Gericht / Entscheidungsdatum: LG Bonn, Beschl. v. 04.10.2024 - 63 Qs 51/24
Eigener Leitsatz:
1. Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist ausnahmsweise zulässig.
2. Es existiert keine starre zeitliche Grenze, ab welcher eine Unverzüglichkeit nicht mehr gegeben ist.
Landgericht Bonn
In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.
Verteidiger:
hat die 13. große Strafkammer des Landgerichts Bonn auf die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Bonn vom 15.05.2024 - Az: 50 Gs 1923/24 - durch die Vorsitzende Richterin am Landgericht, den Richter am Landgericht und den Richter am Landgericht am 04.10.2024 beschlossen:
Auf die sofortige Beschwerde des vormaligen Beschuldigten werden die Beschlüsse des Amtsgerichts Bonn vom 15.05.2024 und vom 15.08.2024 aufgehoben und dem vormaligen Beschuldigten Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen
des vormaligen Beschuldigten werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe:
I.
Die Staatsanwaltschaft Bonn führte unter dem im Rubrum genannten staatsanwaltschaftlichen Aktenzeichen gegen den vormaligen Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Vergewaltigung nach § 177 Abs. 6 StGB. Diesem Verfahren lag die Angabe der
(im Folgenden: Zeugin pp.) vom 20.02.2024 zugrunde, der vormals Beschuldigte habe sie vergewaltigt und gewürgt. Die Zeugin pp. war zu diesem Zeitpunkt auf dem Hintergrund häuslicher Gewalt Beschuldigte einer Körperverletzung zum Nachteil des in diesem Verfahren vormals Beschuldigten. Aufgrund der Angaben der Zeugin erstellte die Kreispolizeibehörde Rhein-Sieg-Kreis am 19.03.2024 eine Strafanzeige. Diese enthielt weder Angaben zum Tatort noch Angaben zur Tatzeit oder konkretisierende Angaben zum Tathergang. Einziger Inhalt der Strafanzeige war Folgender:
„Die Geschädigte des hiesigen Vorgangs ist Beschuldigte einer Häuslichen Gewalt. Im Rahmen der Erläuterung des Rückkehrverbotes, gab sie an, dass sie von ihrem Ehemann vergewaltigt wurde. Weitere Informationen sind nicht bekannt. Weiteres siehe Vernehmung.“
Eine Vernehmung der Zeugin pp. vor dem 19.03.2024 befindet sich nicht in der Akte.
Mit zwei Schreiben vom 19.03.2024 lud die Kreispolizeibehörde Rhein-Sieg-Kreis die Zeugin pp.für den 16.04.2024 zur Zeugenvernehmung und den vormals Beschuldigten für den selben Tag zur Vorsprache bei der Dienststelle in Siegburg. In der Vorladung für den vormals Beschuldigten hieß es:
„in der Ermittlungssache wegen Vergewaltigung (ohne Widerstandsunfähige) (§ 177 Abs. 6 Ziffer 1, 2 StGB) in 00000 unbekannt in Deutschland, unbekannt, am ist Ihre Vernehmung als Beschuldigter erforderlich.“
Am 25.03.2024 wandte sich Rechtsanwalt pp. mit einem Schriftsatz an die Kreispolizeibehörde in Siegburg und bestellte sich zum Verteidiger des vormals Beschuldigten. Ferner stellte er einen Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger und beantragte die unverzügliche Vorlage bei dem zuständigen Amtsgericht. Er wies darauf hin, dass der vormals Beschuldigte auf sein Anraten hin einstweilen den Vernehmungstermin am 16.04.2024 nicht wahrnehmen werde.
Soweit der Akte zu entnehmen ist, reagierte die Kreispolizeibehörde auf dieses Schreiben nicht.
Am 16.04.2024 vernahm der zuständige Polizeibeamte die Zeugin pp. Sie gab an, sich zu dem Sachverhalt nicht mehr äußern zu wollen. Damals habe sie eine Anzeige erstatten wollen. Jetzt aber nicht mehr.
Mit Schreiben vom 18.04.2024 beantragte Rechtsanwalt pp. bei dem Amtsgericht Bonn die gerichtliche Entscheidung über seinen am 25.03.2024 bei der Kreispolizeibehörde eingegangen Pflichtverteidigerantrag. Das Amtsgericht leitete das Schreiben an die Staatsanwaltschaft Bonn weiter, wo es am 19.04.2024 einging.
Am 23.04.2024 fertigte der zuständige Polizeibeamte den Schlussvermerk und übersandte die Akte an die Staatsanwaltschaft Bonn. Die zuständige Staatsanwältin stellte daraufhin mit Verfügung vom 03.05.2024 das Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO ein. Die Einstellungsnachricht übersandte sie an Rechtsanwalt pp. mit dem Zusatz, dass sie davon ausgehe, der Beiordnungsantrag habe sich erledigt.
Mit Verfügung vom 13.05.2024 übersandte die Staatsanwaltschaft die Akte an das Amtsgericht Bonn zur Entscheidung über den Beiordnungsantrag. In dem der Verfügung beigefügten Vermerk weist die Staatsanwältin darauf hin, dass ihr das Schreiben von Rechtsanwalt pp. vom 18.04.2024 erst an diesem Tag vorgelegt worden sei, da es mangels Js-Aktenzeichen zuvor nicht habe zugeordnet werden können.
Mit Beschluss vom 15.05.2024 wies das Amtsgericht Bonn unter Hinweis auf die Einstellung des Verfahrens die Beiordnung als Pflichtverteidiger ab. Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde des vormals Beschuldigten, die Rechtsanwalt pp. am 22.05.2024 in seinem Namen und Auftrag eingelegt hat.
Mit Beschluss vom 15.08.2024 half das Amtsgericht der sofortigen Beschwerde nicht ab und wies auf die Begründung des Beschlusses vom 15.05.2024 hin. Der Vortrag von Rechtsanwalt pp. in der Beschwerdebegründung führe zu keiner Änderung der seitens des Amtsgerichts vertretenen Rechtsauffassung.
II.
Die zulässige sofortige Beschwerde hat in der Sache Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angegriffenen amtsgerichtlichen Beschlusses und Bestellung des Verteidigers als Pflichtverteidiger.
1. Der Nichtabhilfebeschluss vom 15.08.2024 war bereits deklaratorisch aufzuheben. Nach § 142 Abs. 7 S. 1 StPO sind gerichtliche Entscheidungen über die Bestellung eines Pflichtverteidigers mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar. Eine Abhilfemöglichkeit besteht hierbei nach § 311 Abs. 3 S. 1 StPO nicht.
2. Die sofortige Beschwerde ist zulässig.
Die sofortige Beschwerde ist form- und fristgerecht erhoben und es liegt insbesondere die erforderliche Beschwer vor.
Zwar stellt das Amtsgericht zutreffend fest, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Einstellung des Verfahrens grundsätzlich nicht mehr in Betracht kommt. Dies entspricht der gefestigten Kammerrechtsprechung. Eine etwaige Beschwer des Beschuldigten entfällt durch die angegriffene Entscheidung regelmäßig.
Die Kammer hat bereits in mehreren gleichgelagerten Beschwerdeverfahren entschieden, dass bei Einstellung eines Straf- bzw. Ermittlungsverfahrens gemäß § 154 StPO bzw. § 170 Abs. 2 StPO eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung nach § 142 StPO grundsätzlich nicht mehr in Betracht kommt. Dies gilt auch dann, wenn der Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers noch vor der Einstellungsentscheidung gestellt wurde. Die Pflichtverteidigerbestellung nach den §§ 140 ff. StPO liegt nämlich ausschließlich im öffentlichen Interesse zur Sicherung des Verfahrensablaufes und dient daher allein dem Schutz des Beschuldigten. Das Kosteninteresse eines Verteidigers soll hingegen durch die §§ 140 ff. StPO nicht geschützt werden (Beschlüsse vom 14.05.2021 – 63 Qs 33/21, vom 18.05.2021 – 63 Qs 41/21 und vom 19.07.2021 – 63 Qs 51/21, die Letztgenannte abrufbar unter juris).
Gründe von dieser Rechtsauffassung abzuweichen bestehen nicht.
Wie die Kammer aber auch in der Vergangenheit ausgeführt hat, kann dies im Einzelfall dann anders zu beurteilen sein, etwa wenn der Abweisung des Antrags auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers eine sachlich nicht gerechtfertigte, erhebliche Verzögerung der Verfahrensbehandlung vorausgegangen ist (Kammerbeschluss vom 06.12.2021 – 63 Qs 67/21).
Ein solcher Ausnahmefall ist hier gegeben.
Denn der Kreispolizeibehörde lag bereits am 25.03.2024 das Schreiben von Rechtsanwalt pp. mit dem Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO vor.
Gemäß § 142 Abs. 1 S. 2 StPO wäre die Akte mit dem Antrag des vormals Beschuldigten nach § 141 Abs. 1 S. 1 StPO unverzüglich dem Amtsgericht zur Entscheidung vorzulegen gewesen. Hingegen muss die Entscheidung nicht sofort getroffen werden, aber so zügig, dass die Verfahrensrechte des Beschuldigten gewahrt werden. Unverzüglich bedeutet dabei nicht sofort, sondern so bald wie möglich ohne schuldhaftes Zögern (Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Auflage 2023, § 141 Rn. 7). Justizinterne Gründe, die eine Verbescheidung des Antrags vor Abschluss des Verfahrens verhindert haben, können der Annahme von Unverzüglichkeit entgegenstehen.
Eine Reaktion der Kreispolizeibehörde auf den Antrag vom 25.03.2024 erfolgte jedoch nicht. Vielmehr blieb der Antrag bis zum 23.04.2024 und somit nahezu einen Monat unbearbeitet in der Akte. Die Staatsanwaltschaft wurde erst mit Übersendung der Akte am 23.04.2024 hierüber in Kenntnis gesetzt.
Zwar existiert keine starre zeitliche Grenze, ab welcher eine Unverzüglichkeit nicht mehr gegeben ist. Der Zeitablauf von einem Monat ist jedoch vor dem Hintergrund der konkreten Ausgestaltung der Vorladung des vormaligen Beschuldigten sowie der Erinnerung von Rechtsanwalt pp. an eine Bescheidung seines Antrages vom 18.04.2024 zu sehen. In der Vorladung wurde der vormalige Beschuldigte mit einem Delikt konfrontiert, welches eine Straferwartung von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe vorsieht. Eine wie auch immer geartete Konkretisierung des Vorwurfs beinhaltete die Vorladung jedoch nicht. Weder wurde der mutmaßliche Tatort noch die mutmaßliche Tatzeit mitgeteilt. Das Schreiben war bereits aus sich heraus völlig unverständlich. Die Unsicherheit, die mit einem derart offenkundig unvollständigen Schreiben angesichts des massiven Vorwurfs einhergeht, bedarf einer gesteigerten Bearbeitung von Verteidigereingaben. Zumal, wenn die Vernehmung der mutmaßlich Geschädigten noch über zwei Wochen in der Zukunft liegt, sodass ohne Weiteres eine Bescheidung des Antrages durch das Amtsgericht – auch unter Berücksichtigung einer Stellungnahme der Staatsanwaltschaft – möglich gewesen wäre. Hinzu kommt, dass der Verteidiger an die Bescheidung seines Antrages erinnert hat, auch wenn es sinnvoll gewesen wäre, dies auch der Kreispolizeibehörde bzw. der Staatsanwaltschaft und nicht lediglich dem Amtsgericht mitzuteilen. Zuletzt ist zu berücksichtigen, dass bei einer Straferwartung von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe die Voraussetzungen für eine Beiordnung als Pflichtverteidiger offenkundig vorlagen.
Gemessen hieran handelt es sich bei der konkret gegebenen Sachlage, um eine sachlich unbegründete, erhebliche Verzögerung, die vorliegend so schwer wiegt, dass dem vormaligen Beschuldigten – ausnahmsweise – ein Fortdauern der Beschwer zuzubilligen ist.
3. Die sofortige Beschwerde ist auch begründet.
Nach § 140 Abs. 2 StPO ist dem Beschuldigten u.a. dann ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn aufgrund der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Diese Voraussetzung war hier gegeben. Denn dem vormaligen Beschuldigte wurde ein Delikt zur Last gelegt, welches eine Mindestfreiheitsstrafe von zwei Jahren vorsieht.
4.
Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO.
Einsender: RA. Dr. P. R. Gülpen, Troisdorf
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