Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Schleswig, Beschl. v. 18.11.2024 – 7 U 66/24
Leitsatz des Gerichts:
1. Fährt ein Rettungswagen im Einsatz (Blaulichtfahrt) gemäß §§ 35 Abs. 1, 38 Abs. 1 StVO berechtigt und mit einer zunächst der Situation angemessenen Geschwindigkeit bei Rotlicht in eine Ampelkreuzung ein, und biegt gleichwohl ein trotz Grünlicht gemäß § 38 Abs. 1 S. 2 StVO wartepflichtiger PKW vor dem Rettungswagen auf dessen Fahrspur ein, hat der Fahrer des Rettungswagens in Anwendung des § 38 Abs. 8 StVO i. V. m. § 3 Abs. 1 S. 2, § 4 Abs. 1 S. 1 StVO umgehend die Geschwindigkeit herabzusetzen und einen ausreichenden Sicherheitsabstand herzustellen.
2. Kommt es in einer solchen Situation zur Kollision, weil der PKW plötzlich bis zum Stillstand abgebremst wird und der Rettungswagen wegen des zu geringen Sicherheitsabstandes und / oder unangepasst hoher Geschwindigkeit nicht mehr angehalten werden kann und auf den PKW auffährt, kommt eine Haftungsverteilung von 70 % zu 30 % zulasten des PKW in Betracht.
In pp.
I. Die Klägerin wird gemäß § 522 Abs. 2 ZPO darauf hingewiesen, dass ihre Berufung gegen das angefochtene Urteil offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg bietet, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil nicht erfordert und eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist. Der Senat beabsichtigt deshalb, die Berufung aus den nachfolgenden Gründen ohne mündliche Verhandlung durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen.
II. Es besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen 3 Wochen, sofern die Berufung nicht aus Kostengründen innerhalb der genannten Frist zurückgenommen werden sollte.
III. Der Senat beabsichtigt, den Streitwert für den zweiten Rechtszug auf 16.035,44 € (Berufung des Klägers 6.723,15 €, Anschlussberufung der Beklagten 9.312,29 €) festzusetzen.
Gründe
I.
Die Parteien streiten um Schadensersatz wegen eines Verkehrsunfalls. Der Unfall ereignete sich am X gegen 16:55 Uhr bei Dunkelheit im Bereich der Kreuzung X-Straße und B in X. Beteiligt waren der im Notfalleinsatz befindliche Rettungswagen der Klägerin mit dem Kennzeichen X, der vom Zeugen M geführt wurde (RTW), und der von der Beklagten zu 1) geführte bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherte PKW mit dem Kennzeichen X, deren Halterin ebenfalls die Beklagte zu 1) ist.
Der Unfall ereignete sich wie folgt: Die Beklagte zu 1) befuhr die X-Straße aus Süden kommend und beabsichtigte nach links auf die B abzubiegen. Sie fuhr bei grüner Ampel auf der Linksabbiegerspur in die Kreuzung ein und verzögerte ihr Fahrzeug sodann wieder. Unklar ist, weshalb sie abbremste und ob sie ihr Fahrzeug in dieser Situation zum Stillstand brachte. Von rechts näherte sich auf der B aus östlicher Richtung der RTW, der mit eingeschaltetem Blaulicht und Einsatzhorn unter Befahren der dortigen Linksabbiegerspur mit ca. 30-35 km/h in die Kreuzung einfuhr. Der Zeuge M wollte zunächst rechts am PKW der Beklagten zu 1) vorbeifahren. Die Beklagte zu 1) setzte allerdings ihren Abbiegevorgang auf die B in fort, als der RTW allenfalls noch 10 m entfernt war. Die Fahrzeuge befanden sich nun hintereinander in gleicher Fahrtrichtung. Einige Meter weiter, im äußerst westlichen Kreuzungsbereich, bremste die Beklagte zu 1) ihr Fahrzeug plötzlich bis zum Stillstand ab und der RTW fuhr leicht nach rechts versetzt von hinten auf.
Der materielle Schaden der Klägerin beläuft sich - dies ist im Berufungsverfahren nicht mehr streitig - auf insgesamt 22.410,50 €. Vorgerichtlich hat die Beklagte zu 2) 6.375,06 € an die Klägerin gezahlt.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Beklagten hafteten zu 100 %. Die Beklagte zu 1) habe mit ihrem Verhalten den Anschein erweckt, den RTW wahrgenommen zu haben und zu warten. Stattdessen sei sie weitergefahren und habe nach dem Abbiegen direkt vor dem RTW stark gebremst. Der Zeuge M, der mit dem RTW unter Inanspruchnahme von Sonderrechten umsichtig, langsam und bremsbereit in die Kreuzung eingefahren sei, habe den Unfall nicht vermeiden können.
Die Klägerin hat (zuletzt) beantragt,
1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin weitere 16.900,44 € zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozent-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 20.01.2024 sowie Zinsen - auf den regulierten Betrag von 6.375,06 € - in Höhe 47,32 € zu zahlen;
2. die Beklagte werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 1.583,89 € als nicht streitwerterhöhende Nebenforderung nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;
hilfsweise zu 2),
3. die Beklagte als Gesamtschuldner zu verurteilen, die Klägerin von einer Forderung ihrer Prozessbevollmächtigten über 1.305,43 € vorgerichtliche Kosten nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit freizustellen.
Die Beklagten haben beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagten haben die Auffassung vertreten, sie hafteten allenfalls zu 50 %. Der RTW sei nach den Umständen zu schnell in die Kreuzung eingefahren; er hätte aufgrund der unübersichtlichen Verkehrssituation lediglich Schrittgeschwindigkeit fahren dürfen. Auch hätte der Zeuge M nicht darauf vertrauen dürfen, dass die Beklagte zu 1) den RTW wahrgenommen habe, denn für das Abbremsen vor dem Abbiegen hätten es auch andere Gründe geben können. Tatsächlich habe die Beklagte zu 1) den RTW vor dem Abbiegen nicht bemerkt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes sowie der tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts wird auf die angefochtene Entscheidung nebst darin enthaltenen Verweisungen Bezug genommen.
Das Landgericht hat nach Anhörung der Beklagten zu 1) und Vernehmung des Zeugen M der Klägerin weiteren Schadensersatz zu einer Mithaftungsquote der Beklagten von 70 % zugesprochen. Der Unfall sei für beide Seiten nicht unvermeidbar gewesen. Nach den getroffenen Feststellungen hätte die Beklagte zu 1) das seit mindestens 10 Sekunden vor Einfahrt des RTW in die Kreuzung eingeschaltete Martinshorn hören müssen. Der RTW sei mit 30-35 km/h gefahren. Ob die Beklagte zu 1) ihren PKW im Kreuzungsbereich bis zum Stillstand abgebremst habe, stehe nicht sicher fest. Die Beklagte sei sodann allenfalls 10 m vor dem RTW abgebogen und habe anschließend plötzlich abgebremst. Die Beklagte zu 1) habe gegen § 38 Abs. 1 S. 2 sowie § 4 Abs. 1 S. 2 StVO verstoßen. Der Klägerin sei ein Verstoß des Zeugen M gegen § 35 Abs. 8 StVO anzulasten, wonach die Sonderrechte nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden dürften. Aufgrund des Fahrverhaltens der Beklagten zu 1), die zunächst entgegen § 38 Abs. Abs. 1 S. 2 StVO in den Kreuzungsbereich eingefahren sei, dort kurz verzögert und sodann ihren Abbiegevorgang unmittelbar vor dem RTW fortgesetzt habe, habe eine unklare Verkehrslage bestanden, in der er seine Geschwindigkeit auf Schrittgeschwindigkeit hätte reduzieren müssen. In Anwendung des § 17 Abs. 2 StVG hafteten die Beklagten deshalb zu 70 % und die Klägerin zu 30 %; der Unfall sei überwiegend auf die Verstöße des Beklagten zu 1) zurückzuführen, wobei zulasten der Klägerin auch die erhöhte Betriebsgefahr durch die Inanspruchnahme von Sonderrechten zu berücksichtigen sei.
Hiergegen wenden sich die Klägerin mit ihrer Berufung und die Beklagten mit ihrer Anschlussberufung.
Die Klägerin trägt vor, das Landgericht habe zu Unrecht eine Mithaftung von 30 % in Ansatz gebracht. Der RTW sei für die Beklagte zu 1) visuell und akustisch gut wahrnehmbar gewesen. Diese sei mit ihrem PKW nach ihren eigenen Angaben zunächst im Kreuzungsbereich zum Stehen gekommen, was als zugestanden anzusehen sei. Der Zeuge M habe deshalb auf das Halten dieser Position vertrauen dürfen. Einen Fußgänger, der die B habe überqueren wollen, habe die Beklagte zu 1) gar nicht wahrgenommen. Eine „unübersichtliche“ Kreuzung habe nicht vorgelegen. Auf die Geschwindigkeit des RTW bei Einfahrt in den Kreuzungsbereich komme es letztlich nicht an, da der weitere Verstoß der Beklagten zu 1) gegen § 4 StVO zur Alleinhaftung der Beklagten führe. Ohne das abrupte Abbremsen der Beklagten zu 1) wäre es nicht zur Kollision gekommen.
Die Klägerin beantragt,
unter Abänderung des am 22.07.2024 verkündeten Urteils des LG Lübeck, Az.: 4 O 55/24, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen
1. an den Kläger weitere 6723,15 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20.04.2024 zu zahlen;
2. an den Kläger weitere 449,34 € vorgerichtliche Kosten als nicht streitwerterhöhende Nebenforderung nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz) seit dem 20.04.2024 zu zahlen.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Mit ihrer Anschlussberufung beantragen die Beklagten,
das angefochtene Urteil des LG Lübeck aufzuheben und die Klage auf die Anschlussberufung der Beklagten in vollem Umfang abzuweisen.
Die Klägerin beantragt weiter,
die Anschlussberufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beklagten wenden ein, das Landgericht habe der Klage zu Unrecht im zuerkannten Umfang entsprochen, indem es eine fehlerhafte Haftungsabwägung vorgenommen habe. Die Beklagte zu 1) habe bevorrechtigten Gegenverkehr und Fußgänger passieren lassen müssen. Nach Angaben des Zeugen M habe ein Fußgänger die B Richtung Süden überqueren wollen. Der Zeuge M hätte deshalb spätestens bei Wahrnehmung des Fußgängers die Geschwindigkeit des RTW auf Schrittgeschwindigkeit reduzieren müssen.
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien im zweiten Rechtszug wird auf die im Berufungsrechtszug gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
II.
Die Berufung der Klägerin ist nach einhelliger Auffassung des Senats unbegründet.
Gemäß § 513 ZPO kann eine Berufung nur auf eine Rechtsverletzung oder darauf gestützt werden, dass die gemäß § 529 ZPO zu berücksichtigenden Feststellungen ein anderes als das landgerichtliche Ergebnis rechtfertigen. Beides liegt für die Berufung der Klägerin nicht vor. Die Klägerin haftet für die Folgen des Unfalls gemäß §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 S. 1 StVG, 115 Abs. 1 VVG im Umfang von (zumindest) 30 % mit. Im Einzelnen:
1. Die Beweisaufnahme und -würdigung des Landgerichts ist nicht zu beanstanden. Das Landgericht hat die Beklagte zu 1) persönlich angehört und den Fahrer des RTW, den Zeugen M, als Zeugen vernommen. Das weitere Besatzungsmitglied des RTW befand sich während der Fahrt im hinteren Bereich des Fahrzeugs beim Patienten. Ferner hat das Landgericht die Aufzeichnung der Fahrtdaten des RTW (Anlage K 11) ausgewertet. Das auf dieser Grundlage gefundene Beweisergebnis ist gut nachvollziehbar. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 286 ZPO) berechtigt das Gericht, die im Prozess gewonnenen Erkenntnisse grundsätzlich nach seiner individuellen Einschätzung zu bewerten, wobei der Richter lediglich an die Denk-, Natur- und Erfahrungsgesetze gebunden ist (vgl. Zöller/Greger, ZPO, 35. Auflage 2024, § 286, Rn. 13). Ein Verstoß gegen diese Grundsätze ist nicht erkennbar. Im Übrigen steht die Wiederholung der Beweisaufnahme gemäß §§ 529, 531 ZPO nicht im reinen Ermessen des Berufungsgerichts. Sie ist im Sinne eines gebundenen Ermessens vielmehr nur dann zulässig, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen begründen und eine gewisse - nicht notwendig überwiegende - Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass im Fall einer Beweiserhebung die erstinstanzlichen Feststellungen keinen Bestand mehr haben werden, sich also ihre Unrichtigkeit herausstellt (Zöller/Heßler, a.a.O., § 529, Rn. 3). Solche konkreten Anhaltspunkte werden mit der Berufung letztlich nicht vorgetragen. Dass es das Landgericht als nicht sicher feststellbar erachtet hat, ob die Beklagte zu 1) nach dem Einfahren in den Kreuzungsbereich ihren PKW bis zum Stillstand abgebremst hat oder nicht, begegnet aus mehreren Gründen keinen Bedenken. Zum einen widerspricht die Angabe der Klägerin, sie sei stehen geblieben, der Aussage des Zeugen M, dessen Erinnerungen das Landgericht zu Recht als genauer gewertet hat als diejenigen der Beklagten zu 1). Zum anderen kommt es hierauf letztlich nicht entscheidend an, weil es für die Haftungsverteilung unerheblich ist, ob die Beklagte zu 1) zunächst stehen geblieben ist oder nicht (dazu sogleich).
2. Die vom Landgericht vorgenommene Abwägung gemäß § 17 Abs. 2 StVG ist ebenfalls nicht zu beanstanden und findet jedenfalls im Ergebnis die Billigung des Senats. Dabei ist zu differenzieren zwischen dem Einfahren der Beklagten zu 1) in die Kreuzung, ihrem Abbremsen auf der Kreuzung und schließlich ihrem erneuten abrupten Abbremsen unmittelbar nach dem Abbiegen.
a) Im Rahmen der bei einem Verkehrsunfall zweier Kraftfahrzeuge erforderlichen Abwägung gemäß § 17 Abs. 1 StVG ist auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen, insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dabei eine Abwägung und Gewichtung der jeweiligen Verursachungsbeiträge vorzunehmen, wobei eine umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eine genaue Klärung des Unfallhergangs geboten ist (BGH, Urteil vom 28.02.2012, VI ZR 10/11, Juris Rn. 6; OLG Frankfurt, Urteil vom 31.03.2020, 13 U 226/15, Juris Rn. 43). Im Rahmen der Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeuge ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige oder aber zugestandene und bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Jeder Halter hat dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er für die nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will. Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer Betracht zu bleiben (ständige Rechtsprechung des BGH, Urteil vom 21.11.2006, VI ZR 115/05, NJW 2007, 506; Urteil vom 27.06.2000, VI ZR 126/99, NJW 2000, 3069; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 26.07.2018, 1 U 117/17, Juris Rn. 5). Die jeweils ausschließlich unstreitigen oder nachgewiesenen Tatbeiträge müssen sich zudem auf den Unfall ausgewirkt haben. Der Beweis obliegt demjenigen, welcher sich auf einen in die Abwägung einzustellenden Gesichtspunkt beruft (BGH, Urteil vom 13.02.1996, VI ZR 126/95, NZV 1996, 231, 232; OLG Dresden, Urteil vom 25.02.2020, 4 U 1914/19, Juris Rn. 4 m.w.N.).
b) Zu Recht hat das Landgericht einen Verstoß der Beklagten zu 1) gegen § 38 Abs. 1 S. 2 StVO dadurch angenommen, dass sie überhaupt in den Kreuzungsbereich eingefahren ist, anstatt „sofort freie Bahn“ zu schaffen und stehenzubleiben. Denn sie hätte den RTW, der nach den getroffenen Feststellungen durchgehend das Blaulicht und mehr als 10 Sekunden lang das Einsatzhorn aktiviert hatte, wahrnehmen müssen. Es ist nach den Umständen nicht nachvollziehbar, wie sie das Einsatzfahrzeug nicht rechtzeitig wahrgenommen haben will. Akustische oder visuelle Einschränkungen bestanden offenbar nicht. Der Verstoß gegen § 38 Abs. 1 S. 2 StVO perpetuiert sich im Fortsetzen des Abbiegemanövers nach einer kurzen Verzögerung (ggf. bis zum Stillstand). Bis zu dieser Fortsetzung des Abbiegemanövers der Beklagten zu 1) stellt es auch keinen Verstoß des Zeugen M gegen § 35 Abs. 8 StVO dar, dass er die Geschwindigkeit des RTW von 30-35 km/h nicht auf Schrittgeschwindigkeit reduziert hat. Denn bis hierhin lag keine unübersichtliche Situation vor. Die erkennbare Verzögerung des PKW in der Mitte der Kreuzung konnte er als Zeichen werten, dass die Beklagte zu 1) den RTW wahrgenommen hat und ihn passieren lassen würde. Bei fehlendem Verkehr von rechts (aus Sicht der Beklagten zu 1) also Gegenverkehr) - was unstreitig ist -, war die Verzögerung des PKW nicht aus Rücksicht hierauf zu verstehen. Und auch der vom Zeugen M angegebene Fußgänger auf der anderen Seite der B war kein Grund, die Geschwindigkeit des RTW erheblich zu reduzieren, denn der Zeuge M durfte annehmen, dass der Fußgänger angesichts des unübersehbaren Einsatzfahrzeugs ohnehin stehen bleiben würde, so dass auch der PKW keinen Anlass hatte, allein deshalb zu warten. Zumal die Beklagte zu 1) den Fußgänger nach eigenem Bekunden nicht wahrgenommen hatte.
c) Die Situation änderte sich allerdings grundlegend, nachdem die Beklagte zu 1) mit ihrem PKW unter (fortgesetztem) Verstoß gegen § 38 Abs. 1 S. 2 StVG ihre Fahrt nebst Abbiegevorgang fortsetzte und hierbei sich nur einige Meter - nach den Feststellungen des Landgerichts allenfalls 10 m - vor den RTW fuhr. Dadurch musste dem Zeugen M klar werden, dass die Beklagte zu 1) den RTW trotz aller Licht- und Schallsignale und entgegen ihrem zuvor gesetzten Anschein durch die Verzögerung ihres Fahrzeugs auf der Kreuzung offenbar noch nicht wahrgenommen hatte. Spätestens in dieser Situation wäre es nach § 35 Abs. 8 StVO geboten gewesen, die Geschwindigkeit erheblich herabzusetzen (Anpassung gemäß § 3 Abs. 1 S. 2 StVO), einen ausreichenden Abstand einzuhalten bzw. herzustellen (§ 4 Abs. 1 S. 1 StVO) und ggf. i. S. v. § 1 Abs. 1, 2 StVO vorsichtig abzuwarten, wie sich das weitere Fahrverhalten des PKW darstellen würde. Mit weiteren Fehlleistungen der Beklagten zu 1) war zu rechnen, auch mit einer etwaigen Schreckreaktion bei überraschender Wahrnehmung des nunmehr unmittelbar hinter ihr befindlichen RTW. Hinzu kommt Folgendes: Der Zeuge M hätte nach eigenen Angaben mit dem RTW den PKW im Bereich auf und unmittelbar hinter der Kreuzung gar nicht überholen können, sondern hätte ohnehin abwarten müssen, bis der PKW an geeigneter Stelle Platz machen oder anhalten würde. Auch deshalb war er gehalten, einen ausreichenden Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden PKW einzuhalten.
d) Mit ihrem plötzlichen und abrupten Abbremsen nach Abschluss des Abbiegemanövers verstieß die Beklagte zu 1) gegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO, wonach ein Vorausfahrender nicht ohne zwingenden Grund stark abbremsen darf. Ein zwingender Grund bestand nicht, insbesondere nicht in der Befolgung der Anordnung des § 38 Abs. 1 S. 2 StVO. Denn „sofort freie Bahn“ zu schaffen ist nicht gleichzusetzen mit dem sofortigen Stehenbleiben. Es kommt vielmehr auf die Umstände des konkreten Einzelfalles an. Vorliegend wäre es geboten gewesen, bis zu einer geeigneten Stelle zum (geordneten) Stehenbleiben weiter zu fahren und den RTW sodann passieren zu lassen. Jedenfalls verbot sich ein unvermitteltes plötzliches Stehenbleiben noch im Kreuzungsbereich bei ohnehin (zu) geringem Abstand.
e) In der Abwägung ist der (erste) Verstoß der Beklagten zu 1) gegen § 38 Abs. 1 S. 2 StVO nur in dem Sinne zu berücksichtigen, dass er die Gefahr für das nachfolgende Unfallgeschehen erhöht hat. Das Einfahren in die Kreuzung, die Verzögerung auf der Kreuzung und das Weiterfahren und Abbiegen haben jedoch nicht unmittelbar zu der Kollision geführt, so dass es in dieser Situation auch nicht auf die Geschwindigkeit des RTW ankommt. Für die Bewertung dieser Situation macht es keinen Unterschied, ob die Beklagte zu 1) nur leicht verzögert oder auch angehalten hat.
Die wesentliche Unfallursache war sodann vielmehr das grundlose, plötzliche und abrupte Abbremsen des PKW bis zum Stillstand durch die Beklagte zu 1), auf das der Zeuge M im RTW aufgrund des zu geringen Abstandes nicht mehr rechtzeitig reagieren konnte. Die Abwägung der jeweiligen Verursachungsbeiträge führt auch unter Berücksichtigung der aufgrund der Einsatzfahrt (u.a. mit Rotlicht-„Verstoß“) erhöhten Betriebsgefahr des RTW zu einer überwiegenden Haftung der Beklagten, wobei jedoch eine gewisse Mithaftung der Klägerin im Umfang von (zumindest) 30 % verbleibt.
f) Ob der Haftungsanteil der Klägerin ggf. noch höher als 30 % anzusetzen wäre, ist Gegenstand der Anschlussberufung. Dieser Frage bedarf zum gegenwärtigen Zeitpunkt keiner weiteren Vertiefung, weil die Anschlussberufung im Falle der beabsichtigten Zurückweisung der klägerischen Berufung durch Beschluss ihre Wirkung verlieren würde (§ 524 Abs. 4 ZPO).
3. Ausführungen zur Schadenshöhe sind entbehrlich, nachdem im Berufungsrechtszug diesbezüglich keine Einwände gegen die landgerichtliche Entscheidung geltend gemacht werden.
4. Nach allem hat die Berufung der Klägerin offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg.
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