 10 des Urteils) auch erheblich niedrigeren Strafrahmenobergrenzen günstiger und damit gegenüber dem BtMG das mildere Gesetz. Von der Möglichkeit, für das KCanG eine von § 2 Abs. 3 StGB abweichende Bestimmung zu treffen, hat der Gesetzgeber keinen Gebrauch gemacht.
Randnummer27
Die haftbefehlsgegenständlichen Taten 1, 3 bis 5, 7 und 8 sind sämtlich auch nach dem KCanG strafbar.
Randnummer28
(aa) So erfüllen die haftbefehlsgegenständlichen Geschehen unter den Ziffern 4, 5 und 8 des Haftbefehls (= Fälle 7, 8 und 12 des Urteils) jeweils den Tatbestand des verbotenen bandenmäßigen Handeltreibens mit Cannabis in nicht geringer Menge gemäß §§ 34 Abs. 4 Nr. 3 i.V.m. 34 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 4 KCanG.
Randnummer29
Bei Marihuana handelt es sich um ein Produkt der Cannabispflanze, das nach den Begriffsbestimmungen des KCanG als „Cannabis“ erfasst wird (§ 1 Nr. 4 KCanG).
Randnummer30
Das vorgeworfene Geschehen in den Fällen 4, 5 und 8 des Haftbefehls stellt sich jeweils auch als „Handeltreiben“ im Sinne der Neuregelung dar. Die in § 34 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 4 KCanG gewählte Bezeichnung der Tathandlung als „Handeltreiben“ unterscheidet sich begrifflich nicht von derjenigen des § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Var. 3 BtMG; auch hinsichtlich des Verbotszwecks sind Unterschiede nicht ersichtlich. Vielmehr handelt es sich insoweit offensichtlich um eine Übernahme des Regelungsregimes des BtMG (vgl. auch BT-Drs. 20/8704, S. 130, wonach sich die Bezeichnung der strafbar bleibenden Handlungsformen im KCanG an der Terminologie des BtMG orientieren soll), so dass die Grundsätze, die von der Rechtsprechung zur Auslegung des Begriffs des Handeltreibens im Sinne des § 29 Abs. 1 S: 1 Nr. 1 Var. 3 BtMG entwickelt wurden, auf § 2 Abs. 1 Nr. 4 KCanG übertragen werden können (vgl. BT-Drs. 20/8704, S. 94; BGH, Beschluss vom 18. April 2024 – 1 StR 106/24, BeckRS 2024, 7982, Rn. 5; HansOLG Hamburg, Beschluss vom 9. April 2024 – 5 Ws 19/24, S. 6).
Randnummer31
Die „nicht geringe Menge“ im Sinne des § 34 Abs. 4 Nr. 3 KCanG – deren Bestimmung der Gesetzgeber ausdrücklich der Rechtsprechung überlassen hat (vgl. BT-Drs. 20/8704, S. 132) und die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung wie zuvor unter dem Regelungsregime des BtMG bei einer Cannabismenge gegeben ist, deren Wirkstoffgehalt bei mindestens 7,5 Gramm THC liegt (vgl. BGH, Beschluss vom 18. April 2024 – 1 StR 106/24, BeckRS 2024, 7982, Rn. 7 ff.; siehe auch bereits HansOLG Hamburg, Beschluss vom 9. April 2024 – 6 Ws 19/24, S. 7 ff.) – ist angesichts der hochwahrscheinlichen Handelsmengen von 51 Kilogramm mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 5,7 Kilogramm Tetrahydrocannabinol (THC) (Fall 4) bzw. 226,84 Kilogramm mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 23,7 Kilogramm THC (Fall 5) bzw. 209,169 Kilogramm mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 21,9 Kilogramm THC (Fall 8) in den genannten Fällen jeweils deutlich überschritten.
Randnummer32
Nach dem vorgeworfenen Geschehen handelte der Angeklagte V. in den genannten Fällen auch jeweils als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Cannabishandelsgeschäften verbunden hat. Auch insoweit erfolgte bei der Formulierung in § 34 Abs. 4 Nr. 3 KCanG eine Übernahme der Terminologie des BtMG.
Randnummer33
(bb) Tateinheitlich gemäß § 52 StGB erfüllen die haftbefehlsgegenständlichen Geschehen unter den Ziffern 5 und 8 zudem jeweils den Tatbestand der verbotenen bandenmäßigen Einfuhr von Cannabis in nicht geringer Menge gemäß §§ 34 Abs. 4 Nr. 3 i.V.m. 34 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 5 KCanG und der Beihilfe zum bandenmäßigen Handeltreiben mit Cannabis in nicht geringer Menge gemäß §§ 34 Abs. 4 Nr. 3 i.V.m. 34 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 4 KCanG i.V.m. § 27 StGB.
Randnummer34
Auch bezüglich des Tatbestands der Einfuhr gilt, dass die zum BtMG entwickelten Grundsätze übernommen werden können.
Randnummer35
(cc) Die haftbefehlsgegenständlichen Geschehen unter den Ziffern 1, 3 und 7 (= Fälle 2, 3 und 10 des Urteils) erfüllen jeweils den Tatbestand des verbotenen Handeltreibens mit Cannabis gemäß § 34 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 2 Abs. 1 Nr. 4 KCanG sowie die für die Annahme eines besonders schweren Falls normierten Regelbeispiele der Gewerbsmäßigkeit gemäß § 34 Abs. 3 S.1 und 2 Nr. 1 KCanG und des Handels mit einer „nicht geringen Menge“ gemäß § 34 Abs. 3 S. 1 und 2 Nr. 4 KCanG.
Randnummer36
Wie bei Marihuana (Fälle 1, 3, 4, 5 und 8 des Haftbefehls = Fälle 2, 3, 7, 8 und 12 des Urteils bzw. 2, 3, 7, 8 und 13 der Anklageschrift) handelt es sich auch bei dem in Fall 7 des Haftbefehls (= Fall 10 des Urteils = Fall 11 der Anklageschrift) tatgegenständlichen Haschisch um ein Produkt der Cannabispflanze, das nach den Begriffsbestimmungen des KCanG als „Cannabis“ erfasst wird (§ 1 Nr. 5 KCanG).
Randnummer37
Das vorgeworfene Geschehen in den Fällen 1, 3 und 7 des Haftbefehls stellt sich nach den obigen Ausführungen jeweils auch als „Handeltreiben“ im Sinne der Neuregelung dar.
Randnummer38
Für das Regelbeispiel der Gewerbsmäßigkeit ist davon auszugehen, dass – wie bei § 29 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 BtMG – gewerbsmäßig handelt, wer die Absicht hat, sich durch wiederholte Tatbegehung eine fortlaufende Einnahmequelle von einiger Dauer und einigem Umfang zu verschaffen (st. Rspr. zu § 29 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 BtMG, vgl. Nachweise bei Patzak/Volkmer/Fabricius, BtMG, 10. Aufl. 2022, § 29 BtMG, Rn. 1544; vgl. auch BT-Drs. 20/8704, S. 131, wonach die besondere Schwere der Tatbestandsvariante darin begründet liegen soll, dass der Täter sich eine wesentliche illegale Quelle für fortlaufende Einnahmen verschafft). Diese Voraussetzungen erfüllen die haftbefehlsgegenständlichen Tatgeschehen unter den Ziffern 1, 3 und 7 (= Fälle 2, 3 und 10 des Urteils).
Randnummer39
Die „nicht geringe Menge“ im Sinne des § 34 Abs. 4 Nr. 3 KCanG ist angesichts der hochwahrscheinlich gehandelten großen Mengen von 90 Kilogramm mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 10,08 Kilogramm THC (Fall 1) bzw. 116 Kilogramm Marihuana mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 12,992 Kilogramm THC (Fall 3) bzw. 6 Kilogramm Haschisch mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 360 Gramm THC (Fall 7) auch in diesen drei Fällen jeweils deutlich überschritten.
Randnummer40
(c) Der dringende Tatverdacht hinsichtlich der haftbefehlsgegenständlichen, Cannabis betreffenden Taten könnte daher nur dann entfallen, wenn der Bundesgerichtshof aufgrund des nun anzuwendenden KCanG auch den Schuldspruch mit den zugrundeliegenden Feststellungen in den Fällen 2, 3, 7, 8, 10 und 12 des Urteils aufhebt und ein Tatnachweis im Rahmen einer gebotenen neuen Hauptverhandlung mit den zur Verfügung stehenden, zulässigen Beweismitteln nicht mehr geführt werden könnte. Dies ist aber nicht zu erwarten.
Randnummer41
Vielmehr ist aktuell eine Aufhebung des Urteils ausschließlich im Strafausspruch zu prognostizieren. Die Aufhebung im Strafausspruch erscheint naheliegend, da kaum auszuschließen sein dürfte, (§ 337 Abs. 1 StPO), dass das Landgericht bei Anwendung der Strafrahmen des § 34 Abs. 4 bzw. Abs. 3 KCanG niedrigere Einzelstrafen und eine niedrigere Gesamtstrafe gegen den Angeklagten V. verhängt hätte.
Randnummer42
Demgegenüber ist auf Basis der im hiesigen Verfahren vorzunehmenden eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfung nicht zu erwarten, dass im Revisionsverfahren aufgrund des KCanG auch der Schuldspruch mit den zugrundeliegenden Feststellungen in den Fällen 2, 3, 7, 8, 10 und 12 des Urteils aufgehoben werden wird, so dass vom Senat nicht entschieden werden muss, ob in einer neuen Hauptverhandlung in den nunmehr unter § 34 Abs. 3 KCanG zu subsumierenden Fällen ein Tatnachweis zulässigerweise noch mittels der EncroChat-Daten geführt werden könnte, oder ob insoweit möglicherweise nach der Wertung des § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO ein Verwertungsverbot anzunehmen wäre (so Landgericht Mannheim, Urteil vom 12. April 2024 –5 KLs 804 Js 28622/21, becklink 2030472; KG – Beschluss vom 30. April 2024 – 5 Ws 67/24, BeckRS 2024, 9370, Rn. 18ff.; siehe demgegenüber aber die Ausführungen unten (2) (b) (cc) ), das der Annahme eines dringenden Tatverdachts in diesen Fällen (Ziffer 1, 3 und 7 des Haftbefehls) entgegenstehen könnte. Aufgrund der dargestellten engen Verwandtschaft zwischen dem BtMG und dem KCanG ist vielmehr davon auszugehen, dass der Bundesgerichtshof den Schuldspruch in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO zur Anpassung an die am 1. April 2024 in Kraft getretenen rechtlichen Bestimmungen des KCanG abändert und damit rechtskräftig stellt (vgl. auch BGH, Beschluss vom 18. April 2024 – 1 StR 106/24, Rn. 3 ff.).
Randnummer43
(2) Weitere Anhaltspunkte dafür, dass das Urteil des Landgerichts vom 20. Februar 2023 offenkundige Rechtsfehler enthält, die aufgrund der von dem Angeklagten V. eingelegten Revision zu einer über den Strafausspruch hinausgehenden Aufhebung des Urteils führen und den dringenden Tatverdacht entfallen lassen könnten, sind auch unter Berücksichtigung der bei den Akten befindlichen schriftlichen Urteilsgründe und der Revisionsbegründung des Angeklagten V. nicht gegeben.
Randnummer44
(a) Insbesondere sind die schriftlichen Urteilsgründe innerhalb der Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs.1 S. 2 StPO zur Akte gebracht worden, weshalb der absolute Revisionsgrund gemäß § 338 Nr. 7 StPO nicht vorliegt. Die Hauptverhandlung dauerte über insgesamt 51 Tage an, weshalb die Urteilsabsetzungsfrist 17 Wochen betrug und am 19. Juni 2023 endete. Ausweislich des Eingangsstempels der Geschäftsstelle der Großen Strafkammer 26a sind die schriftlichen Urteilsgründe bereits am 5. Mai 2023 und damit vor Ablauf der Urteilsabsetzungsfrist zur Akte gelangt.
Randnummer45
(b) Auch ein offensichtlicher Erfolg der Verfahrensrüge betreffend die Unverwertbarkeit der EncroChat-Daten ist nicht ersichtlich.
Randnummer46
(aa) Zu den Maßstäben für die Verwertbarkeit von EncroChat-Daten ist im Einzelnen auf den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 2. März 2022 (Az. 5 StR 457/21, NJW 2022, 1539) zu verweisen. Aufgrund des Gewichts der Maßnahme sind zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes die Grundgedanken der Verwendungsschranke mit dem höchsten Schutzniveau (§ 100e Abs. 6 StPO) fruchtbar zu machen (BGH, a.a.O., Rn. 68). Die im Wege europäischer Rechtshilfe erlangten Beweisergebnisse aus dem EncroChat-Komplex dürfen in einem Strafverfahren ohne Einwilligung der überwachten Person nur zur Aufklärung einer Straftat, auf Grund derer eine Maßnahme nach § 100b StPO hätte angeordnet werden können, oder zur Ermittlung des Aufenthalts der einer solchen Straftat beschuldigten Person verwendet werden (vgl. die Wertung des § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO). Hierbei sind die den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz konkretisierenden einschränkenden Voraussetzungen in § 100b Abs. 1 Nrn. 2 und 3 StPO in den Blick zu nehmen. Danach muss die Straftat auch im Einzelfall besonders schwer wiegen und die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsorts auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos sein (BGH, a.a.O., Rn. 69).Für diese Prüfung ist auf den Erkenntnisstand im Zeitpunkt der Verwertung der Beweisergebnisse abzustellen (BGH, a.a.O., Rn. 70).
Randnummer47
(bb) An diesen Maßstäben gemessen war die Verwertung der EncroChat-Daten zum Beweis der dem Angeklagten V. zur Last gelegten Taten durch das Landgericht rechtsfehlerfrei.
Randnummer48
Sowohl im Zeitpunkt der Anordnung der Beweiserhebung als auch im Zeitpunkt der Verwertung der Daten bei Urteilsverkündung galt noch das alte Recht, wonach das Handeltreiben mit Cannabis den Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes unterfiel. Damit waren die verfahrensgegenständlichen Taten – das bandenmäßige Handeltreiben mit sowie die bandenmäßige Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 30a BtMG und das Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge nach § 29a Abs. 1 Nr. 2 Var. 1 BtMG – bis zur Urteilsverkündung als Katalogtat in § 100b Abs. 2 Nr. 5 StPO erfasst.
Randnummer49
Die unter den Ziffern 4, 5 und 8 des Haftbefehls genannten Taten (= Fälle 7, 8 und 12 des Urteils) stellten sich als bandenmäßiges Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 30a Abs. 1 BtMG, in den Fällen 5 und 8 tateinheitlich mit bandenmäßiger Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 30a Abs. 1 BtMG dar. Die unter den Ziffern 1, 3 und 7 des Haftbefehls genannten Taten (= Fälle 2, 3 und 10 des Urteils) stellten sich als Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 29a Abs. 1 Nr. 2 Var. 1 BtMG dar.
Randnummer50
Sie waren damit als schwere Straftat im Sinne des § 100b Abs. 1 StPO zu qualifizieren mit der Folge, dass die im Wege europäischer Rechtshilfe erlangten Beweisergebnisse aus dem EncroChat-Komplex nach der Wertung des § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO auch in diesen Fällen verwendet werden durften.
Randnummer51
(cc) Die Rechtmäßigkeit der Verwertung der EncroChat-Daten durch das Landgericht wird durch die Neuregelungen des KCanG nicht berührt. Für die Revision gilt das schon deswegen, weil keine Verfahrensrüge mit einer entsprechenden Stoßrichtung erhoben wurde (nachfolgend <1>). Hiervon unabhängig haben die Neuregelungen auch verfahrensrechtlich keine rückwirkende Bedeutung für eine bereits abgeschlossene Verwertung (nachfolgend <2>).
Randnummer52
<1> Der Angeklagte hat keine wirksame Verfahrensrüge erhoben, mit der er eine wegen der Neuregelungen anzunehmende Unverwertbarkeit der EncroChat-Daten geltend macht.
Randnummer53
Nach § 344 Abs. 2 S. 2 StPO sind bei Verfahrensrügen die auf die jeweilige Angriffsrichtung bezogenen Verfahrenstatsachen so vollständig und genau vorzutragen, dass das Revisionsgericht allein anhand der Revisionsbegründung die einzelnen Rügen darauf überprüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegen würde, wenn die behaupteten Tatsachen erwiesen wären (vgl. BGH, Urteil vom 28. Februar 2019 – 1 StR 604/17, BeckRS 2019, 5258, Rn. 41; BGH, Beschluss vom 4. Oktober 2023 – 6 StR 114/23, BeckRS 2023, 27847; Urteil vom 12. Juli 2023 – 6 StR 417/22, BeckRS 2023, 18828, Rn. 5).Inhalt und Umfang des nach § 344 Abs. 2 S. 2 StPO erforderlichen Revisionsvortrags richten sich dabei nach dem jeweils gerügten Verfahrensverstoß. Dies gilt auch, wenn ein Verstoß gegen ein Beweisverwertungsverbot gerügt wird (BGH, Beschluss vom 4. Oktober 2023 – 6 StR 114/23, BeckRS 2023, 27847; vgl. auch BGH, Urteil vom 8. August 2018 – 2 StR 131/18, NStZ 2019, 107 (108); Beschluss vom 19. Dezember 2018 – 2 StR 247/18, NStZ-RR 2019, 157 (158); Dahs, Die Revision im Strafprozess/Dahs, 9. Aufl. 2017, Teil 5, Rn. 224).
Randnummer54
Der Revisionsführer muss den Verfahrensverstoß eindeutig spezifizieren (vgl. MüKoStPO/Knauer/Kudlich, 1. Aufl. 2019, StPO § 344 Rn. 106). Dabei ist für eine ordnungsgemäße Verfahrensrüge die Bezeichnung der verletzten Gesetzesvorschrift nicht unbedingt erforderlich und ihre unrichtige Bezeichnung unschädlich (§ 352 Abs. 2 StPO, vgl.BGH, Urteil vom 16. Oktober 2006 – 1 StR 180/06, NStZ 2007, 115 (116); Cirener: Die Zulässigkeit von Verfahrensrügen in der Rechtsprechung des BGH, NStZ-RR 2011, 134 (135)). Das Revisionsgericht stellt im Wege der Auslegung des Vorbringens fest, welche Gesetzesvorschrift als verletzt anzusehen ist. Geboten ist allerdings die Darlegung der rechtlichen Bedeutung des Revisionsangriffs (vgl. BGH, Urteil vom 16. Oktober 2006 – 1 StR 180/06, NStZ 2007, 115 (116); BGH, Beschluss vom 24. Juni 2009 – 5 StR 181/09, NStZ 2009, 650). Der Revisionsbegründung muss zu entnehmen sein, gegen welches verfahrensrechtliche Gebot oder Verbot der Tatrichter verstoßen haben soll, das heißt es muss der rechtliche Aspekt bestimmt werden, unter dem der gerügte Prozessvorgang zu würdigen ist („Angriffsrichtung“, Dahs, Die Revision im Strafprozess, 9. Auflage 2017, Teil 5, Rn. 498).
Randnummer55
Die Revisionsbegründung des Angeklagten V. stützt die Verfahrensrüge der unzulässigen Verwertung der EncroChat-Daten insbesondere auf die Verletzung verfassungsrechtlicher und unionsrechtlicher Vorgaben sowie Verstöße der französischen Behörden gegen französisches Recht bei der Datenerhebung. Darüber hinaus wird – entgegen der Rspr. des BGH – in Frage gestellt, ob anstelle des Maßstabs des § 100e Abs. 6 StPO ein höheres Schutzniveau heranzuziehen ist. Schließlich wird mit einer weiteren Angriffsrichtung geltend gemacht, dass für die Prüfung des Vorliegens einer Katalogstraftat nicht auf den Zeitpunkt der Verwertung der Beweismittel, sondern der Anordnung der Beweiserhebung abzustellen sei. Nicht hingegen wird vorgetragen, dass es für die Prüfung des Vorliegens einer Katalogstraftat auf den Zeitpunkt der Prüfung durch das Revisionsgericht ankäme. Ebenfalls findet sich weder ausdrücklich noch sinngemäß die Beanstandung, dass die dem Angeklagten zu Last gelegten Taten gerade deswegen nicht den erforderlichen Schweregrad aufwiesen, weil das Tatobjekt Cannabis sei oder unter das KCanG falle.
Randnummer56
<2> Hiervon unabhängig führen die Neuregelungen des KCanG nicht dazu, dass die Verwertung der EncroChat-Daten durch das Landgericht rückwirkend als unzulässig anzusehen wäre.
Randnummer57
Teilweise liegt es schon deswegen so, weil die abgeurteilten Taten auch nach neuem Recht eine Verwertung erlauben. Dies gilt gemäß § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO, § 100b Abs. 2 Nr. 5a StPO n.F. für das bandenmäßige Handeltreiben mit sowie die bandenmäßige Einfuhr von Cannabis in nicht geringer Menge gemäß § 34 Abs. 4 Nr. 3 KCanG. Die entsprechenden Taten (Fälle 4, 5 und 8 des Haftbefehls) sind Katalogtaten im Sinne des § 100b Abs. 2 Nr. 5a StPO, wiegen auch im Einzelfall schwer und die Erforschung des Sachverhalts wäre auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos (§ 100e Abs. 6 iVm § 100b Abs. 1 StPO).
Randnummer58
Darüber hinaus führt die Neuregelung generell nicht zu einer Rückwirkung in Bezug auf eine bereits erfolgte Verwertung.
Randnummer59
So liegt es in Bezug auf die Fälle 2, 3 und 10 des Urteils (= 1, 3 und 7 des Haftbefehls), bei denen die im Rahmen der Sachrüge vorzunehmende neue materiell-rechtliche Einordnung im Falle einer aktuellen Anwendung der Verwendungsschranke des § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO möglicherweise zu einem Verwertungsverbot führte, da die Regelung zur Online-Durchsuchung in § 100b Abs. 2 Nr. 5a StPO seit dem 1. April 2024 lediglich auf § 34 Abs. 4 Nr. 1, 3 und 4 KCanG, nicht aber auf § 34 Abs. 3 KCanG verweist.
Randnummer60
Denn die verfahrensrechtliche Neuregelung hat keine Auswirkungen auf die Prüfung einer bereits erfolgten Verwertung durch das Revisionsgericht. Die Verwertung durch das Landgericht ist an den Maßstäben zu messen, die im Zeitpunkt der Verwertung galten.
Randnummer61
Grundsätzlich prüft das Revisionsgericht die zutreffende Anwendung des Gesetzes durch das Tatgericht, § 337 Abs. 2 StPO. Hierbei kommt es auf die Rechtslage im Zeitpunkt der tatgerichtlichen Entscheidung an.
Randnummer62
Eine (weitreichende) Ausnahme hiervon regeln § 2 Abs. 3 StGB i.V.m. § 354a StPO. § 2 Abs. 3 StGB bestimmt die Rückwirkung milderer materiell-rechtlicher Gesetze; § 354a StPO regelt implizit, dass die Rückwirkung auch noch in der Revisionsinstanz zu beachten ist. Diese Vorgaben gelten aber nur für das materielle Recht, nicht auch für das Verfahrensrecht (MüKoStPO/Knauer/Kudlich StPO § 354a Rn. 3; aA KK- StPO/Gericke § 354a Rn. 4). § 354a StPO regelt nicht selbst eine umfassende Rückwirkung von Normen, sondern setzt diese voraus. Die entsprechende Anordnung findet sich nur in § 2 Abs. 3 StGB und damit nur für das materielle Recht. Die verfahrensrechtliche Prüfung abgeschlossener Prozesshandlungen des Tatgerichts hat daher anhand der Rechtslage im Zeitpunkt der Vornahme der Handlung zu erfolgen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. Einl. Rn. 203). Neuregelungen haben dagegen auf Verfahrenshandlungen, die vor ihrem Inkrafttreten vorgenommen wurden, in der Regel keinen Einfluss (KK- StPO/Gericke § 354a Rn. 5).
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Bei der Verwertung von Beweismitteln oder umgekehrt der Annahme eines Verwertungsverbotes handelt es sich um Verfahrenshandlungen (vgl. KK- StPO/Bader vor § 48 StPO Rn. 53). Das gilt auch für das Verwertungsverbot aus § 100e Abs. 6 StPO, das dementsprechend nicht nach § 354a StPO vom Revisionsgericht zu beachten ist.
Randnummer64

Dieser Auslegung der Norm steht nicht die Rechtsprechung des BGH entgegen, die im Einzelfall eine Rückwirkung im Sinne des § 354a StPO auch für Verwertungsverbote angenommen hat (aA Köhler in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. § 100e Rn. 27). Beide Fallkonstellationen, über die der BGH entschieden hat, lassen sich weder verallgemeinern noch auf die im vorliegenden Fall gegebene Konstellation übertragen.
Randnummer65
[1] In den betreffenden Fällen handelte es sich zum einen um Verwertungsverbote nach dem BZRG (BGH, Urteil vom 19. Juli 1972 – 3 StR 66/72 –, BGHSt 24, 378-382, Rn. 9; BGH, Urteil vom 26. Januar 1977 – 2 StR 650/76 –, BGHSt 27, 108-110, Rn. 4; hierzu KK- StPO/Gericke § 354a Rn. 4 m.w.N.). Die entsprechenden Fälle sind schon deswegen nicht vergleichbar mit Verwertungsverboten nach § 100e StPO, weil der BGH in den damaligen Entscheidungen die Verwertungsverbote nach dem BZRG anders als andere Verwertungsverbote als Teil des materiellen Rechts – und nicht des Verfahrensrechts – angesehen hat (vgl. KK- StPO/Bader a.a.O. Rn. 53; vgl. nunmehr: BGH, Beschluss vom 16. September 2020 – 5 StR 314/20 –, juris m.w.N).
Randnummer66
[2] Zum anderen hat der BGH zu Fallkonstellationen, die partiell mit der hiesigen vergleichbar sind – jeweils zur Verwertbarkeit nach §§ 100a ff. StPO – Neuregelungen zu Verwertungsverboten rückwirkend angewendet, wenn infolge der Rückwirkung Unverwertbarkeit durch Verwertbarkeit ersetzt wurde, mithin dem im Vergleich zur hiesigen Konstellation umgekehrten Fall (BGH, Urteil vom 14. August 2009 – 3 StR 552/08 –, BGHSt 54, 69-132, Rn. 24; vgl. auch BGH, Urteil vom 27. November 2008 – 3 StR 342/08 –, BGHSt 53, 64-69, Rn. 13; vgl. ferner KK- Henrichs /Weingast § 100a StPO Rn. 50; Knierim StV 2009, 206, 207; dagegen Schmitt a.a.O. Einl. Rn. 203). Eine Übertragung scheitert daran, dass beide Fälle eine unterschiedliche Sach- und Interessenlage aufweisen (aA Köhler a.a.O. Rn. 27). Denn die Kassation einer Entscheidung zu dem Zweck, die seinerzeit verbotene Verfahrenshandlung nunmehr in der neuen Verhandlung nach neuem Recht dann doch wieder durchzuführen, erscheint wenig prozessökonomisch. Sinnvoll erscheint es deswegen, von einer Heilung eines Verfahrensfehlers auszugehen, wenn die verletzte Bestimmung nachträglich in einer Weise geändert wurde, die den ursprünglich fehlerbehafteten Verfahrensablauf nunmehr ermöglicht (OLG Hamburg, NJW 1975, 988; BeckOK StPO/Wiedner StPO § 354a Rn. 5-5.2). Insoweit besteht daher auch unabhängig von der Regelung des § 354a StPO ein Grund für die Orientierung an der neuen Rechtslage. Für den umgekehrten, hier vorliegenden Fall gilt dies nicht.
Randnummer67
Auch die Argumentation des BGH in den beiden genannten Fällen führt nicht zur Übertragbarkeit. Zur Begründung hat der BGH darauf verwiesen, dass „bei der Änderung strafprozessualer Bestimmungen für das weitere Verfahren grundsätzlich auf die neue Rechtslage abzustellen“ sei. „Dies … (gelte) auch bei einer Änderung des Rechtszustands zwischen dem tatrichterlichen Urteil und der Revisionsentscheidung“ (BGH, Urteil vom 14. August 2009 – 3 StR 552/08, aaO Rn. 24). Diese Begründung passt auf den ersten Blick auch auf den vorliegenden Fall, trägt bei genauerem Hinsehen allerdings nicht das Ergebnis, wonach stets für die Frage der Verwertbarkeit die neue Rechtslage maßgeblich sein soll. Die Verwertung ist eine abgeschlossene Verfahrenshandlung im Rahmen des Ausgangsverfahrens. Das Revisionsgericht verwertet nicht selbst Beweismittel, sondern prüft nur die rechtsfehlerfreie Verwertung durch das Ausgangsgericht (vgl. BeckOK StPO/Wiedner, 51. Ed., § 354a Rn. 5 mwN). Dass das neue Verfahrensrecht auch im Revisionsrecht mit seinem Inkrafttreten anwendbar ist, besagt nicht, dass es auch rückwirkend für die Beurteilung vergangener Verfahrenshandlungen gilt (vgl. KK- StPO/Gericke § 354a Rn. 5). Dagegen spricht bereits entscheidend, dass es keine Norm gibt, die derlei anordnen würde; die Norm findet sich insbesondere nicht in § 354a StPO (s.o. (bb)).
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Hiernach kann dahinstehen, ob es für die Verwertbarkeit nach §§ 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO nicht ohnehin sowohl in tatsächlicher wie auch in rechtlicher Hinsicht auf den Zeitpunkt ankommt, in dem die betroffenen Beweismittel Eingang in das Strafverfahren gefunden haben. Allerdings sprechen nach Ansicht des Senats hierfür gute Gründe.
Randnummer69
[1] Bei Veränderungen der Verdachtslage in tatsächlicher Hinsicht ist anerkannt, dass es bei der Prüfung eines Verwertungsverbotes auf den Zeitpunkt der Anordnung der Eingriffsmaßnahme oder – bei Verwendung in anderen Strafverfahren – auf den Zeitpunkt der Beiziehung der gewonnenen Beweismittel ankommt.
Randnummer70
[a] Dem liegt eine ständige Rechtsprechung zu den §§ 100a ff. StPO zugrunde, die letztlich auf § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO zu übertragen ist. Für die Verwertbarkeit von nach §§ 100a ff. StPO erlangten Informationen ist es entscheidend, dass der Verdacht einer Katalogtat im Zeitpunkt der Anordnung der Überwachungsmaßnahme vorlag (Schmitt a.a.O. § 100a Rn. 32 m.w.N.). Entfällt im weiteren Verlauf der Ermittlungen der Verdacht der Katalogtat, bleiben die erlangten Beweismittel trotz der Veränderung der Sachlage verwertbar (BGH, Beschluss vom 18. März 1998 – 5 StR 693/97 –, juris, Rn. 8 ff.; Köhler a.a.O. Rn. 32 f.; KK- StPO/Henrichs /Weingast § 100a StPO Rn. 54).
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[b] Diese Grundsätze sind auf die Auslegung des § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO zu übertragen (vgl. zu einem Parallelfall BGH, Beschluss vom 15. Januar 2020 – 2 StR 352/18 –, juris, Rn. 20). Die Norm ist dahingehend zu interpretieren, dass ihre Voraussetzungen (lediglich) im Zeitpunkt der Beiziehung der Beweisergebnisse in das betreffende Verfahren vorliegen müssen. Nur in diesem Zeitpunkt muss der Verdacht auf eine Katalogtat i.S.d. §§ 100b, 100c StPO gerichtet sein. Spätere Änderungen der Sachlage, die den Verdacht entfallen lassen, ändern an der Verwertbarkeit nichts (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Januar 2020 – 2 StR 352/18 –, juris, Rn. 20; Köhler a.a.O. § 161 Rn. 18c; KK- StPO/Weingarten § 161 StPO Rn. 35b). Für diese Betrachtung spricht der § 100e Abs. 6 StPO zugrunde liegende Gedanke des hypothetischen Ersatzeingriffs (hierzu etwa KK- StPO/Henrichs/Weingast § 100e Rn. 25a). Die nach den §§ 100b, 100c StPO erlangten Daten sollen in anderen Verfahren verwendet werden dürfen, wenn entsprechende Überwachungsmaßnahmen – unter Berücksichtigung der erlangten Daten – auch dort angeordnet werden dürften. § 100e Abs. 6 StPO lehnt sich hiernach an den Vorschriften der §§ 100b, 100c StPO an und soll deren Verwertungsgrenzen übernehmen (vgl. Hauck in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, § 100e StPO Rn. 72). Dann aber liegt es nahe, auch bei § 100e Abs. 6 StPO auf den Zeitpunkt der Erlangung der Beweisergebnisse (vgl. KK- StPO/Weingarten § 161 StPO Rn. 35b; KK- StPO/Gieg § 479 Rn. 3 m.w.N.) oder der entsprechenden Anordnung abzustellen und ein späteres Entfallen des Verdachts einer Katalogtat aus tatsächlichen Gründen als unbeachtlich anzusehen. Dies verstößt nicht gegen die Vorgabe, dem Eingriffsgewicht der Datenerhebung auch hinsichtlich der neuen Nutzung im Rahmen des § 100e Abs. 6 StPO Rechnung zu tragen (hierzu BVerfG, Urteil vom 20. April 2016 – 1 BvR 966/09 –, BVerfGE 141, 220-378, Rn. 284 ff.). Auch insoweit liegt es nicht anders als bei der innerprozessualen Verwendung der nach §§ 100a ff. StPO erlangten Informationen: Dem Eingriffsgewicht wird bereits dadurch genügt, dass im Zeitpunkt der Anordnung oder Beiziehung der betreffenden Daten hohe Anforderungen in Gestalt von Katalogtaten bestehen.
Randnummer72
[2] Nach Ansicht des Senats liegt es nahe, Veränderungen der Verdachtslage in rechtlicher Hinsicht – etwa aufgrund rückwirkender Neufassung materiell-rechtlicher Regelungen – ebenso zu behandeln und dementsprechend alleine auf den Zeitpunkt abzustellen, in dem die betreffenden Beweisergebnisse Eingang in das jeweilige Strafverfahren gefunden haben (aA BGH, Urteil vom 27. November 2008 – 3 StR 342/08 –, BGHSt 53, 64-69, Rn. 13; Köhler a.a.O. § 100e Rn. 27; KK- StPO/ Henrichs /Weingast § 100a StPO Rn. 50). Für eine Ungleichbehandlung findet sich kein Grund.
Randnummer73
Der Grund für die Fortwirkungsverwertbarkeit im Falle einer tatsächlichen Änderung der Verdachtslage dürfte darin zu verorten sein, dass die durch die Katalogtaten vermittelten hohen Hürden der besonderen Grundrechtssensibilität des staatlichen Eingriffs hinreichend Rechnung tragen. Ist der Eingriff vorgenommen worden, hat sich der Grundrechtseingriff mit dem höchsten Gewicht erledigt. Nachfolgende Verwendungen der erlangten Informationen stellen sich zwar ebenfalls als Grundrechtseingriffe dar (BVerfG, Urteil vom 20. April 2016 – 1 BvR 966/09 –, BVerfGE 141, 220-378, Rn. 285; BVerfG E 109, 279, 375; Hauck a.a.O. § 100e StPO, Rn. 64). Diesen kommt aber ein deutlich geringeres Gewicht zu. Dementsprechend kann hierbei auf den Verdacht oder gar die Feststellung einer Katalogtat verzichtet werden. Diese Annahme steht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BVerfG, die bei der Prüfung der Verwertbarkeit ebenfalls nicht auf die Straftat abstellt, zu deren Verurteilung die Verwertung geführt hat, sondern auf Basis des Kriteriums der hypothetischen Datenneuerhebung danach fragt, ob die betroffenen Informationen nach verfassungsrechtlichen Maßstäben auch für den geänderten Zweck der Verfolgung anderer Taten mit vergleichbar schwerwiegenden Mitteln neu erhoben werden dürften (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 2835/17 –, BVerfGE 154, 152-312, Rn. 216; BVerfGE 141, 220 <327 ff. Rn. 287 ff.>). Auch das BVerfG nimmt damit den Zeitpunkt der Beiziehung der Informationen als entscheidend in den Blick.
Randnummer74
Der genannte Grund gilt in selber Weise für Veränderungen der Verdachtslage in rechtlicher Hinsicht. Hier wie dort waren der Eingriff und damit die Erlangung der Beweismittel zunächst rechtmäßig, da sie die hohen gesetzlichen Anforderungen seinerzeit erfüllten. Dies reicht aus, um dem gebotenen Grundrechtsschutz zu genügen.
Randnummer75
(c) Auch ein offensichtlicher Erfolg der Verfahrensrüge betreffend die Unverwertbarkeit der GPS-Daten, der der Annahme des dringenden Tatverdachts entgegenstehen könnte, ist nicht ersichtlich. Es erscheint bereits fraglich, ob diese Verfahrensrüge den Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO genügt, weil der Beschluss des Landgerichts vom 27. Juni 2022 betreffend die Beweiserhebungs- und Beweisverwertungswidersprüche gegen die Verwertung der Angaben des Zeugen K. lediglich teilweise wiedergegeben worden ist. Jedenfalls aber ist es nicht offenkundig, dass es sich bei der Auswertung der GPS-Daten um eine sog. online-Durchsuchung gemäß § 100b StPO handelte, deren Anordnung eines Gerichtsbeschlusses gemäß § 100e Abs. 2 StPO bedurft hätte.
Randnummer76
b) Es besteht weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).
Randnummer77
aa) Fluchtgefahr ist anzunehmen, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen bei Würdigung sämtlicher bestimmender Umstände des Einzelfalls eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Angeklagte werde sich dem gegen ihn geführten Strafverfahren entziehen, als für die Erwartung, er werde an dem Verfahren teilnehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Mai 2014 – 1 StR 726/13, juris, Rn. 15; Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Auflage, 2023, § 112, Rn. 17; Graf in: Karlsruher Kommentar, StPO, 9. Auflage, 2023, § 112, Rn. 16). In die anzustellende Gesamtschau sind namentlich der Fluchtanreiz, die soziale Verwurzelung des Angeklagten und damit die ihn treffenden nachteiligen Folgen eines Untertauchens einzustellen (Senat, Beschluss vom 28. September 2022 – 1 Ws 95/22, S. 6; Senat, Beschluss vom 18. Mai 2022 – 1 Ws 64/22, S. 6; Senat, Beschluss vom 20. Juli 2023 – 1 Ws 62/13).
Randnummer78
bb) Gemessen hieran ist es nach Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalles derzeit wahrscheinlicher, dass der Angeklagte V. sich dem weiteren Verfahren entziehen wird, als dass er sich dem Verfahren weiter zur Verfügung stellt.
Randnummer79
(1) Die für die Fluchtgefahr maßgebliche subjektive Straferwartung des Angeklagten V. ist mit dem landgerichtlichen Urteil dahingehend konkretisiert, dass dieser mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren und sechs Monaten zu rechnen hat, was einen ganz erheblichen Fluchtanreiz begründet. Auch eingedenk der Änderungen durch das KCanG und der dadurch wahrscheinlichen Aufhebung des landgerichtlichen Urteils im Strafausspruch ist weiterhin eine ganz empfindliche Freiheitsstrafe zu erwarten. Die nach Zurückverweisung mögliche Herabsetzung der Einzelstrafen in den Fällen 2, 3, 7, 8, 10,12 (= Fälle 1, 3 bis 5, 7 und 8 des Haftbefehls) und (dem nicht haftbefehlsgegenständlichen) Fall 15 des Urteils und der Gesamtfreiheitsstrafe, wird – auch unter Berücksichtigung des Zeitablaufs seit den Taten und der langen Verfahrensdauer – im Ergebnis voraussichtlich nicht derart signifikant sein, dass dies den Fluchtanreiz in erheblicher Weise mindert.
Randnummer80
Zwar ist die Strafuntergrenze für das bandenmäßige Handeltreiben mit Cannabis in nicht geringer Menge gemäß §§ 34 Abs. 4 Nr. 3 i.V.m. 34 Abs. 1 Nr. 4 KCanG (Fälle 7, 8, 12 und 15 des Urteils = Fälle 7, 8, 13 und 18 der Anklageschrift bzw. Fälle 4, 5 und 8 des Haftbefehls) sowie die bandenmäßige Einfuhr von Cannabis in nicht geringer Menge gemäß §§ 34 Abs. 4 Nr. 3 i.V.m. 34 Abs. 1 Nr. 5 KCanG (Fälle 8, 12 und 15 des Urteils = Fälle 8, 13 und 18 der Anklageschrift bzw. Fälle 5 und 8 des Haftbefehls) von bislang fünf auf zwei Jahre herabgesetzt. Der Strafrahmen reicht aber nach wie vor bis zu 15 Jahren. Ein minder schwerer Fall im Sinne des § 34 Abs. 4 KCanG mit der Folge, dass sich der Strafrahmen auf drei Monate bis zu fünf Jahre reduzieren würde, erscheint in den vier genannten Fällen (Fälle 7, 8 und 12 und 15 des Urteils bzw. Fälle 4, 5 und 8 des Haftbefehls) bereits angesichts der jeweils hochwahrscheinlich gehandelten Mengen und des jeweils erheblichen Überschreitens der nicht geringen Menge des Wirkstoffgehalts, der Professionalität des Vorgehens sowie der besonders ausgeprägten Organisationsstruktur der Bande und der herausragenden Position des Angeklagten als „Bandenchef“ fernliegend. Vielmehr dürften sich die neu festzusetzenden Einzelstrafen in den vier Fällen – insbesondere auch mit Blick auf die vielfachen Vorstrafen des Angeklagten – u.a. wurde er bereits im Jahr 2004 wegen Verstößen gegen das BtMG zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten verurteilt – hochwahrscheinlich auch trotz des Zeitablaufs seit den Taten und der langen Verfahrensdauer im oberen Bereich des Strafrahmens bewegen.
Randnummer81
Gleiches gilt für die drei Fälle des verbotenen Handeltreibens mit Cannabis in einem besonders schweren Fall – nämlich der Gewerbsmäßigkeit und des Handels mit einer nicht geringen Menge gemäß §§ 34 Abs. 3 S. 1 und 2 Nr. 1und 4 i.V.m. 34 Abs. 1 Nr. 4 KCanG (Fälle 1, 3 und 7 des Haftbefehls = Fälle 2, 3 und 10 des Urteils = Fälle 2, 3 und 11 der Anklageschrift), für die nach der neuen gesetzlichen Regelung jeweils ein Strafrahmen von drei Monaten bis zu fünf Jahren gilt. Gründe, die die Indizwirkung des Regelbeispiels in diesen Fällen entfallen lassen könnten, sind nicht ersichtlich.
Randnummer82
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass sich die im Falle der Rechtskraft der nach Aufhebung des Urteils im Strafausspruch und Zurückverweisung zu erwartenden Entscheidung noch zu vollstreckenden Strafe aufgrund der in der Sache verbüßten und nach Maßgabe des § 51 Abs. 1 S. 1 StGB anrechnungsfähigen, bereits gut 36 Monate andauernden Untersuchungshaft (bereits jetzt) auf circa neuneinhalb Jahre reduziert hat und möglichweise bei Anwendung der Strafrahmen des KCanG geringfügig weiter reduzieren wird. Denn auch dieser hochwahrscheinlich zu verbüßende Strafrest begründet für sich genommen einen beträchtlichen Fluchtanreiz.
Randnummer83
Auch die Möglichkeit einer Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung nach Maßgabe des § 57 Abs. 1 StGB ist nicht geeignet, den Fluchtanreiz entscheidend zu mindern. Zum einen ist insoweit zu berücksichtigen, dass die Strafaussetzung zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt an enge Voraussetzungen geknüpft wird und von diversen, derzeit noch nicht zu prognostizierenden Faktoren abhängt. Hierzu gehören das Vollzugsverhalten, die Auseinandersetzung des Angeklagten V. mit seinen schwerwiegenden Taten und daran anknüpfend die Wiederholungsgefahr (vgl. Senat, Beschluss vom 18. Mai 2022 – 1 Ws 64/22). Zu Lasten des Angeklagten wird bei der Prognosestellung aber die Art der von ihm begangenen Straftaten zu gewichten sein. Bei Tätern, die sich aus reinem Gewinnstreben an organisierten Formen der Kriminalität beteiligen, sind sogar dann hohe Anforderungen an eine günstige Prognose zu stellen, wenn es sich um Erstverbüßer handelt (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 11. Februar 2005 – 1 AR 55/055 Ws 44/05, BeckRS 2005, 30350993, Rn. 10). Vor diesem Hintergrund erscheint es zumindest zweifelhaft, dass der bereits einschlägig vorbestrafte Angeklagte V. nach zwei Dritteln der Strafverbüßung vorzeitig aus der Strafhaft entlassen werden wird. Ungeachtet dessen begründet auch die bis zu dem frühestmöglichen Termin für eine Reststrafaussetzung nach § 57 Abs. 1 StGB derzeit noch zu verbüßende Freiheitsstrafe von knapp 64 Monaten (fünf Jahren und vier Monaten) auch eingedenk einer möglicherweise erfolgenden geringfügigen Reduzierung der Gesamtfreiheitsstrafe bei Anwendung des KCanG – einen erheblichen Fluchtanreiz.
Randnummer84
Hinzu kommt, dass die in dem landgerichtlichen Urteil angeordnete Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 2.193.689,90 EUR und die insoweit ab Rechtskraft drohende Vollstreckung, die dem Angeklagten V. voraussichtlich dauerhaft die wirtschaftliche Existenzgrundlage entziehen wird, einen weiteren Anreiz für den Angeklagten bietet, sich dem Verfahren zu entziehen (vgl. HansOLG Hamburg, Beschluss vom 16. Mai 2018 – 2 Ws 67/18, BeckRS 2018, 42524).
Randnummer85
(2) Aufgrund seiner hochwahrscheinlichen Verbindungen ins Ausland – insbesondere sein Heimatland Kroatien – stehen dem Beschwerdeführer auch gute Fluchtmöglichkeiten zur Verfügung. Hinzu kommt, dass der Angeklagte V., wie sich aus den Feststellungen des landgerichtlichen Urteils ergibt, über Kontakte in das Milieu der organisierten in- und ausländischen Betäubungsmittelkriminalität verfügt, welche ihm eine Flucht in das Ausland sowie ein Untertauchen im In- und Ausland erleichtern könnten und es ihm darüber hinaus ermöglichen dürften, seinen Lebensunterhalt zu finanzieren.
Randnummer86
(3) Seine sozialen und sonstigen Bindungen sind nicht geeignet, diesen Fluchtanreiz in einem Maße zu mindern, dass hierdurch die Fluchtgefahr entfallen oder maßgeblich reduziert würde. Insbesondere reicht die Beziehung zu seiner Lebensgefährtin, mit der der Angeklagte einen gemeinsamen Sohn hat, nicht aus, den durch die langjährige Straferwartung begründeten und durch gute Fluchtgelegenheiten bestärkten Fluchtanreizen zu begegnen.
Randnummer87
c) Weniger einschneidende Maßnahmen als der Vollzug der Untersuchungshaft im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO sind zur Erreichung deren Zwecks zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausreichend.
Randnummer88
Angesichts des hohen Maßes der Fluchtgefahr ist nicht zu erwarten, dass der Angeklagte V. sich durch Meldepflichten oder aufenthaltsbeschränkende Weisungen von einer Flucht oder einem Untertauchen abhalten lassen würde.
Randnummer89
Sonstige Weisungen, durch welche die Fluchtgefahr ausgeräumt oder hinreichend herabgesetzt werden könnte, sind nicht ersichtlich.
Randnummer90
d) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit steht der Fortdauer der mittlerweile seit drei Jahren und gut einem Monat andauernden Untersuchungshaft angesichts der Schwere der Tatvorwürfe und der darin zum Ausdruck kommenden Bedeutung der Sache sowie der zu erwartenden langjährigen Gesamtfreiheitsstrafe auch unter Berücksichtigung der bereits vollzogenen Untersuchungshaft nicht entgegen, § 120 Abs.1 S. 1 StPO.
Randnummer91
Zwar ist insoweit lediglich auf die Straferwartung aus den acht verbliebenen Taten abzustellen, die Gegenstand des Haftbefehls sind, nicht hingegen auch auf Fall 15 des Urteils. Die bereits angesprochene hohe Straferwartung resultiert allerdings ganz überwiegend aus den haftbefehlsgegenständlichen Taten, die den professionellen und organisierten Drogenhandel abbilden. Dem steht nicht entgegen, dass die höchste Einzelstrafe vom Landgericht in dem nicht haftbefehlsgegenständlichen Fall 15 (= Fall 18 der Anklageschrift), der mit 341,7 Kilogramm Marihuana mit einem Wirkstoffgehalt von 51 Kilogramm THC die größte Handelsmenge betrifft, verhängt wurde. Insbesondere in den haftbefehlsgegenständlichen Fällen 5 und 8 (= Fälle 8 und 12 des Urteils) sind angesichts der ebenfalls beträchtlichen Mengen des jeweils hochwahrscheinlich gehandelten Marihuanas – 226,84 Kilogramm mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 23,7 Kilogramm THC in Fall 5, 209,169 Kilogramm mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 21,9 Kilogramm THC in Fall 8 – vergleichbare Einzelstrafen im oberen Bereich des Strafrahmens des § 34 Abs. 4 Nr. 3 KCanG zu erwarten.
Randnummer92
Insoweit ist anzumerken, dass sich auch mit der nicht rechtskräftigen Verurteilung durch das Landgericht das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs vergrößert hat, da bereits einmal aufgrund einer gerichtlich durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung von neun Straftaten durch den Angeklagten als erwiesen angesehen worden ist (vgl. Senat, Beschluss vom 14. Dezember 2022 – 1 Ws 105/22 m.w.N.).
Randnummer93
Der Verhältnismäßigkeit stehen entgegen der Ansicht der Verteidigung auch die Haftbedingungen nicht entgegen, unter denen der Angeklagte in der Vergangenheit aufgrund der SARS-CoV-2-Pandemie untergebracht war. Insoweit wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen im Beschluss des Senats vom 6. Juli 2022 (Az.: 1 Ws 72/22, S. 10) verwiesen.
Randnummer94
e) Die Fortdauer der Untersuchungshaft erweist sich darüber hinaus trotz vermeidbarer und dem Angeklagten V. nicht zurechenbarer Verfahrensverzögerungen auch nicht aufgrund einer Verletzung des in Haftsachen geltenden besonderen Beschleunigungsgebots aus Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 5 Abs. 3 S. 1 EMRK als unverhältnismäßig. Dies gilt, obwohl eine rund siebeneinhalb Wochen andauernde Verfahrensverzögerung bei der Protokollerstellung und Urteilszustellung und eine weitere einmonatige Verfahrensverzögerung bei der Zustellung der Revisionsbegründung des Mitangeklagten C. an die Staatsanwaltschaft zwecks Abgabe einer Gegenerklärung zu verzeichnen sind.
Randnummer95
aa) Der verfassungsrechtlich verankerte Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. Mai 1966 – 1 BvR 58/66, juris, Rn. 15; BVerfG, Beschluss vom 22. Januar 2014 – 2 BvR 2248/13, juris, Rn. 34; Senat, Beschluss vom 20. November 2015 – 1 Ws 148/15, juris, Rn. 72). Von dem Beschuldigten nicht zu vertretende, sachlich nicht gerechtfertigte und vermeidbare erhebliche Verfahrensverzögerungen stehen regelmäßig einer weiteren Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft entgegen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. Februar 2021 – 2 BvR 2128/20, juris, Rn. 39; Beschluss vom 17. Januar 2013 – 2 BvR 2098/12, juris, Rn. 40). Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft sind höhere Anforderungen an das Vorliegen eines rechtfertigenden Grundes zu stellen. Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat stehen zwar kleinere Verfahrensverzögerungen einer Fortdauer der Untersuchungshaft nicht entgegen. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermögen bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen jedoch nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 20. Oktober 2006 – 2 BvR 1742/06, juris, Rn. 36).
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Das Beschleunigungsgebot erfasst das gesamte Strafverfahren und gilt demgemäß auch nach dem Urteilserlass bei der Urteilsabsetzung, der Urteilszustellung sowie der Zuleitung der Akten an das Rechtsmittelgericht (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2018 – 1 StR 36/17, NStZ 2018, 552, 553). Allerdings können Verzögerungen nach dem erstinstanzlichen Urteil geringer ins Gewicht fallen, weil sich durch den Schuldspruch, auch wenn das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs vergrößert, während die Unschuldsvermutung in geringerem Maße für den Angeklagten streitet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Dezember 2005 – 2 BvR 2057/05, juris Rn. 75; HansOLG Hamburg, Beschluss vom 21. Juli 2016 – 2 Ws 146/16, juris Rn. 31 m.w.N.).
Randnummer97
Im Rahmen der gebotenen Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Anzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dies macht eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs erforderlich (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Januar 2013 – 2 BvR 2098/12, juris, Rn. 42; Beschluss vom 20. Oktober 2006 – 2 BvR 1742/06, juris, Rn. 36).
Randnummer98
bb) Diesen Maßstäben wird die Verfahrensförderung in der Gesamtbetrachtung noch gerecht. Eine die Aufhebung des Haftbefehls gebietende Verletzung des Beschleunigungsgebotes ist unter Berücksichtigung der Umstände des konkreten Einzelfalles trotz nicht unerheblicher und jedenfalls in Teilen vermeidbarer Verzögerungen noch nicht gegeben.
Randnummer99
Im Einzelnen:
Randnummer100
(1) Hinsichtlich der den oben dargestellten Anforderungen entsprechenden Verfahrensförderung der vorliegenden Haftsache im Vor- und Zwischenverfahren sowie im Hauptverfahren bis zum 27. Juni 2022 nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen ausdrücklich Bezug auf seine Ausführungen in dem Beschluss vom 6. Juli 2022 (Az.: 1 Ws 72/22, S. 11 ff.). Für diese Phase des Verfahrens hat der Senat festgestellt, dass es insbesondere angesichts der zügigen Gestaltung des Vor- und Zwischenverfahrens, des frühzeitigen Verhandlungsbeginns circa zwei Monate nach Eingang der Anklage sowie der im Hauptverhandlungstermin am 27. Oktober 2021 angeordneten außerordentlich umfangreichen Selbstlesung (§ 249 Abs. 2 StPO) zu keinen durchgreifenden Verfahrensverzögerungen kam.
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(2) Im Hinblick auf das Hauptverfahren seit dem 27. Juni 2022 bis zur Absetzung der schriftlichen Urteilsgründe am 5. Mai 2023 nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug auf seine uneingeschränkt auch für den Angeklagten V. geltende Ausführungen in dem Beschluss vom 20. Juli 2023 betreffend den Mitangeklagten Aslan (Az.: 1 Ws 62/23, S. 11 ff.).
Randnummer102
(3) Eine verfassungswidrige Verfahrensverzögerung ist jedoch darin zu erblicken, dass das Hauptverhandlungsprotokoll erst am 22. Juni 2023 fertiggestellt wurde und sodann am 26. Juni 2023 und damit siebeneinhalb Wochen nach Absetzen der schriftlichen Urteilsgründe die den Lauf der Revisionsbegründungsfrist auslösende Zustellung des Urteils verfügt wurde. Auch insoweit wird auf die auch für den Angeklagten V. geltenden Ausführungen in dem Beschluss des Senats vom 20. Juli 2023 betreffend den Mitangeklagten A. (Az.: 1 Ws 62/23, S. 24 f.) verwiesen.
Randnummer103
(4) Im Rechtsmittelverfahren ist es zu einer weiteren rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung von einem Monat gekommen. So wurde seitens des Landgerichts am 9. August 2023 – mithin sechs Tage nach Eingang der letzten Revisionsbegründung, so dass insoweit keine Verzögerung feststellbar ist – die Aktenübersendung an die Staatsanwaltschaft verfügt, ohne dass zuvor die bereits am 31. August 2023 eingegangene Revisionsbegründung des Mitangeklagten C. zur Akte genommen worden war. In der Folge gab die Staatsanwaltschaft, der die Akten am 16. August 2023 zugestellt worden waren, unter dem 29. August 2023 – mithin knapp zwei Wochen nach Akteneingang – eine Revisionsgegenerklärung lediglich im Hinblick auf die Revisionen des Beschwerdeführers und der Mitangeklagten G., C. und A. ab. Trotz der von § 347 Abs. 1 S. 2 StPO vorgesehenen Frist von einer Woche, bei der es sich jedoch nicht um eine Ausschlussfrist handelt, ist angesichts des Umfangs der Revisionsbegründungen – allein die des Angeklagten V. umfasst 696 Seiten – eine vermeidbare Verzögerung insoweit nicht gegeben.
Randnummer104
Nach Mitteilung der Revisionsgegenerklärung an die Verteidiger zwischen dem 20. und 29. September 2023 gelangte auf Nachfrage des Verteidigers des Angeklagten C. am 22. September 2023 auch dessen Revisionsbegründung zur Akte und wurde der Staatsanwaltschaft am 25. September 2023 zugestellt. Insoweit liegt eine vermeidbare Verzögerung des Verfahrens im Umfang von ca. einem Monat vor. Wäre die Revisionsbegründung des Angeklagten C. bereits mit den übrigen Revisionsbegründungen am 16. August 2023 der Staatsanwaltschaft zugestellt worden, wäre eine Aufnahme in die Revisionsgegenerklärung vom 29. August 2023 bzw. angesichts des Umfangs der Revisionsbegründung des Angeklagten C. von 698 Seiten wenige Tage später zu erwarten gewesen. Aufgrund der verzögerten Übermittlung gab die Staatsanwaltschaft nun aber ihre diesbezügliche Gegenerklärung – ohne dass es insoweit zu weiteren Verzögerungen kam – erst am 2. Oktober 2023 ab (LA Bd. 17, Bl. 5237 ff.).
Randnummer105
(5) Der weitere Verfahrensgang lässt keine Verzögerung mehr erkennen. Nach Kenntnisnahme der Gegenerklärung zur Revisionsbegründung des Angeklagten C. übersandte der Vorsitzende die Akte am 20. Oktober 2023 an die Staatsanwaltschaft. Ausweislich der Antragsbegründung der Generalstaatsanwaltschaft gingen die Akten dort am 30. November 2023 ein und wurden nach Durchführung der Revisionsvorprüfung am 11. Dezember 2023 an den Bundesgerichtshof abgesandt, wo sie am 15. Dezember 2023 vorlagen. Angesichts der Komplexität des Verfahrens mit fünf Angeklagten sowie dem Umstand, dass die Revisionen auch mit Verfahrensrügen begründet wurden, ist der Zeitraum von rund viereinhalb Monaten zwischen dem Ablauf der Revisionsbegründungsfristen am 3. August 2023 und dem Eingang der Akten beim Bundesgerichtshof am 15. Dezember 2023 – abgesehen von der verzögerten Zustellung der Revisionsbegründung des Angeklagten C. und der dadurch bedingten Verfahrensverzögerung um ca. einen Monat – im Verhältnis zum Umfang und zur Bedeutung der Sache noch angemessen.
Randnummer106
(6) In der gebotenen Gesamtschau der vorgenannten Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Angeklagten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit erweist sich der Verfahrensablauf im Ganzen – insbesondere auch unter Berücksichtigung des abgeschwächten Prüfungsmaßstabes ab erstinstanzlicher Verurteilung – als mit dem besonderen Beschleunigungsgebot in Haftsachen noch vereinbar.
Randnummer107
(a) Was die Verhandlungsdichte über die gesamte Dauer der Hauptverhandlung betrifft, war dies, wie bereits ausgeführt, für sich genommen angesichts der besonderen Umstände des Einzelfalles sowie unter Berücksichtigung der zügigen Förderung der Sache im Vor- und Zwischenverfahren und des in der ersten Phase der Hauptverhandlung angeordneten umfangreichen Selbstleseverfahrens, welches im weiteren Verlauf durch zwei weitere Selbstleseanordnungen ergänzt wurde, nicht geeignet, einen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen zu begründen.
Randnummer108
(b) Der in der sachwidrigen Verzögerung der Protokollfertigstellung begründete Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz und die hierdurch eingetretene Verzögerung der Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe um ca. siebeneinhalb Wochen begründet aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalles, insbesondere im Hinblick auf die Absetzung der schriftlichen Urteilsgründe deutlich vor Fristablauf, noch nicht einen derart gravierenden Mangel, als dass hierdurch die Aufhebung des Haftbefehls veranlasst wäre. Auch insoweit wird auf die Ausführungen im Beschluss des Senats vom 6. Juli 2022 betreffend den Mitangeklagten A. (Az.: 1 Ws 72/22, S. 26 f.) verwiesen, die uneingeschränkt auch für den Angeklagten V. gelten.
Randnummer109
Angesichts dessen, dass die Urteilsabsetzungsfrist vorliegend mit Blick auf die Komplexität und den Umfang des Verfahrens auch – ohne Verletzung des Beschleunigungsgebots – hätte ausgeschöpft werden können und die Protokollfertigstellung dann lediglich drei Tage später erfolgt wäre, fällt die verspätete Protokollfertigstellung im Rahmen der gebotenen Gesamtbetrachtung der im Hinblick auf die Wahrung des Beschleunigungsgebots maßgeblichen Umstände und unter Berücksichtigung, dass sich das Gewicht des staatlichen Strafverfolgungsinteresses vorliegend dadurch erhöht hat, dass im Rahmen einer durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung der dem Angeklagten vorgeworfenen Taten als erwiesen angesehen worden ist, nicht in einem Maße ins Gewicht, dass dies – auch unter Berücksichtigung der festgestellten Beschleunigung in anderen Verfahrensabschnitten – die Aufhebung des Haftbefehls gebieten würde.
Randnummer110
(c) Der in der verspäteten Übersendung der Revisionsbegründung des Mitangeklagten C. an die Staatsanwaltschaft zur Abgabe einer Revisionsgegenerklärung liegende Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz begründet auch im Rahmen einer Gesamtschau mit der bereits zuvor eingetretenen Verfahrensverzögerung durch die sachwidrige Verzögerung der Protokollfertigstellung ebenfalls noch nicht einen derart gravierenden Mangel, als dass hierdurch die Aufhebung des Haftbefehls veranlasst wäre. Insoweit überwiegt das staatliche Strafverfolgungsinteresse angesichts der Schwere der Tatvorwürfe und des im Übrigen beschleunigten Verfahrensablaufs noch den Freiheitsanspruch des Angeklagten V..
Randnummer111
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 S. 1 StPO.




Einsender: entnommen der Seite Justiz Hamburg

Anmerkung:


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