Diese Homepage verwendet Cookies, um Inhalte und Anzeigen zu personalisieren, Funktionen für soziale Medien anbieten zu können und die Zugriffe auf die Website zu analysieren. Außerdem gebe ich Informationen zu Ihrer Nutzung meiner Website an meine Partner für soziale Medien, Werbung und Analysen weiter.

OK Details ansehen Datenschutzerklärung

RVG Entscheidungen

Vorbem. 4 Abs. 1 VV

Pflichtverteidiger, beschränkte Bestellung, Abrechnung

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Aachen, Beschl. v. 29.10.2020 - 60 Qs 47/20

Leitsatz: Dem für einen Verhandlungstag als sog. Terminsvertreter beigeordneten Pflichtverteidiger stehen sämtliche im Einzelfall verwirklichten Gebührentatbestände des Teils 4 Abschnitt 1 VV zu (Anschluss an OLG Köln, Beschl. v. 26.03.2010 - 2 Ws 129/10; entgegen OLG Braunschweig, Beschl. v. 15.07.2015 - 1 Ws 103/15; OLG Celle, Beschl. v. 19.09.2018 - 3 Ws 221/18).


In pp.

Der Nichtabhilfebeschluss des Amtsgerichts PP. vom 28.09.2020 (Az.: 620 Gs 1118/20 - 603 Js 1760/18) wird aufgehoben.

Die Sache wird an das Amtsgericht pp. zurückverwiesen.

Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Gründe

I.

Mit Antrag vom 13.05.2020 hat die Staatsanwaltschaft PP. unter dem Az.: 603 Js 1760/18 einen Antrag auf Erlass eines Haftbefehls gegen den in dieser Sache Beschuldigten bei dem Amtsgericht PP. - Ermittlungsrichter - gestellt. Mit Beschluss vom 15.05.2020 hat das Amtsgericht PP. - Ermittlungsrichterin - (Az.: 620 Gs 720/20) gegen den Beschuldigten antragsgemäß einen Haftbefehl erlassen wegen des dringenden Verdachts, vom 16.11.2018 bis 21.11.2018 in Aachen durch drei selbstständige Handlungen einen Diebstahl begangen zu haben, bei dem er zur Ausführung der Tat in eine dauerhaft genutzte Privatwohnung einbrach, sowie einen Diebstahl begangen zu haben, wobei er zur Ausführung der Tat in einen Gemeinschaftsraum mit einem falschen Schlüssel eindrang und zur Täuschung im Rechtsverkehr eine unechte Urkunde hergestellt und gebraucht zu haben.

Mit staatsanwaltschaftlicher Verfügung vom 25.05.2020 ist der Beschuldigte zur Fahndung ausgeschrieben worden und nach Festnahme am 13.07.2020 aufgrund des Haftbefehls vom 15.05.2020 am gleichen Tag bei dem Amtsgericht PP. vorgeführt worden. In dem Protokoll über die Vorführung heißt es unter anderem:

"Vor Beginn der Haftvorführung wurde der Beschuldigte darüber belehrt, dass ihm für die Vorführung ein Pflichtverteidiger zu bestellen ist. Für die konkrete Wahl wurde ihm wegen der Eilbedürftigkeit eine kurze Frist gesetzt. Er benannte Herrn Rechtsanwalt PP.."

Unter diesem Passus befindet sich folgende, handschriftliche Einfügung:

"Dieser stand auf Grund anderweitiger Termine für die Vorführung nicht zur Verfügung. Daher wurde für den Termin RA PP. als PV bestellt."

Mit Beschluss des Amtsgerichts PP. vom 13.07.2020 ist dem Beschuldigten für den Vorführtermin der Erinnerungsführer, Herr Rechtsanwalt PP., als Pflichtverteidiger beigeordnet und Herr Rechtsanwalt PP. gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO als Pflichtverteidiger bestellt worden. Sodann ist der Haftbefehl des Amtsgerichts PP. vom 15.05.2020 unter Auflagen außer Vollzug gesetzt worden.

Mit Schreiben vom 23.07.2020 hat der Erinnerungsführer bei dem Amtsgericht Aachen beantragt, Gebühren und Auslagen wie folgt festzusetzen:

Vergütungsberechnung Nr. PP.

berechnet nach § 2 RVG

Grundgebühr für Verteidiger, Beschuldigter nicht auf freien Fuß

Nr. 4101, 4100 VV RVG 192,00 €

Terminsgebühr für Teilnahme an Terminen außerhalb der

Hauptverhandlung, Beschuldigter nicht auf freiem Fuß Nr. 4103, 4102

Nr. 3 VV RVG 166,00 €

Verfahrensgebühr für Ermittlungsverfahren, Beschuldigter nicht auf

freiem Fuß Nr. 4105, 4104 VV RVG 161,00 €

Zwischensumme der Gebührenpositionen 519,00 €

Pauschale für Post und Telekommunikation 20,00 €

Zwischensumme netto 539,00 €

16 % Umsatzsteuer Nr. 7008 VV RVG 86,24 €

zu zahlender Betrag 625,24 €

Mit Schreiben vom 30.07.2020 hat die zuständige Rechtspflegerin bei dem Amtsgericht PP. den Erinnerungsführer gebeten, die Kostenrechnung vom 23.07.2020 zu überprüfen und ggfls. eine berichtigte Kostenrechnung zu den Akten zu reichen. Unter Verweis auf eine Entscheidung des OLG Braunschweig vom 15.07.2015 (Az.: 1 Ws 103/15) hat die zuständige Rechtspflegerin darauf hingewiesen, dass aufgrund der Bestellung als Terminsvertreter für den Termin am 13.07.2020 nur die Terminsgebühr nebst Auslagen zu erstatten sei. Dieser Ansicht ist der Erinnerungsführer mit Schriftsatz vom 06.08.2020 entgegengetreten und hat beantragt, dem Kostenfestsetzungsantrag vom 23.07.2020 zu entsprechen. Mit Verfügung vom 10.08.2020 hat die zuständige Rechtspflegerin die Akte dem Bezirksrevisor bei dem Landgericht Aachen mit der Bitte um Stellungnahme übersandt. Mit Schreiben vom 19.08.2020 hat sich der Bezirksrevisor bei dem Landgericht Aachen unter Verweis auf die Entscheidung des OLG Braunschweig vom 15.07.2015 (Az.: 1 Ws 103/15), des OLG Celle vom 10.10.2006 (Az.: 2 Ws 258/06) und des Amtsgerichts Aachen vom 23.02.2018 (Az.: 334 Ls 163/17) der Rechtsauffassung der Rechtspflegerin angeschlossen. Nachdem das Amtsgericht PP. dem Erinnerungsführer das Schreiben des Bezirksrevisors zur Stellungnahme zugesandt hat und der Erinnerungsführer mit Schriftsatz vom 31.08.2020 bei nochmaliger Begründung an seiner Auffassung, dass seiner Kostenrechnung vom 23.07.2020 voll zu entsprechen sei, festgehalten hat, hat die Rechtspflegerin bei dem Amtsgericht PP. mit Beschluss vom 07.09.2020 die dem Erinnerungsführer zu erstattenden Gebühren unter Zurückweisung des weitergehenden Antrages auf 215,76 € festgesetzt. Zur Begründung hat die Rechtspflegerin Bezug genommen auf das Schreiben vom 30.07.2020 und die Entscheidung des Amtsgerichts Aachen vom 23.02.2018 (Az.: 334 Ls 163/17).

Gegen den Beschluss des Amtsgerichts PP. vom 07.09.2020 hat der Erinnerungsführer mit Schriftsatz vom 17.09.2020, bei Gericht am 21.09.2020 eingegangen, einen als "Erinnerung" bezeichneten Rechtsbehelf eingelegt und diesen mit gleichem Schriftsatz begründet. Mit Beschluss vom 28.09.2020 hat das Amtsgericht PP. - Rechtspflegerin - der Erinnerung vom 07.09.2020 unter inhaltlicher Bezugnahme auf den Beschluss des Amtsgerichts Aachen vom 07.09.2020 nicht abgeholfen und die Akte der Staatsanwaltschaft PP. zugeleitet. Diese hat die Akte dem Landgericht - Beschwerdekammer - übersandt unter Bezugnahme auf die Erinnerung vom 07.09.2020.

Mit Beschluss vom 09.10.2020 hat der Vorsitzende der Kammer als zuständiger Einzelrichter das Verfahren auf die Kammer übertragen.

II.

Der Nichtabhilfebeschluss des Amtsgerichts PP. vom 28.09.2020, mit welchem der Erinnerung vom 17.09.2020 nicht abgeholfen worden ist, war deklaratorisch aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht PP. zurückzuverweisen. Dies beruht auf folgenden Erwägungen:

1. Es fehlt an einer ordnungsgemäßen Entscheidung des Amtsgerichts durch einen zur Entscheidung über die Erinnerung vom 17.09.2020 zuständigen Richter. Die Sache war deshalb unter Aufhebung des Vorlagebeschlusses an das Amtsgericht zurückzuverweisen (vgl. hierzu sowie zum Folgenden OLG Köln, FamRZ 2013, 1421 f.; OLG Köln, Beschl. v. 05.06.2012, BeckRS 2012, 22636; OLG Karlsruhe, BeckRS 2009, 25904; OLG Düsseldorf, NJOZ 2005, 61 f.; Hartmann, Kostengesetze, 48. Auflage 2018, § 56 RVG Rn. 8).

Die Rechtspflegerin, die wohl als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle fungiert hat (vgl. hierzu Hartmann, Kostengesetze, 48. Auflage 2018, § 55 RVG Rn. 16 f.), hat die aus der Staatskasse zu gewährende Vergütung gem. § 55 Abs. 1, Abs. 2 RVG festgesetzt. Gegen den Festsetzungsbeschluss vom 07.09.2020 hat der beigeordnete Rechtsanwalt den Rechtsbehelf der Erinnerung gem. § 56 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 RVG eingelegt, über den das Amtsgericht selbst durch Beschluss zu entscheiden hatte. Der Kostenbeamte am Amtsgericht kann der Erinnerung selbst abhelfen. Hilft er nicht ab, hat er die Erinnerung durch entsprechenden Nichtabhilfebeschluss unverzüglich dem Gericht des Rechtszuges vorzulegen, dem er selbst angehört. Zuständig für diese Entscheidung ist sodann stets der Richter (vgl. OLG Köln, FamRZ 2013, 1421 f.; OLG Köln, Beschl. v. 05.06.2012, BeckRS 2012, 22636; Mayer/Kroiß/Kiesling, RVG, 7. Auflage 2018, § 56 Rn. 13, 17), also beim Amtsgericht der Amtsrichter (vgl. Gerold/Schmidt/Müller-Raabe, RVG, 24. Auflage 2019, § 56 Rn. 10; Hartmann, Kostengesetze, 48. Auflage 2018, § 56 RVG Rn. 8; Mayer/Kroiß/Kiesling, RVG, 7. Auflage 2018, § 56 Rn. 17 f.).

Aus alledem folgt, dass der Nichtabhilfebeschluss des Amtsgerichts PP. vom 28.09.2020 betreffend die Pflichtverteidigervergütung aufzuheben war (vgl. OLG Köln, FamRZ 2013, 1421 f.; OLG Köln, Beschluss vom 05.06.2012, BeckRS 2012, 22636). Der Kammer war eine eigene Sachentscheidung verwehrt, weil der Abteilungsrichter noch nicht entschieden hat und anderenfalls dem Pflichtverteidiger die gerade von § 33 Abs. 4 Satz 1 RVG vorgesehene zweite Instanz genommen würde.

2. Die Kammer weist für das weitere Verfahren vorsorglich auf Folgendes hin:

a) Die Frage, wie die Tätigkeit des für einen Verhandlungstag als sog. "Terminsvertreter" beigeordneten Pflichtverteidigers abzurechnen ist, ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten.

Teilweise wird - wie vorliegend vom Amtsgericht - die Ansicht vertreten, dass dem "Terminsvertreter" lediglich die Terminsgebühr zusteht (vgl. OLG Braunschweig, AGS 2016, 78 f.; KG, StraFo 2008, 349 f.; KG, NStZ-RR 2011, 295 f.; OLG Bremen, Beschl. v. 14.12.2009, Ws 119/09, BeckRS 2011, 03437; OLG Celle, StraFo 2006, 471f.; OLG Celle, NStZ-RR 2009, 158; OLG Celle, StraFo 2018, 534; OLG Hamm, RVGreport 2007, 108; OLG Celle, Beschl. v. 28.11.2006 - 3 Ws 569/06, juris; OLG Koblenz, JurBüro 2005, 199 f.; 2013, 84 f.).

Demgegenüber wird die Auffassung vertreten, dass dem Terminsvertreter sämtliche im Einzelfall verwirklichten Gebührentatbestände des Teils 4 Abschnitt 1 VV zustehen (vgl. OLG Bamberg, NStZ-RR 2011, 223; OLG Düsseldorf, StRR 2009, 157; OLG Hamm, RVGreport 2006, 230; OLG Jena, JurBüro 2011, 478; OLG Karlsruhe, NJW 2008, 2935; OLG Köln, Beschl. vom 26.03.2010, 2 Ws 129/10, BeckRS 2010, 16664; OLG München, NStZ-RR 2009, 32; OLG München, AGS 2014, 174 f.; OLG Schleswig, SchlHA 2010, 269).

b) Die Kammer hält die zuletzt genannte Auffassung - die auch der Rechtsprechung des Oberlandesgericht Köln entspricht (vgl. OLG Köln, Beschl. v. 26.03.2010, 2 Ws 129/10, BeckRS 2010, 16664) - für zutreffend. Die Begründung der seitens des Amtsgerichts und des Bezirksrevisors - jeweils unter Verweis auf die Entscheidungen des OLG Celle vom 10.10.2016 (Az.: 2 Ws 258/06) und OLG Braunschweig vom 15.07.2015 (Az.: 1 Ws 103/15, AGS 2016, 78 f.) - vertretenen Ansicht, dass dem "Terminsvertreter" lediglich die Terminsgebühr zustehe, greift nach Ansicht der Kammer nicht durch und vermag jedenfalls im Ergebnis nicht zu überzeugen. Dies beruht auf folgenden Erwägungen:

Die Bestellung des sogenannten "Terminsvertreters" bedarf eines eigenen exklusiv auf das Verfahren bezogenen Bestellungsaktes (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Auflage 2020, § 142 Rn. 60). Die Selbstständigkeit und grundsätzliche Weisungsfreiheit des für einzelne Verhandlungstermine beigeordneten (weiteren) Verteidigers gegenüber dem zuerst bestellten Pflichtverteidiger machen seine Einarbeitung in den Fall erforderlich und sind dementsprechend gebührenrechtlich abzugelten. Dem anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers für die Dauer eines Termins beigeordneten weiteren Verteidiger ist für den in der Beiordnung bezeichneten Verfahrensabschnitt die Verteidigung des Angeklagten ohne jede inhaltliche Beschränkung übertragen. Eine Beiordnung lediglich als Vertreter des bereits bestellten Pflichtverteidigers dergestalt, dass der Beigeordnete gleichsam als Hilfsperson des eigentlichen Pflichtverteidigers in dessen Beiordnungsverhältnis mit einbezogen wird, kennt die StPO nicht (vgl. hierzu Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Auflage 2020, § 142 Rn. 60). Deren Zulässigkeit lässt sich auch nicht aus allgemeinen Grundsätzen ableiten. Durch die Beiordnung als Verteidiger für einen Terminstag anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers wird vielmehr ein eigenständiges, öffentlichrechtliches Beiordnungsverhältnis begründet, auf Grund dessen der bestellte Verteidiger während der Dauer der Bestellung die Verteidigung des Angeklagten umfassend und eigenverantwortlich wahrzunehmen hat (zutreffend OLG Köln, Beschl. v. 26.03.2010, 2 Ws 129/10, juris Rn. 7). Aus der Eigenständigkeit der jeweiligen Beiordnungsverhältnisse folgt zugleich, dass die anwaltlichen Tätigkeiten der jeweiligen Pflichtverteidiger auch hinsichtlich ihrer Vergütung gesondert zu bewerten sind (vgl. OLG Köln, Beschl. v. 26.03.2010, 2 Ws 129/10, juris Rn. 8; Hartung/Schons/Enders/Hartung, RVG, 3. Auflage 2017, Anlage 1 zu § 2 Abs., 2 RVG, Nr. 4100 Rn. 16; Riedel/Sußbauer/Kremer, RVG, 10. Auflage 2015, Anlage 1 zu § 2 Abs., 2 RVG, Nr. 4100 Rn. 11 f.). Da der wegen der Abwesenheit des verhinderten Pflichtverteidigers für einen Hauptverhandlungstermin bestellte Verteidiger umfassend mit der Wahrnehmung der Verteidigerrechte und -pflichten betraut ist, kommt - unbeschadet der zeitlichen Begrenzung der Beiordnung - eine gebührenrechtliche Einstufung der in der Hauptverhandlung oder für die separate Terminswahrnehmung entfalteten Tätigkeit als Einzeltätigkeit i.S. des Teils 4 Abschnitt 1 Unterabschnitt 1, Nr. 4102, des Vergütungsverzeichnisses in Anl. 1 zu § 2 Abs. 2 RVG nicht in Betracht. Die Vergütung beurteilt sich vielmehr nach den für den Verteidiger geltenden Bestimmungen in Teil 4 Abschnitt 1 Unterabschnitt 1 VV RVG und bemisst sich im Einzelfall nach den durch die anwaltliche Tätigkeit konkret verwirklichten Gebührentatbeständen (vgl. hierzu zutreffend OLG Köln, Beschl. v. 26.03.2010, 2 Ws 129/10, BeckRS 2010, 16664; Hartung/Schons/Enders/Hartung, RVG, 3. Auflage 2017, Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG, Nr. 4100 Rn. 16; Riedel/Sußbauer/Kremer, RVG, 10. Auflage 2015, Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG, Nr. 4100 Rn. 11 f.).

Soweit die Ansicht, die dem Terminsvertreter nur die Terminsgebühr zugestehen möchte (vgl. OLG Celle, Beschl. v. 10.10.2006, 2 Ws 258/06, OLG Braunschweig, Beschl. v. 15.07.2015, 1 Ws 103/15, AGS 2016, 78 f.) an der zuvor dargestellten Ansicht Kritik mit der Begründung übt, dass der weitere Verteidiger für das gesamte weitere Verfahren bestellt bleiben müsse, überzeugt dies nicht, weil dem Beschuldigten für einzelne Verfahrensabschnitte - so auch für einzelne Hauptverhandlungstage - sehr wohl einzelne Verteidiger nacheinander bzw. tageweise nebeneinander beigeordnet werden können, ohne dass diese alle jeweils bis zum Schluss im Verfahren beteiligt sein müssten. Dies folgt aus §§ 226, 227 StPO, wonach - auch im Falle der notwendigen Verteidigung - mehrere Verteidiger sich die Verrichtungen teilen können, solange jeweils mindestens einer von ihnen in der Hauptverhandlung anwesend ist.

Auch das weitere Argument, der bestellte Verteidiger könne sich bei vorübergehender Verhinderung mit Genehmigung des erkennenden Gerichts durch einen anderen Rechtsanwalt vertreten lassen (so OLG Braunschweig, Beschl. v. 15.07.2015, 1 Ws 103/15, AGS 2016, 78 f.), trifft nicht zu. Eine Untervollmacht für die Verteidigung des Angeklagten kann der zum Pflichtverteidiger bestellte Rechtsanwalt einem anderen Rechtsanwalt nicht erteilen, denn die Bestellung zum Verteidiger bleibt auf seine Person beschränkt (vgl. hierzu Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Auflage 2020, § 142 Rn. 60). Die Annahme, der bestellte Verteidiger könne sich bei vorübergehender Verhinderung mit Genehmigung des erkennenden Gerichts durch einen anderen Rechtsanwalt vertreten lassen, stellt sich daher als Umgehung des Verbots der Unterbevollmächtigung dar (vgl. OLG Nürnberg, Beschl. v. 13.11.2014 - 2 Ws 553/14, BeckRS 2014, 22546) und ist per se nicht zulässig.

Aus dem Gesagten folgt zugleich, dass der in dem Nichtabhilfebeschluss des Amtsgerichts vom 27.09.2020 vertretenen Ansicht, der Erinnerungsführer habe lediglich als "Terminsvertreter" gehandelt, es liege eine reine "Vertretungssituation" vor, nicht gefolgt werden kann. Ausweislich des Inhaltes des Protokolls über den Vorführtermin ist der Erinnerungsführer dem Beschuldigten als Pflichtverteidiger für den Termin beigeordnet worden mit allen hieraus sich nach §§ 140 Abs. 1 Nr. 4, 143 ff. StPO ergebenden Rechten und Pflichten. Diese Bestellung geht weit über die in dem Beschluss vom 27.09.2020 angenommene "Vertretungssituation" hinaus. Ferner ist zu beachten, dass die Vorschrift des § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StPO in rechtlicher Hinsicht gegen die vom Amtsgericht angenommene Vertretersituation spricht. Die Möglichkeit zum Austausch des Pflichtverteidigers ist unter den genannten Voraussetzungen bei unverzüglicher Pflichtverteidigerbestellung in Inhaftierungsfällen gem. § 140 Abs. 1 Nr. 4 anerkannt (vgl. BGH, StraFo 2013, 23 f.; OLG Zweibrücken, StV 2016, 512 f.). Hieraus folgt im Umkehrschluss, dass es sich bei der Beiordnung als Verteidiger für einen Terminstag anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers um eine echte Pflichtverteidigerbestellung im Sinne der §§ 140, 141, 142 StPO handelt mit den oben bereits dargestellten Konsequenzen. Insofern ist auch dem Argument, der bestellte zusätzliche Pflichtverteidiger sei kosten- bzw. gebührenrechtlich als Vertreter des ursprünglich bestellten Pflichtverteidigers zu betrachten, die Grundlage entzogen.

Aus den dargelegten Gründen vermag auch die zur Begründung herangezogene Entscheidung des Amtsgerichts Aachen vom 23.02.2018 (Az.: 334 Ls-402 Js 1242/17-163/17) eine andere Bewertung nicht zu tragen. In dem vorzitierten Beschluss wird maßgeblich darauf abgestellt, dass gebührenrechtlich im Fall der Vertretung lediglich ein einziges Mandat bestehe mit der Folge, dass alle Gebühren nur einmal entstünden und der Vertreter daher keine höhere Vergütung beanspruchen könne, als der Vertretene hätte geltend machen können, wenn er den Termin selbst wahrgenommen hätte. Ferner dürfe sich die in der Praxis häufig vorkommende Verhinderung des vertretenen Verteidigers weder zu Lasten der Staatskasse noch zu Lasten des Angeklagten auswirken. Da nach dem Gesagten die Bestellung eines Verteidigers, der anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers auftritt, ein eigenständiges öffentlichrechtliches Beiordnungsverhältnis begründet und die Strafprozessordnung keine isolierte Beiordnung eines Terminsvertreters kennt, nimmt der "Vertreter" als weiterer Pflichtverteidiger am Verfahren teil. Ihm steht dabei ein eigener Vergütungsanspruch zu, der alle im Einzelfall verwirklichten Gebührentatbestände umfasst. Dass hierdurch in der Konsequenz sowohl in der Person des vertretenen Verteidigers als auch des vertretenden Verteidigers mehrere, rechtlich selbstständig verwirklichte Gebührenansprüche entstehen, stellt sich vor dem Hintergrund des oben Gesagten gebührenrechtlich als logische und konsequente Fortführung des Gedankens der Begründung eines eigenständigen, öffentlichrechtlichen Beiordnungsverhältnisses in Bezug auf den vertretenden Verteidiger dar. Eine andere Betrachtungsweise liefe auf eine unzulässige Aufspaltung der Pflichtverteidigerstellung des vertretenden Verteidigers in prozessualer und gebührenrechtlicher Hinsicht hinaus.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 56 Abs. 2 Satz 2, Satz 3, § 33 Abs. 9 RVG.


Einsender:

Anmerkung:


den gebührenrechtlichen Newsletter abonnieren


zurück zur Übersicht

Die Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.

Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".