Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Urt. v. 18.10.2024 – 3 ORs 70/24 – 161 SRs 98/24
Leitsatz des Gerichts:
1. Die erlittene Untersuchungshaft ist für die Strafzumessung regelmäßig ohne Bedeutung, weil sie nach § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB auf die zu vollstreckende Strafe angerechnet wird.
2. Etwas anderes kann gelten, wenn der Angeklagte konkrete Umstände der Untersuchungshaft als besonders beschwerend empfunden haben könnte. In diesem Fall können die belastenden Auswirkungen über die kompensierende Wirkung der gesetzlichen Anrechnung hinausgehen.
3 ORs 70/24 - 161 SRs 98/24
In der Strafsache
gegen pp.
wegen gefährlicher Körperverletzung
hat der 3. Strafsenat des Kammergerichtsaufgrund der Hauptverhandlung vom 18. Oktober 2024, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Kammergericht A
als Vorsitzende,
Richterin am Kammergericht B,
Richter am Kammergericht C
als beisitzende Richter,
Staatsanwalt D
als Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft Berlin,
Rechtsanwalt Dr. E
als Verteidiger,
Justizbeschäftigter F
als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft Berlin wird das Urteil des Landgerichts Berlin I vom 11. Januar 2024 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe :
Das Amtsgericht Tiergarten hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten verurteilt. Zugleich hat ihn das Amtsgericht verurteilt, 36.500 Euro an die durch die Taten geschädigte Adhäsionsklägerin zu zahlen, und es hat festgestellt, dass der Angeklagte ihr sämtliche aus den Taten resultierende materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen hat. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte Berufung eingelegt, die er auf den Strafausspruch beschränkt hat. Der Schuldspruch und die Adhäsionsentscheidung sind hierdurch rechtskräftig geworden.
Nach den rechtskräftigen Feststellungen steht fest, dass der Angeklagte die Geschädigte, seine Lebensgefährtin, im Jahr 2022 dreimal über längere Zeiträume schwer und exzessartig misshandelt hat. Aufgrund der ersten Tat erlitt die Geschädigte zwei tischtennisballgroße Gewebeanschwellungen am Hinterkopf und mehrere Hämatome an Körper und Extremitäten. Aufgrund der zweiten Tat erlitt die Geschädigte eine zwei cm lange tief klaffende und blutende Rissquetschwunde am kleinen Finger, die genäht werden musste und später bei dauerhaftem Taubheitsgefühl vernarbt ist. Im Verlaufe des dritten Gewaltexzesses erlitt die Geschädigte multiple Hämatome, schmerzhafte Prellungen und Schwellungen und multifragmentäre Frakturen der Orbita (Augenhöhle). Sie wurde mehrfach operiert, wobei Implantate in die Augenhöhlen eingebracht wurden. Sie litt in der Folge unter – teilweise bis heute andauerndem – Taubheitsgefühl und Geruchs- und Geschmackverlust. An der Lippe blieben Vernarbungen zurück. Sie leidet zudem unter sog. Lagerungsschwindel. Weiter gehen eine akute Belastungsstörung, eine Posttraumatische Belastungsstörung, starke Schlafstörungen sowie Alpträume/Flashbacks auf die Tat zurück.
Das Landgericht Berlin I hat das angefochtene Urteil dahin abgeändert, dass der Angeklagte bei Einzelfreiheitsstrafen von neun und sieben Monaten sowie einem Jahr und acht Monaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden ist, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dabei hat es u.a. anerkannt, dass der Angeklagte unbestraft war, fünfeinhalb Monate Untersuchungshaft erlitten habe und knapp drei Monate lang dreimal wöchentlich eine Meldeauflage erfüllt habe. Zudem hat die Strafkammer zugunsten des Angeklagten berücksichtigt, dass er seine Berufung auf den Strafausspruch beschränkt „und hierdurch Reue und Einsicht in sein Fehlverhalten gezeigt“ habe. Als weitere strafmildernde Gesichtspunkte hat das Landgericht u.a. bewertet, dass der Angeklagte den Adhäsionsausspruch anerkannt und mit 28.000 Euro einen wesentlichen Teil erfüllt sowie an einem Anti-Gewalt-Training teilgenommen habe. Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft Berlin. Sie beanstandet die Strafzumessung und die Bewährungsentscheidung.
Das Rechtsmittel hat Erfolg. Die Strafzumessung leidet unter einem sachlich-rechtlichen Fehler.
1. Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Ein Eingriff des Revisionsgerichts ist nur möglich, wenn die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, von unzutreffenden Tatsachen ausgehen, das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein, so weit löst, dass sie nicht mehr innerhalb des dem Tatrichter eingeräumten Spielraums liegt (vgl. BGH StraFo 2017, 242). Nur in diesem Rahmen kann eine „Verletzung des Gesetzes“ nach § 337 Abs. 1 StPO vorliegen. Eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ist ausgeschlossen. In Zweifelsfällen muss das Revisionsgericht die vom Tatgericht vorgenommene Bewertung bis an die Grenze des Vertretbaren hinnehmen (vgl. für viele BGHSt 34, 345). Dabei ist der Tatrichter lediglich verpflichtet, in den Urteilsgründen die für die Strafzumessung bestimmenden Umstände darzulegen (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO); eine erschöpfende Aufzählung aller Strafzumessungserwägungen ist weder vorgeschrieben noch möglich. Was als wesentlicher Strafzumessungsgrund anzusehen ist, ist unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls vom Tatrichter zu entscheiden (vgl. BGH NStZ-RR 2012, 336 m.w.N.; Senat, Urteil vom 18. März 2021 – [3] 121 Ss 15/21 [7/21] –).
2. Trotz dieses eingeschränkten Prüfungsmaßstabs hält die konkrete Bemessung der vom Landgericht festgesetzten Einzelfreiheitsstrafen und der Gesamtfreiheitsstrafe revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.
a) Als fehlerhaft erweist sich die Tatsache, dass das Landgericht die vom Angeklagten erlittene Untersuchungshaft – zudem als ersichtlich zentralen Zumessungsgesichtspunkt – strafmildernd berücksichtigt hat. Denn in der Rechtsprechung ist anerkannt, dass die erlittene Untersuchungshaft für die Strafzumessung regelmäßig ohne Bedeutung ist, weil sie nach § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB auf die zu vollstreckende Strafe angerechnet wird (vgl. BGH NStZ-RR 2014, 106; NStZ 2011, 100). Etwas anderes kann gelten, wenn der Angeklagte konkrete Umstände der Untersuchungshaft als besonders beschwerend empfunden haben könnte (vgl. BGH NStZ-RR 2014, 106; StV 2009, 80). In diesem Fall können die belastenden Auswirkungen über die kompensierende Wirkung der gesetzlichen Anrechnung hinausgehen. Solche besonderen Umstände ergeben sich aus den Urteilsgründen aber nicht, und sie sind auch sonst nicht ersichtlich.
b) Hinzu kommt, dass das Landgericht die erlittene Untersuchungshaft zur Begründung dafür herangezogen hat, dass es die Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe wegen einer günstigen Kriminalprognose (§ 56 Abs. 1 StGB) und zusätzlicher besonderer Umstände (§ 56 Abs. 2 StGB) zur Bewährung ausgesetzt hat (UA S. 10). In diesem Fall verbietet sich von vornherein eine zusätzliche mildernde Berücksichtigung bei der Bemessung der Strafhöhe (vgl. BGH NStZ-RR 2014, 106; NJW 2006, 2645; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 7. Aufl., Rn. 742 m.w.N.).
3. Der Senat kann nicht ausschließen (§ 337 Abs. 1 StPO), dass das Landgericht andere Strafen festgesetzt hätte, wenn es die erlittene Untersuchungshaft nicht als strafmildernden Gesichtspunkt in die Strafzumessung eingestellt hätte. Die danach erforderliche Aufhebung der Einzelstrafen zieht diejenige des Gesamtstrafenausspruchs sowie der Strafaussetzung zur Bewährung nach sich. Da das Landgericht nach wirksamer Beschränkung der Berufung nur über den Strafausspruch entschieden hat, war das Urteil insgesamt aufzuheben.
Einsender: RiKG U. Sandherr, Berlin
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