Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Celle, Beschl. v. 20.05.2019 - 2 Ws 141/19
Leitsatz: 1. Für das Entstehen der Gebühr Nr. 4141 VV RVG ist es erforderlich, dass eine Revisionshauptverhandlung anberaumt wurde oder konkrete Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass eine Hauptverhandlung durchgeführt worden wäre, wenn nicht die Revision zurückgenommen worden wäre (Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung des Senats, siehe Beschluss vom 19.07.2005, 2 Ws 151/05).
2. Ob eine Hauptverhandlung zu erwarten ist, lässt sich in der Regel erst beurteilen, wenn die Akten dem Revisionsgericht vorgelegt wurden.
3. Die Anknüpfung der Gebühr an die bloße Revisionsrücknahme oder das Vorliegen einer Revisionsbegründung widerspricht der gesetzgeberischen Intention, wonach eine Hauptverhandlung vermieden und eine Honorierung intensiver und zeitaufwendiger Tätigkeiten des Verteidigers erfolgen soll.
Oberlandesgericht Celle
Beschluss
2 Ws 141/19
In der Strafsache
gegen pp.
wegen gefährlicher Körperverletzung
hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Amtsgericht zu 1) durch den Richter am Amtsgericht als Einzelrichter allein am 20.05.2019 beschlossen:
1. Das Verfahren wird dem Senat zur Entscheidung übertragen.
2. Die Beschwerde des Verteidigers gegen den Beschluss des Landgerichts Hannover vom 04.01.2019 wird verworfen.
3. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Notwendige Auslagen werden nicht erstattet.
Gründe:
I.
Mit seiner Beschwerde wendet sich der am 22.12.2017 beigeordnete Pflichtverteidiger gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss des Landgerichts Hannover vom 04.01.2019.
Der Verurteilte wurde am 09.08.2018 durch das Landgericht Hannover wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. Am 16.08.2018 legt der Verurteilte über seinen Verteidiger gegen das Urteil Revision ein, die mit der allgemeinen Sachrüge im Schriftsatz vom 15.10.2018 begründet wurde. Mit Schriftsatz vom 12.11.2018 nahm der Verteidiger namens und im Auftrag des Verurteilten die Revision zurück. Das Landgericht entschied am gleichen Tag, dass der Verurteilte die Kosten der von ihm eingelegten Revision zu tragen hat.
Mit Kostenfestsetzungsantrag vom 03.12.2018 begehrte der Verteidiger u.a. die Erstattung der Verfahrensgebühr Nr. 4141 VV RVG in Höhe von 492,- . Das Landgericht holte eine Stellungnahme der Bezirksrevisorin ein und wies mit Schreiben vom 17.12.2018 darauf hin, dass die Gebühr nicht berücksichtigt werden könne, weil keine konkreten Anhaltspunkte bestünden, dass im Falle einer Fortführung des Rechtsmittelverfahrens eine Hauptverhandlung durchgeführt worden wäre. Mit Schriftsatz vom 19.12.2018 legte der Verteidiger Erinnerung gegen die Kostenentscheidung ein.
Der anschließende Kostenfestsetzungsbeschluss vom 04.01.2019 umfasste alle im Antrag geltend gemachten Gebühren mit Ausnahme der Verfahrensgebühr 4141 RVG nebst anteiliger Umsatzsteuer. Gegen den am 14.01.2019 zugestellten Beschluss wendet sich der Verteidiger mit seiner am gleichen Tag beim Landgericht eingegangenen Beschwerde.
Die Rechtspflegerin beim Landgericht wies die sofortige Beschwerde durch Beschluss vom 04.02.2019 zurück und legte die Sache dem Senat anschließend zur Entscheidung vor.
II.
Das Verfahren wird dem Senat gem. § 56 Abs. 2 in Verbindung mit § 33 Abs. 8 Satz 2 RVG übertragen, weil die Sache besondere Schwierigkeiten rechtlicher Art aufweist.
III.
1.Die gem. § 56 Abs. 2 i.V.m. § 33 Abs. 3 RVG statthafte Beschwerde ist zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegt, § 33 Abs. 3 Satz 3 RVG. Der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteigt die Grenze des § 33 Abs. 3 Satz 1 RVG.
Soweit der Verteidiger bereits gegen das landgerichtliche Schreiben vom 17.12.2018 Erinnerung eingelegt hat, fehlte es an der Statthaftigkeit der Erinnerung, da ein Rechtsmittel erst nach Erlass der angefochtenen Entscheidung eingelegt werden kann (BGHSt 25, 187, 189). Abzustellen ist auf den Eingang des Rechtsmittels bei Gericht (OLG Jena NStZ-RR 2012, 180). Der Schriftsatz ging am 19.12.2018 ein, der Beschluss datiert vom 04.01.2019.
Die Zurückweisung der nachfolgend eingelegten Beschwerde durch das Landgericht vom 04.02.2019 ist als Nichtabhilfeentscheidung i.S.v. § 33 Abs. 4 Satz 1, 2. Halbsatz RVG auszulegen.
2. Die Beschwerde ist jedoch unbegründet.
Die Gebühr nach Nr. 4141 VV RVG setzt voraus, dass durch die anwaltliche Mitwirkung eine Hauptverhandlung entbehrlich wurde. Mit der Gebühr soll eine intensive und zeitaufwendige Tätigkeit des Verteidigers, die zur Vermeidung der Hauptverhandlung und damit beim Verteidiger zum Verlust der Hauptverhandlungsgebühr führt, gebührenrechtlich honoriert werden (BT-Dr. 15/1971, 227; vgl. OLG Celle, Beschluss vom 22.01.2014, 1 Ws 19/14; OLG München, Beschluss vom 16.10.2012, 4 Ws 179/12 (K); OLG Oldenburg NStZ-RR 2011, 96; OLG Koblenz, Beschluss vom 15.05.2008, 1 Ws 229/08; Mayer/Kroiß, RVG, 7. Auflage, 2018, RVG Nr. 4141-4147 VV, Rn. 2; Gerold/Schmidt, RVG, 23. Auflage, 2017, VV 4141, Rn. 1; Bischof/Jungbauer u.a., RVG, 8. Auflage, 2018, Nrn. 4100-4304 VV, Rn. 107) Dies gilt auch, wenn wie hier eine Revision zurückgenommen wurde (so explizit Abs. 1 Ziff. 3 der Norm).
Unter welchen Voraussetzungen die vorgenannte Gebühr bei der Rücknahme einer Revision jedoch entsteht, ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten: Eine Auffassung macht das Entstehen der Gebühr nicht von weiteren Voraussetzungen abhängig (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 12.09.2005, 1 Ws 288/05; LG Hagen, Beschluss vom 23.02.2006, 51 KLs 400 Js 815/04 (21/05); LG Verden StraFo 2005, 439; Gerold/Schmidt, VV 4141, Rn. 39; Schons/Enders, RVG, 3. Auflage, 2017, Nr. 4141 VV, Rn. 37; Schneider/Wolf, RVG, 8. Auflage, 2017, VV 4141, Rn. 136 ff., insbes. Rn. 137). Bereits der Wortlaut der detaillierten Regelung sei insoweit eindeutig (Schneider/Wolf, VV 4141, Rn. 137). Zudem habe nach vorheriger Rechtslage § 84 Abs. 2 BRAGO mangels Verweisung in § 86 BRAGO nicht für das Revisionsverfahren gegolten. Soweit eine analoge Anwendung befürwortet wurde, wurde verlangt, dass ausnahmsweise eine Hauptverhandlung anberaumt worden war (eine entsprechende Anwendung ablehnend: OLG Zweibrücken, Beschluss vom 27.01.2004, 1 Ws 559/03 und OLG Saarbrücken AGS 2004, 154 mit entsprechenden Nachweisen der Gegenmeinung). Weil der Gesetzgeber jedoch in Kenntnis dieses früheren Streits das Entstehen der Verfahrensgebühr nicht an weitere Voraussetzungen geknüpft habe, sei auch keine weitere ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung zu fordern (vgl. LG Verden StraFo 2005, 439; Gerold/Schmidt, VV 4141, Rn. 39; a.A. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 17.05.2005, 1 Ws 164/05). Andernfalls würde der Verteidiger bestraft werden, der dem Gericht Mehrarbeit erspare, indem er etwa erst gar keine Revisionsbegründung einreiche, sondern die Revision nach Prüfung der Sach- und Rechtslage nach Beratung mit dem Mandanten zurücknehme (Schons/Enders, VV Nr. 4141, Rn. 37). Zudem müsse das Gericht die Revision auch ohne Hauptverhandlung prüfen und über sie entscheiden. Dieser Mehraufwand werde durch die Rücknahme gerade vermieden (Schneider/Wolf, VV 4141, Rn. 138).
Eine weitere Auffassung verlangt für das Entstehen der Gebühr mindestens die Begründung der Revision (OLG Hamm, Beschluss vom 17.08.2006, 2 Ws 134/06). Dabei sei zu berücksichtigen, dass der Schwerpunkt der anwaltlichen Tätigkeit im Revisionsverfahren regelmäßig die Begründung der Revision sei (KG Berlin, Beschluss vom 28.06.2005, 5 Ws 311/05) und dass mit der Begründung wenigstens schon die theoretische Möglichkeit der Anberaumung eines Verhandlungstermins nach § 350 StPO bestehe (OLG Braunschweig, Beschluss vom 16.03.2006, Ws 25/06).
Die überwiegende obergerichtliche Rechtsprechung folgert demgegenüber aus dem Normzweck, dass für das Entstehen der Gebühr erforderlich sei, dass Revisionshauptverhandlungstermin anberaumt ist bzw. konkrete Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass eine Hauptverhandlung durchgeführt worden wäre, wenn nicht die Revision zurückgenommen worden wäre (OLG Braunschweig, Beschluss vom 08.03.2016, 1 Ws 49/16; OLG München, Beschluss vom 16.10.2012, 4 Ws 179/12 (K); OLG Oldenburg NStZ-RR 2011, 96 und OLG Hamburg, Beschluss vom 16.06.2008, 2 Ws 82/08 jeweils m.w.N; so auch Mayer/Kroiß, RVG, RVG Nr. 4141-4147 VV, Rn. 11, Riedel/Sußbauer, RVG, 10. Auflage, 2015, VV 4141, Rn. 22 und Hartmann, Kostengesetze, 48. Auflage, 2018, VV 4141, Rn. 6; offenlassend: Bischof/Jungbauer u.a., Nrn. 4100-4304 VV, Rn. 116). Denn aufgrund einer (zulässigen) Revision finde in aller Regel eine Hauptverhandlung nicht statt, vielmehr werde von wenigen Ausnahmen abgesehen im Beschlusswege nach § 349 Abs. 2 oder § 349 Absatz 4 StPO entschieden (OLG Oldenburg NStZ-RR 2011, 96). Ob eine Hauptverhandlung zu erwarten ist, lasse sich in der Regel jedenfalls nicht beurteilen, solange die Revision nicht dem Revisionsgericht vorgelegt worden sei (OLG Braunschweig, Beschluss vom 08.03.2016, 1 Ws 49/16; OLG Celle, Beschluss vom 22.01.2014, 1 Ws 19/14; OLG Rostock, Beschluss vom 06.03.2012, I Ws 62/12 (RVG); OLG Oldenburg NStZ-RR 2011, 96; Mayer/Kroiß, RVG, RVG Nr. 4141-4147 VV, Rn. 11). Konkrete Anhaltspunkte ließen sich auch aus einem entsprechenden Antrag in der Zuschrift des Generalstaatsanwalts entnehmen (OLG Naumburg, Beschluss vom 17.06.2013, 1 Ws 335/13; OLG Hamburg, Beschluss vom 16.06.2008, 2 Ws 82/08; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 09.10.2007, 2 Ws 228/07) oder bereits zuvor aus Erörterungen zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung, in denen die beiderseitige Revisionsrücknahme erörtert wurde und dann auch erfolgt (OLG Braunschweig, Beschluss vom 08.03.2016, 1 Ws 49/16). Für diese Auffassung spreche, dass ansonsten der Verteidiger, der die Revision durchführt, regelmäßig gebührenrechtlich schlechter stünde als der, der sie zurücknimmt, weil dieser zusätzlich zu der meist anfallenden Gebühr nach Nr. 4130/4131 VV-RVG (Revisionsverfahren ohne Hauptverhandlung) noch die Gebühr nach Nr. 4141 VV-RVG erhielte (vgl. nur OLG Koblenz, Beschluss vom 15.05.2008, 1 Ws 229/08). Im Übrigen könne dies einen finanziellen Anreiz zur Einlegung und alsbaldigen Zurücknahme von Revisionen schaffen, der der Intention des Gesetzgebers nicht entspreche (OLG Oldenburg NStZ-RR 2011, 96; vgl. auch OLG Köln, Beschluss vom 18.04.2008, 2 Ws 164/08).
Der Senat schließt sich der letztgenannten Auffassung an. Dafür sprechen die historische und die teleologische Auslegung der Norm. Die Zusatzgebühr Nr. 4141 VV RVG soll den Anreiz erhöhen, Verfahren ohne Hauptverhandlung zu erledigen (vgl. BT-Dr. 15/1971, 227 f.). Zwar würde die eben ausgeführte gebührenrechtliche Besserstellung des Verteidigers, der eine Revision zurücknimmt, für sich betrachtet zu einem Anreiz führen, Revisionen zurückzunehmen. Bei einer gebührenrechtlichen Gesamtbetrachtung würde eine solche gebührenrechtliche Differenzierung jedoch zugleich einen Anreiz dafür bieten, Revisionen überhaupt erst einzulegen und sie dann alsbald zurückzunehmen. Folglich würde bei der gebotenen Gesamtbetrachtung die Gegenauffassung, wonach das Entstehen der Gebühr der Nr. 4141 VV RVG keine weiteren Voraussetzungen als das Einlegen der Revision erfordere, gerade nicht der gesetzgeberischen Intention entsprechen.
Gleiches gilt für die vermittelnde Auffassung, wonach für das Entstehen der Gebühr vor der Rücknahme der Revision lediglich eine Revisionsbegründung erforderlich sei. Hiervon wäre nämlich auch die bloße allgemeine Sachrüge, die in der Praxis den weit überwiegenden Teil ausmacht, umfasst. Jedoch hat der Gesetzgeber wie oben ausgeführt eine Honorierung intensiver und zeitaufwändiger Tätigkeiten des Verteidigers sowie eine Entlastung der Revisionsgerichte beabsichtigt. Diesen Zwecken wäre so folglich nicht Rechnung getragen.
Der Wortlaut von Nr. 4141 VV RVG ist zudem keineswegs eindeutig, wie die erstgenannte Auffassung meint: Nach dem einleitenden Satz soll durch die anwaltliche Mitwirkung die Hauptverhandlung entbehrlich werden. Zwar mag die erstgenannte Auffassung für sich in Anspruch nehmen, dass (jedenfalls) durch die Revisionsrücknahme eine (etwaige) Hauptverhandlung entfällt. Sie berücksichtigt aber nicht ausreichend, dass der Gesetzgeber explizit an das Erfordernis einer Hauptverhandlung anknüpft und nicht an das einer verfahrensabschließenden Entscheidung des Gerichts, etwa eines in der gerichtlichen Praxis weit überwiegend vorkommenden Beschlusses. Die Systematik von Nr. 4141 VV RVG lässt die Bedeutung des Erfordernisses der Vermeidung einer Hauptverhandlung ebenfalls erkennen: So wird auch in Absatz 3 darauf abgestellt, dass sich die Höhe der Gebühr nach dem Rechtszug bestimmt, in dem die Hauptverhandlung vermieden wurde.
Soweit sich aus dem Beschluss des Senats vom 19.07.2005 (2 Ws 151/05), mit dem die Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Verden vom 16.06.2005 (3-19/04 = StraFo 2005, 439), welches sich der erstgenannten Auffassung angeschlossen hatte, verworfen wurde, etwas anderes ergibt, hält der Senat an dieser Rechtsauffassung nicht weiter fest.
Da die Revision hier dem Revisionsgericht noch nicht vorgelegt worden war und auch keine sonstigen konkreten Anhaltspunkte für die Anberaumung eines Revisionshauptverhandlungstermins gegeben sind, ist die Gebühr Nr. 4141 VV RVG nicht entstanden.
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 56 Abs. 2 Satz 2 und 3 RVG.
V.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 304 Abs. 4 StPO).
Einsender: 2. Strafsenat des OLG Celle
Anmerkung:
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