Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Hamm, Urt. v. 19.09.2024 - 5 ORs 37/24
Eigener Leitsatz:
1. Sind durch eine Straftat - wie vorliegend mehrere Opfer betroffen - so setzt ein Täter-Opfer-Ausgleich nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass hinsichtlich jedes Geschädigten in jedem Fall eine Alternative des § 46a StGB erfüllt sein muss.
2. Das Tatgericht kann sich bei seiner Strafzumessung von der Erwägung leiten lassen, potentielle Täter von der Begehung vergleichbarer Taten abzuhalten, denn es ist zulässig, generalpräventive Gesichtspunkte bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Allerdings dürfen dafür nur Umstände herangezogen werden, die über die bei der Bestimmung eines konkreten Strafrahmens vom Gesetzgeber bereits berücksichtigte allgemeine Abschreckung hinausgehen. Dies ist gegeben, wenn sich eine gemeinschaftsgefährdende Zunahme solcher oder ähnlicher Straftaten, wie sie zur Aburteilung stehen, feststellen lässt. Dazu müssen aber entsprechende Feststellungen getroffen werden.
In pp.
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das angefochtene Urteil im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens und die den Nebenklägern darin entstandenen notwendigen Auslagen - an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Essen zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht - Schöffengericht - Essen hat den Angeklagten am 14.12.2022 wegen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in vier rechtlich zusammentretenden Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten verurteilt.
Gegen dieses Urteil haben der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt, wobei die Staatsanwaltschaft diese nachträglich auf den Strafausspruch beschränkt hat. Mit Urteil vom 21.08.2023 hat das Landgericht Essen das angefochtene Urteil auf die Berufung des Angeklagten dahingehend abgeändert, dass der Angeklagte wegen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in vier Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt wird, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. Die Berufung der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht verworfen.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsurteils zündete der Angeklagte am 00.00.2022 beim Regionalligaspiel J. gegen N. anlässlich des Ausgleichstors von N. einen Knallkörper des Typs Crazy Robots (sogenannter Polenböller) in Kenntnis von dessen Gefährlichkeit und warf diesen zielgerichtet und mit Verletzungsvorsatz in Richtung der Nebenkläger. Bei den Nebenklägern handelt es sich um Ersatzspieler des N., die sich neben dem Spielfeld aufwärmten, den Athletiktrainer des Vereins sowie einen in der Nähe befindlichen Balljungen. Durch die Explosion des Knallkörpers erlitten die Nebenkläger im Einzelnen dargestellte Verletzungen, vor allem Knalltraumen, Hörstörungen und Ohrenschmerzen. Das Regionalligaspiel wurde daraufhin abgebrochen, das zuständige Sportgericht sprach dem Verein N. für das Spiel drei Punkte zu und belegte den Verein J. mit einer Geldstrafe.
Im Rahmen der Strafzumessung hat das Landgericht insbesondere ausgeführt, dass zu Gunsten des Angeklagten zwar keine Strafrahmenverschiebung nach § 46a StGB vorzunehmen sei, weil das in Aussicht gestellte Schmerzensgeld deutlich zu gering ausfalle. Der Täter-Opfer-Ausgleich sei im Rahmen der allgemeinen Strafzumessung jedoch strafmildernd zu berücksichtigen. Aus der sodann ausgeurteilten Einzelstrafe in Höhe von 2 Jahren Freiheitsstrafe und der durch das Amtsgericht Marl vom 16.02.2023 verhängten Geldstrafe sei nicht nachträglich eine Gesamtstrafe zu bilden, da die Tat der Vorverurteilung sich auf einem ganz anderen Rechtsgebiet (Nötigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Straßenverkehrsgefährdung sowie fahrlässige Straßenverkehrsgefährdung) ereignet habe, so dass es unangemessen sei, dem Angeklagten durch die Gesamtstrafenbildung eine weitere Rechtswohltat zukommen zu lassen. Schließlich lägen besondere Umstände vor, die eine Strafaussetzung zur Bewährung rechtfertigen würden. Der Angeklagte habe sich im Berufungsverfahren in vollem Umfang geständig eingelassen und sich seiner Verantwortung durch den Täter-Opfer-Ausgleich gestellt. Inzwischen hätten sich die Lebensverhältnisse des Angeklagten nachhaltig stabilisiert. Dieser gehe einer festen beruflichen Tätigkeit nach und sei inzwischen Vater eines zweiten Kindes, für welches er Verantwortung übernehme. Die hier in Rede stehende Tat sowie die Vorverurteilung fußten in dem übermäßigen Alkoholkonsum, welchen der Angeklagte zum Tatzeitpunkt gehabt habe. Mittlerweile nehme er therapeutische Hilfe in Anspruch und befinde sich in psychiatrischer Behandlung. Es sei davon auszugehen, dass er nunmehr seine Alkoholproblematik im Griff habe. Ferner wirke sein Vater stabilisierend auf ihn ein und er besuche keine Fußballspiele mehr, so dass ihm eine positive Legalprognose gestellt werden könne.
Das Urteil des Landgerichts Essen wurde der Staatsanwaltschaft Essen auf Anordnung der Vorsitzenden vom 20.09.2023 am 26.09.2023 zugestellt. Die Staatsanwaltschaft Essen hat mit Schreiben vom 21.08.2023, eingegangen per Telefax am 22.08.2023, Revision eingelegt und diese am 23.10.2023, eingegangen bei Gericht am 24.10.2023, begründet. Sie rügt die Verletzung materiellen Rechts.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat die Auffassung vertreten, dass die Staatsanwaltschaft die Revision konkludent auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt habe, und ist dieser beigetreten. Sie hat beantragt, das angefochtene Urteil im Rechtsfolgenausspruch mit den dazugehörigen Feststellungen aufzuheben und die Sache insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Essen zurückzuverweisen. Diesem Antrag hat sich der Vertreter der Nebenkläger zu 1) bis 3) angeschlossen. Der Angeklagte hat beantragt, die Revision (als unbegründet) zu verwerfen.
II.
Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft hat nach wirksamer Beschränkung des Rechtsmittels auf den Rechtsfolgenausspruch Erfolg.
1. Zutreffend legt die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Antragsschrift dar, dass die Revision konkludent nachträglich auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt wurde. Die Staatsanwaltschaft hat zwar zunächst mit Schreiben vom 21.08.2023 unbeschränkt Revision eingelegt und mit der Revisionsbegründung einschränkungslos beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben. Im Rahmen der ausgeführten Sachrüge hat sie indes ausschließlich die Strafzumessung sowie die Bewährungsentscheidung zu Lasten des Angeklagten angegriffen. Widersprechen sich indes - wie vorliegend - der Revisionsantrag der Staatsanwaltschaft und der Inhalt der Revisionsbegründung, ist das Angriffsziel des Rechtsmittels durch Auslegung zu ermitteln (BGH, Urteil vom 14.04.2022 - 5 StR 313/21 -, juris). Soweit die Staatsanwaltschaft die zu Lasten des Angeklagten eingelegte Revision neben konkreten Beanstandungen zur Strafzumessung auf die allgemeine Sachrüge stützt, ist dies dahin zu verstehen, dass allein der Rechtsfolgenausspruch angefochten wird und das Rechtsmittel nicht auf die konkreten Beanstandungen begrenzt bleiben soll (BGH, Urteil vom 14.04.2022 - 5 StR 313/21 -, juris). So verhält es sich hier. Bereits die Berufung hatte die Staatsanwaltschaft im Rahmen ihrer Berufungsbegründung vom 23.01.2023 nachträglich auf den Strafausspruch beschränkt (bei der Formulierung in der Berufungsbegründung "unter Beschränkung der Berufung auf den verhängten Schuldspruch" handelt es sich um ein offenkundiges Fassungsversehen). Zudem lässt sich den einzelnen in der Revisionsbegründung enthaltenen Revisionsangriffen entnehmen, dass die Staatsanwaltschaft das Urteil ausschließlich in Bezug auf den Rechtsfolgenausspruch für rechtsfehlerhaft hält.
2. Die Beschränkung der Revision der Staatsanwaltschaft auf den Rechtsfolgenausspruch ist wirksam, da das angefochtene Urteil die notwendigen Feststellungen enthält, um einen Schuldspruch wegen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in vier (tateinheitlichen) Fällen (§§ 308 Abs. 1, 223 Abs. 224 Abs. 1 Nr. 2, 52 StGB) zu begründen. Insbesondere entfaltet der vom Angeklagten geworfene, sogenannte "Polenböller" eine solche Sprengkraft, dass dieser eine Sprengstoffexplosion im Sinne von § 308 Abs. 1 StPO herbeigeführt hat (BGH, Urteil vom 28.06.2023 - 6 StR 118/23 -, Rn. 4, juris).
3)
Der Rechtsfolgenausspruch des Landgerichts hält der sachlichrechtlichen Überprüfung hingegen nicht stand.
a) Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des tatrichterlichen Ermessens und vom Revisionsgericht nur darauf zu prüfen, ob Rechtsfehler vorliegen. Das Revisionsgericht darf daher nur eingreifen, wenn die Strafzumessungserwägungen des Urteils in sich rechtsfehlerhaft sind, wenn der Tatrichter die ihm nach § 46 StGB obliegende Pflicht zur Abwägung der für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände verletzt, insbesondere rechtlich anerkannte Strafzwecke nicht in den Kreis seiner Erwägungen einbezogen hat, oder die Strafe bei Berücksichtigung des zur Verfügung stehenden Strafrahmens unvertretbar hoch oder niedrig ist (zuletzt OLG Hamm, Beschluss vom 19.11.2020 - III-4 RVs 129/20 -, Rn. 18, juris unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des BGH; vgl. BGH, Urteil vom 27.01.2015 -1 StR 142/14 -, juris m.w.N.; s. auch: Schmitt, in: Meyer-Goßner, 67. Auflage 2024, § 337 StPO Rn. 34).
aa)
Ein solcher Rechtsfehler liegt vorliegend im Hinblick auf die strafmildernde Würdigung des Täter-Opfer-Ausgleichs bzw. der Schadenswiedergutmachungsbemühungen vor.
(1) Sind durch eine Straftat - wie vorliegend mehrere Opfer betroffen - so setzt ein Täter-Opfer-Ausgleich nach ständiger Rechtsprechung voraus, dass hinsichtlich jedes Geschädigten in jedem Fall eine Alternative des § 46a StGB erfüllt sein muss (BGH, Urteil vom 12.01.2012 - 4 StR 290/11 -, juris m.w.N.). Der nach § 46a Abs. 1 Nr. 1 StGB notwendige kommunikative Prozess (vgl. hierzu: BGH, Urteil vom 11.09.2013 - 2 StR 131/13 -, Rn. 8, juris) hat nach den allein maßgeblichen Urteilsfeststellungen indes ausschließlich in der Hauptverhandlung am 21.08.2023 mit dem Nebenkläger D., nicht indes mit den weiteren, im Termin nicht anwesenden Nebenklägern stattgefunden.
(2) Soweit das Landgericht rechtsfehlerhaft den Täter-Opfer-Ausgleich bejaht hat, hat es allerdings keine Strafrahmenverschiebung vorgenommen, da das in Aussicht gestellte Schmerzensgeld deutlich zu gering bemessen sei. Vielmehr hat es die Bemühung des Angeklagten ausschließlich "im Rahmen der allgemeinen Strafzumessung" berücksichtigt. Das Landgericht verweist damit auf die im Katalog des § 46 Abs. 2 StGB genannte Zumessungstatsache "sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen".
In den Urteilsfeststellungen werden indes keine entsprechenden Bemühungen des Angeklagten dargelegt. Nach diesen hat der Angeklagte in der Berufungshauptverhandlung lediglich eine unverbindliche Absichtserklärung abgegeben und keine konkreten Anstrengungen zur Schadenswiedergutmachung unternommen. Obgleich der Angeklagte ausweislich der Feststellungen zur Person mit seiner Familie in geregelten finanziellen Verhältnissen lebt, überdies noch von seinem Vater finanziell unterstützt wird und die Tat im Urteilszeitpunkt bereits eineinhalb Jahre zurücklag, hat er nicht an einen einzigen Geschädigten die angebotene, aber ohnehin deutlich zu geringe Schmerzensgeldzahlung geleistet. Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte tatsächlich Bemühungen entfaltet, seine Ankündigung umzusetzen, sind den Urteilsfeststellungen nicht zu entnehmen.
bb) Keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft hingegen, dass das Landgericht die enorme abstrakte Gefährlichkeit des Sprengkörpers sowie die Gefahr schwerer und tiefer Gewebeschäden nicht noch einmal ausdrücklich als strafschärfenden Zumessungsgrund in die Strafzumessung eingestellt hat. Diesbezüglich ist zu berücksichtigen, dass eine erschöpfende Aufzählung aller Strafzumessungserwägungen weder vorgeschrieben noch möglich ist (BGH, Urteil vom 13.04.2023 - 4 StR 429/22 -, Rn. 30, juris). Was als wesentlicher Strafzumessungsgrund anzusehen ist, ist vielmehr unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls vom Tatrichter zu entscheiden (BGH, Urteil vom 13.04.2023 - 4 StR 429/22 -, Rn. 30, juris).
Vorliegend hat das Landgericht zum einen strafschärfend gewürdigt, dass der Angeklagte durch die Tat mehrere Personen verletzt hat. Es kann daher ausgeschlossen werden, dass dem Landgericht die von der Generalstaatsanwaltschaft beschriebene Gefährdung einer Vielzahl von Personen durch den geworfenen Sprengkörper außer Blick geraten ist. Zum anderen sind schwere und tiefe Gewebeschäden gerade die typischen Verletzungsfolgen, falls die von einer Sprengstoffexplosion ausgehende Gefährdung tatsächlich in einen Schaden umschlägt. Im Hinblick darauf, dass in dem hier zu entscheidenden Fall die Nettoexplosivmasse gerade einmal 5 Gramm betrug, kann überdies nicht davon ausgegangen werden, dass sich die vom Angeklagten geschaffene Gefährdungslage signifikant von der im Grundtatbestand stets angelegten Gefährdungslage nach oben hin abhob.
c) Nicht zu beanstanden ist weiterhin, dass das Landgericht sich in der Strafzumessung nicht von der Erwägung hat leiten lassen, potentielle Täter von der Begehung vergleichbarer Taten abzuhalten. Zwar ist es nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zulässig, generalpräventive Gesichtspunkte bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. Allerdings dürfen dafür nur Umstände herangezogen werden, die über die bei der Bestimmung eines konkreten Strafrahmens vom Gesetzgeber bereits berücksichtigte allgemeine Abschreckung hinausgehen. Dies ist gegeben, wenn sich eine gemeinschaftsgefährdende Zunahme solcher oder ähnlicher Straftaten, wie sie zur Aburteilung stehen, feststellen lässt (BGH, Beschluss vom 11.04.2013 - 5 StR 113/13 -, Rn. 6, juris; BGH, Urteil vom 05.10.2023 - 6 StR 299/22 -, Rn. 40, juris). Entsprechende Feststellungen sind durch das Landgericht indes nicht getroffen worden.
Die Zunahme gemeinschaftsgefähdender Straftaten in Fußballstadien durch das Werfen von Knallkörpern ist - anders als die Generalstaatsanwaltschaft meint - auch nicht als allgemeinbekanntes Phänomen anzusehen. Allgemeinkundig sind nur solche Tatsachen, von denen verständige und lebenserfahrene Menschen in der Regel Kenntnis haben oder über die sie sich ohne besondere Sachkunde mit Hilfe allgemein zugänglicher Erkenntnismittel jederzeit zuverlässig unterrichten können (Krehl, in: Karlsruher Kommentar, 9. Aufl. 2023, § 244 StPO Rn. 140). Als Erkenntnisquelle kann hierbei auf Nachschlagewerken, Bücher, Zeitungen oder sonstigen Nachrichtenmitteln wie etwa auch Internetseiten zurückgegriffen werden (BGH, Urteil vom 17.05.2018 - 3 StR 508/17 -, Rn. 11, juris).
Obgleich somit für die Allgemeinkundigkeit eine breite Informationsbasis zur Verfügung steht, sind vorliegend konkrete Statistiken, die eine Zunahmen von Fangewalt im allgemeinen und des Zündens von Knallkörpern in Fußballstadien im Besonderen belastbar belegen, nicht ersichtlich. Suchanfragen des Senats bei der Internetsuchmaschine K. zur Entwicklung der Gewaltbereitschaft von Fußballfans zeigen ein breites Meinungsspektrum auf. Ferner hat sich nach der Auskunft der Bundesregierung vom 07.08.2023 auf eine parlamentarische Anfrage zur Datei "Gewalttäter Sport" die Anzahl der erfassten Personen vom Jahr 2013 zum Jahr 2023 ungefähr halbiert (2013: 12.985 Personen; 2023: 5.712 Personen; BT-Drucks. 20/8008, S. 35). Auch wenn andere Erklärungsansätze für den Rückgang der Zahlen diskutiert werden (vgl. hierzu: https://www.sportschau.de/fussball/bundesliga/fussballdateigewalttaetersportrekordtief-100.htmlne), lässt sich hierdurch jedenfalls ein Anstieg der Gewaltbereitschaft nicht feststellen.
b) Des Weiteren kann der Strafausspruch aber auch deswegen keinen Bestand haben, weil das Landgericht das Absehen von der nachträglichen Gesamtstrafenbildung gem. §§ 55 Abs. 1 S. 1, 53 Abs. 2 S. 2 StGB mit der durch das Urteil des Amtsgerichts Marl vom 16.02.2023 verhängten Geldstrafe nicht hinreichend begründet hat.
Will das Tatgericht nach § 53 Abs. 2 S. 2 StGB von der Bildung einer Gesamtstrafe absehen, muss es dies stets besonders begründen und zu erkennen geben, dass es sich seines Ermessens bewusst gewesen ist. Das ausgeübte Ermessen muss in einer Weise dargelegt werden, die es dem Revisionsgericht ermöglicht, es auf Rechtsfehler zu überprüfen, insbesondere ob sich das Tatgericht bei seiner Entscheidung des Regel-Ausnahmeverhältnisses von § 53 Abs. 2 S.1 und 2 StGB bewusst gewesen ist (KG Berlin, Beschluss vom 09.09.2021 - (3) 161 Ss 99/21 (38/21) -, Rn. 5, juris).
Den vorbeschriebenen Anforderungen wird das landgerichtliche Urteil nicht gerecht. Soweit das Landgericht ausführt, dass "diese Tat sich auf einem ganz anderen Rechtsgebiet ereignet hat", verkennt es, dass sich die Anwendung von § 53 Abs. 2 S. 1 StGB nicht auf Taten mit vergleichbarer Deliktstruktur beschränkt, sondern auch dann anzuwenden ist, wenn sowohl die Art des Delikts als auch die konkreten Tatumstände keinerlei Bezug zueinander haben (s. hierzu ausführlich: KG Berlin, Beschluss vom 09.09.2021 - (3) 161 Ss 99/21 (38/21) -, Rn. 6, juris). Zudem lassen sich die weiteren Ausführungen, dass "dem Angeklagten durch eine Gesamtstrafenbildung eine weitere Rechtswohltat zukommen" würde, vor dem Hintergrund nicht nachvollziehen, dass die Gesamtstrafenbildung zu einer nicht mehr bewährungsfähigen Strafe geführt hätte.
c) Schließlich hat das Landgericht auch die Strafaussetzung zur Bewährung nicht rechtsfehlerfrei begründet. Auch bezüglich der Strafaussetzung zur Bewährung kann das Revisionsgericht nur unter den oben genannten Voraussetzungen zur Strafzumessung eingreifen (OLG Hamm, Urteil vom 21.03.2017 - III-4 RVs 18/17 -, Rn. 15, juris). Vorliegend erweist sich sowohl die Beurteilung der Legalprognose nach § 56 Abs. 1 StGB als auch die Bejahung der besonderen Umstände nach § 56 Abs. 2 StGB als rechtsfehlerhaft.
aa) Nach § 56 Abs. 1 StGB ist eine Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, wenn zu erwarten ist, dass der Angeklagte sich schon die Verurteilung selbst zur Warnung dienen lassen und auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird. Grundlage der Prognose des Tatgerichts müssen sämtliche Umstände sein, die Rückschlüsse auf die künftige Straflosigkeit des Angeklagten ohne Einwirkung des Strafvollzugs zulassen, insbesondere die in § 56 Abs. 1 S. 2 StGB "namentlich" aufgeführten. Dabei ist für die günstige Prognose keine sichere Erwartung eines straffreien Lebens erforderlich. Es reicht schon die durch Tatsachen begründete Wahrscheinlichkeit aus, dass der Angeklagte künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird (ständige Rechtsprechung; zuletzt: OLG Braunschweig, Urteil vom 22.03.2023 - 1 Ss 40/22 -, Rn. 40, juris)
bb) Besondere Umstände im Sinne im Sinne von § 56 Abs. 2 StGB sind solche, die im Vergleich mit gewöhnlichen, durchschnittlichen, allgemeinen oder einfachen Milderungsgründen von besonderem Gewicht sind und eine Strafaussetzung trotz des erheblichen Unrechtsgehalts und Schuldgehalts der Taten, wie er sich in der Höhe der Strafe widerspiegelt, als nicht unangebracht und den vom Strafrecht geschützten Interessen nicht zuwiderlaufend erscheinen lassen. Dazu können auch solche gehören, die schon für die Prognose nach § 56 Abs. 1 StGB zu berücksichtigen waren. Wenn auch einzelne durchschnittliche Milderungsgründe eine Aussetzung nicht rechtfertigen, verlangt § 56 Abs. 2 StGB keine "ganz außergewöhnlichen" Umstände. Vielmehr können sich dessen Voraussetzungen auch aus dem Zusammentreffen durchschnittlicher Milderungsgründe ergeben. Die besonderen Umstände müssen jedoch umso gewichtiger sein, je näher die Strafe an der Obergrenze von zwei Jahren liegt. Bei der Prüfung ist eine Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Angeklagten in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise vorzunehmen (ständige Rechtsprechung; zuletzt: OLG Braunschweig, Urteil vom 22.03.2023 - 1 Ss 40/22 -, Rn. 45, juris).
cc) Ausgehend von diesem Maßstab hält weder die Beurteilung der Legalprognose noch die Bejahung besonderer Umstände rechtlicher Nachprüfung stand.
Es lässt sich bereits nicht nachvollziehen, aus welchen Gründen das Landgericht von einer Stabilisierung der familiären Verhältnisse des Angeklagten ausgegangen ist. Nach den persönlichen Feststellungen ist der Angeklagte stets einer geregelten Tätigkeit nachgegangen und war bereits im Tatzeitpunkt Vater einer Tochter. Dass er gegenwärtig mit seinem Einkommen zum Familienunterhalt beiträgt und zwischenzeitlich Vater eines Sohnes geworden ist, hat seine Lebenssituation nicht grundlegend verändert.
Ferner erschließt sich nicht, aus welchen Gründen das Landgericht meint, dass der Angeklagte nunmehr seine Alkoholproblematik im Griff habe. Diesbezüglich wird lediglich ausgeführt, dass dieser auf Alkohol verzichte und psychotherapeutische Hilfe in Anspruch genommen habe. Weder werden der Umfang und der Behandlungsverlauf der psychotherapeutischen Unterstützung dargelegt, noch wird die Einlassung des Angeklagten, dass er mittlerweile keinen Alkohol mehr trinke, sowie die Belastbarkeit einer etwaigen Alkoholabstinenz kritisch überprüft.
Schließlich wird den verfestigten kriminellen Neigungen des Angeklagten zu geringe Bedeutung beigemessen. So stand der mehrfach vorbestrafte Angeklagte im Tatzeitpunkt nicht nur in zwei Strafverfahren unter laufender Bewährung, so dass ihm gleich doppeltes Bewährungsversagen zur Last fällt. Er hat zudem nach seiner Haftverschonung im Februar 2022 bereits im August 2022 eine weitere Straftat begangen. Hierdurch hat er eindrücklich seine rechtsfeindliche Einstellung dokumentiert. Damit liegen ganz erhebliche Strafschärfungsgründe vor. Diese stehen ersichtlich nicht nur einer positiven Legalprognose im Sinne von § 56 Abs. 1 StGB, sondern auch Milderungsgründen von besonderem Gewicht im Sinne von § 56 Abs. 2 StGB entgegen.
4. Aufgrund der aufgezeigten Mängel war das Urteil im Rechtsfolgenausspruch aufzuheben. Die Sache war an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Essen zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels nach § 354 Abs. 2 StPO zurückzuverweisen.
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