Aktenzeichen: 2 Ss 291/99 OLG Hamm
Leitsatz: 1. Wenn die Festsetzung einer Jugendstrafe (§ 17 JGG) wegen schädlicher Neigungen mit früheren Straftaten des Angeklagten begründet wird, müssen zu diesen konkrete tatsächliche Feststellungen getroffen werden. 2. Der Tatrichter muß sich zudem auch damit auseinander setzen, warum gerade die abgeurteilte Tat die Verhängung einer Jugendstrafe erfordert. 3. Das gilt besonders, wenn es sich um eine sog. Spontantat handelt. Schließlich müssen die angenommenen schädlichen Neigungen auch zur Zeit des Urteils noch vorhanden sein.
Senat: 2
Gegenstand: Revision
Stichworte: Aufhebung im Rechtsfolgenausspruch, Jugendrecht, schädliche Neigungen, lückenhafte Feststellungen zu Vorstrafen, neues Verfahren zur Begründung der schädlichen Neigungen
Normen: JGG 17 Abs. 2
Fundstelle: NStZ-RR 1999, 377; StV 1999, 658
Beschluss: Strafsache gegen A.N.,
wegen gemeinschaftlichen Raubes.
Auf die Revision des Angeklagten vom 04.01.1999 gegen das Urteil des Jugendschöffengerichts Hagen vom 28.12.1998 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 12. 4 1999 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht und die Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft einstimmig gem. § 349 Abs. 4 StPO beschlossen:
Das angefochtene Urteil wird im Rechtsfolgenausspruch mit den dazu getroffenen Feststellungen aufgehoben.
In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Amtsgericht Hagen zurückverwiesen.
Gründe: I. Das Amtsgericht - Jugendschöffengericht - hat den Angeklagten wegen gemeinschaftlichen Raubes im Zustand verminderter Schuldfähigkeit im minder schweren Fall unter Einbeziehung der durch Urteil der Jugendkammer des Landgerichts Hagen am 23.10.1998 verhängten Jugendstrafe von neun Monaten zu einer Einheitsjugendstrafe von 1 Jahr verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist.
Zum Schuldspruch hat das Amtsgericht im wesentlichen folgende Feststellungen getroffen: Der Angeklagte feierte am 31.12.1996 gemeinsam mit den beiden Mitangeklagten in Schwerte Silvester. Dabei wurden größere Mengen Bier sowie auch Pfirsichlikör getrunken. Zudem rauchte der Angeklagte Haschisch. Am 01.01.1997, um ca. 1.00 Uhr, gingen der Angeklagte und die beiden Mitangeklagten durch den Ortsteil Westhofen, um bei einem der beiden Mitangeklagten weiter zu feiern. Gegen 1.45 Uhr trafen sie auf einem Spielplatz eine andere Gruppe Jugendlicher. Diese führten in Rucksäcken noch unverbrauchte Silvesterknaller bei sich. Der Angeklagte und seine Begleiter faßten den Entschluß, diese Jugendlichen hinsichtlich der Rucksäcke "abzuziehen". Sie drohten ihnen Schläge an, wenn sie die Rucksäcke nicht herausgäben. Einer der Mitangeklagten versetzte einem der anderen Jugendlichen eine ohrfeige und einen Faustschlag ins Gesicht. Dabei konnte er den Rucksack dieses Jugendlichen an sich nehmen, der Angeklagte erbeutete den Rucksack eines anderen Jugendlichen. Die in den Rucksäcken befindlichen Knaller wurden, nachdem sich die Angeklagten entfernt hatten, verknallt.
Hinsichtlich der strafrechtlichen Vorbelastungen des Angeklagten hat das Amtsgericht festgestellt, daß durch Verfügung der Staatsanwaltschaft Münster vom 07.02.1994 in einem Verfahren wegen Diebstahls gem. § 45 Abs. 1 JGG von der Verfolgung abgesehen worden ist. Außerdem ist durch Verfügung der Staatsanwaltschaft Münster vom 23.05.1997 in einem Verfahren wegen Erschleichens von Leistungen und durch Verfügung der Staatsanwaltschaft Dortmund vom 27. 4 1998 in einem Verfahren wegen Sachbeschädigung von der Verfolgung abgesehen worden. Das Amtsgericht hat außerdem festgestellt, daß durch Urteil des Amtsgerichts Hagen vom 09.07.1998 gegen den Angeklagten wegen Verstoßes gegen das BtM-Gesetz ein Jugendarrest von zwei Wochen verhängt worden ist. Zudem ist gegen den Angeklagten durch Urteil der Jugendkammer des Landgerichts Hagen vom 23.10.1998 eine Jugendstrafe von neun Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verhängt worden. Nähere Feststellungen zu den abgeurteilten Taten hat das Amtsgericht nicht getroffen, es hat lediglich ausgeführt, daß die Strafe wegen "zahlreicher Diebstähle, die im Tatzeitraum 1996 bis 1998 begangen wurden, etwa 20 an der Zahl" festgesetzt worden ist. Das Amtsgericht hat außerdem festgestellt, daß gegen den Angeklagten "zur Zeit noch beim Amtsgericht - Jugendschöffengericht - Dortmund ein weiteres Verfahren wegen zahlreicher Diebstähle anhängig" ist, in dem Termin zur Hauptverhandlung jedoch noch nicht anberaumt sei. Schließlich hat das Amtsgericht festgestellt, daß der Angeklagte nach eigenen Angaben noch weitere Ladendiebstähle begangen habe, insoweit jedoch noch keine Anklage erhoben worden sei.
Die Verhängung von Jugendstrafe hat das Amtsgericht wie folgt begründet:
"Die Voraussetzungen für die Verhängung einer Jugendstrafe gemäß § 17 JGG liegen bei dem Angeklagten vor. Der Angeklagte ist bereits mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten, so daß im Zusammenhang mit der hier in Betracht kommenden Straftat festgestellt werden muß, daß diese auf schädlichen Neigungen beruht. In diesem Zusammenhang war auch zu berücksichtigen, daß gegen den Angeklagte zur Zeit noch ein weiteres Verfahren beim Jugendschöffengericht Dortmund anhängig ist und daß auf den Angeklagten darüber hinaus noch ein weiteres Strafverfahren zukommen wird wegen bisher noch nicht angeklagter zahlreicher Diebstähle.
Da sich aus dem bisherigen Verhalten des Angeklagten weiterhin ergibt, daß weniger einschneidende Maßnahmen wie Erziehungsmittel oder Zuchtmittel zu seiner Erziehung nicht mehr ausreichen, war die Verhängung einer Jugendstrafe dringend geboten. In diesem Zusammenhang war auch zu berücksichtigen, daß der Angeklagte bislang den aus der Verurteilung vom 09.07.1998 resultierenden sozialen Hilfsdienst noch nicht abgeleistet hat."
Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit der Revision, mit der er insbesondere die Verhängung von Jugendstrafe als rechtsfehlerhaft rügt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Revision zu verwerfen.
II. Die vom Amtsgericht zum Schuldspruch getroffenen tatsächlichen Feststellungen tragen die Verurteilung des Angeklagten wegen eines gemeinschaftlichen Raubes gemäß den §§ 249, 25 Abs. 2 StGB. Damit ist die - konkludente - Beschränkung der Revision auf den Rechtsfolgenausspruch wirksam. Der Senat hat somit nur noch die Rechtsfolgenentscheidung des angefochtenen Urteils auf Rechtsfehler zu überprüfen.
Die Revision hat, da Rechtsfehler vorliegen, insoweit - zumindest vorläufig - Erfolg, so daß das angefochtene Urteil im Strafausspruch mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung auch über die Kosten der Revision - an das Amtsgericht Hagen zurückzuverweisen war. Die vom Amtsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen tragen - bislang - nämlich die Annahme schädlicher Neigungen im Sinn von _17 Abs. 2 JGG nicht. Die Feststellungen sind, worauf die Revision zutreffend hinweist, lückenhaft, zudem widersprüchlich und lassen außerdem maßgebliche Umstände unberücksichtigt.
1. Schädliche Neigungen liegen nach ständiger Rechtsprechung des BGH vor, wenn bei dem jugendlichen bzw. heranwachsenden Täter erhebliche Anlage- oder Erziehungsmängel gegeben sind, die ohne eine längere Gesamterziehung des Täters die Gefahr weiterer Straftaten begründen und nicht nur "gemeinlästig" sind oder den Charakter von Bagatelldelikten haben (Eisenberg, Kommentar zum JGG, 7. Aufl., § 17 Rn. 18 m.w.N.). Häufig werden "schädliche Neigungen" nicht schon in einer ersten Straftat zum Ausdruck kommen, sondern die Folge einer längeren Entwicklung sein, in deren Verlauf es immer wieder zu Straftaten gekommen ist, was dann auf Anlage- oder Erziehungsmängel, eben auf "schädliche Neigungen", schließen läßt. Davon ist offenbar auch das Amtsgericht ausgegangen, da es die Verhängung der Jugendstrafe insbesondere mit früheren Straftaten des Angeklagten begründet hat.
Die dazu getroffenen tatsächlichen Feststellungen sind aber lückenhaft. Sie ermöglichen dem Revisionsgericht nicht die Überprüfung, ob die Entscheidung des Amtsgerichts: Verhängung von Jugendstrafe, frei von Rechtsfehlern ist (zu den besonderen Urteilsanforderungen bei der Verhängung von Jugendstrafe im Hinblick auf § 54 JGG siehe auch OLG Thüringen StV 1998, 340). Zu beanstanden ist insbesondere, daß das Amtsgericht zu den früheren Taten des Angeklagten keinerlei konkrete Feststellungen trifft, sondern lediglich mitteilt, daß der Angeklagte wegen "zahlreicher Diebstähle, die im Tatzeitraum 1996 bis 1998 begangen wurden, etwa 20 an der Zahl" zu einer Jugendstrafe von neun Monaten verurteilt worden ist. Dem läßt sich schon nicht entnehmen, ob, was für das Vorliegen von schädlichen Neigungen zur Tatzeit der im vorliegenden Verfahren abgeurteilten Tat aber von (mit-) entscheidender Bedeutung ist, die zahlreichen Diebstähle" vor der hier abgeurteilten Tat begangen wurde oder ggf. erst später. Ohne nähere zeitliche Angaben muß der Senat zu Gunsten des Angeklagten davon ausgehen, daß allenfalls eine Tat vor dem 31.12.1996 begangen wurde und die anderen zu späterer Zeit in 1997 und 1998. Hinzu kommt, daß die unzureichenden Angaben zu den Taten es unmöglich machen zu überprüfen, ob sich ggf. aus der Art und den Umständen der Tatbegehung Anhaltspunkte dafür ergeben, daß es sich möglicherweise um sog. Notdelikte gehandelt hat, was gegen die Annahme von schädlichen Neigungen sprechen könnte (Eisenberg, a.a.O., § 17 JGG Rn. 19 m.w.N.) . Insoweit verkennt der Senat nicht, daß die große Anzahl der Delikte: "etwa 20 an der Zahl" gegen Not- bzw. Gelegenheitsdelikte sprechen dürfte. Andererseits hat das Amtsgericht aber festgestellt, daß der Angeklagte über einen längeren Zeitraum hin obdachlos war, was wiederum die Diebstahlstaten, wenn sie aus dieser Not heraus begangen worden sein sollten, in einem anderen Licht erscheinen lassen könnte. Dabei übersieht der Senat nicht, daß wegen dieser Taten von der Jugendkammer des Landgerichts Hagen bereits rechtskräftig eine Jugendstrafe festgesetzt worden ist. Vorliegend geht es aber nicht um diese Jugendstrafe, sondern um die Frage, ob wegen der Tat vom 31.12.1996/1.1.1997 (auch) eine Jugendstrafe festzusetzen ist.
Aus Rechtsgründen zu beanstanden ist es zudem, daß das Amtsgericht bei der Verhängung der Jugendstrafe auch noch auf das weitere beim Jugendschöffengericht Dortmund anhängige Verfahren und auf die weiteren vom Angeklagten eingeräumten Straftaten abgestellt hat. Abgesehen davon, daß auch insoweit nicht einmal ansatzweise tatsächliche Feststellungen zur Zahl, Art und Umfang und Tatzeit der Taten getroffen worden sind, hat das Amtsgericht offenbar auch übersehen, daß diese noch nicht abgeurteilten (mutmaßlichen) anderen Straftaten bei der Beurteilung der Frage, ob zum Tatzeitpunkt schädliche Neigungen beim Angeklagten vorgelegen haben, wohl kaum hätten Berücksichtigung finden dürfen (vgl. dazu BGH bei Böhm NStZ 1995, 535; Eisenberg, a.a.O., § 17 JGG Rn. 23). Jedenfalls dürfte das dem Amtsgericht solange verwehrt sein, wie nicht zu diesen Taten zumindest soviel tatsächliche Feststellungen getroffen worden sind, daß diese Taten in ihrem Unrechtscharakter wenigstens ansatzweise konkretisiert werden können.
Die Ausführungen des Amtsgerichts sind zudem, worauf die Revision ebenfalls zutreffend hinweist, widersprüchlich. Soweit es nämlich angenommen hat, der Angeklagte sei bereits mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten (gewesen), steht das in Widerspruch zu den zu den Vorbelastungen getroffenen Feststellungen. Danach läßt sich nämlich nur eine Vorbelastung des Angeklagten feststellen.
2. Die Ausführungen des Amtsgerichts lassen ferner jede Auseinandersetzung mit der konkreten Tat und damit mit der Frage, warum gerade diese Tat die Verhängung einer Jugendstrafe erfordert, vermissen. Nach allgemeiner Meinung sprechen sog. Gelegenheitsdelikte bzw. Delikte, die der Augenblickssituation entspringen, nicht unbedingt für das Vorliegen schädlicher Neigungen (vgl. Eisenberg, a.a.O., § 17 Rn. 19 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des BGH). Ob das in allen Fällen zutreffend ist, kann vorliegend dahinstehen. Jedenfalls hätte das Amtsgericht sich mit den besonderen Umständen der abgeurteilten Tat auseinandersetzen und sorgfältig prüfen und begründen müssen, warum gerade diese Tat die Annahme schädlicher Neigungen rechtfertigt. Nach den zur Tat getroffenen tatsächlichen Feststellungen handelte es sich nämlich um eine Spontantat, die u.a. auf den zuvor genossenen Alkohol zurückzuführen sein dürfte. Dies läßt das Amtsgericht ebenso unberücksichtigt wie den Umstand, daß es einen minder schweren Fall angenommen hat (vgl. dazu BGH StV 1984, 253) und daß der Tatbeitrag des Angeklagten verhältnismäßig gering war (vgl. dazu BGH StV 1993, 531).
3. Schließlich hat sich das Amtsgericht, worauf die Revision ebenfalls zu Recht hinweist, auch nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob die von ihm angenommenen schädlichen Neigungen zur Zeit des Urteils noch vorhanden waren. Dies ist jedoch erforderlich (vgl. u.a. BGH MDR 1980, 986 (bei Holtz); NStZ 1983, 448 (bei Böhm); 1992, 528 (bei Böhm); StV 1992, 431; zuletzt BGH StV 1998, 331). Zu entsprechenden Ausführungen bestand insbesondere deshalb Anlaß, weil sich den Feststellungen des Amtsgerichts konkrete Anhaltspunkte entnehmen lassen, aus denen der Schluß gezogen werden könnte, daß schädliche Neigungen - die bei Tatbegehung vorgelegen haben mögen - zur Zeit des Urteils nicht mehr gegeben waren. Der Angeklagte verfügte nun nämlich über eine eigene Wohnung und lebte nicht mehr auf der Straße. Die Ladendiebstähle, auf die das Amtsgericht zur Begründung der schädlichen Neigungen abgestellt hat, hatte der Angeklagte aber begangen als er, wie das Amtsgericht ebenfalls festgestellt hat, obdachlos war und auf der Straße lebte. Danach hat er offenbar keine weiteren Taten mehr begangen. Auch hat der Angeklagte nun eine Freundin, die auf das Amtsgericht "einen guten "Eindruck" gemacht hat, also nach Auffassung des Amtsgerichts offensichtlich positiv auf den Angeklagten einwirken kann. Schließlich ist der Angeklagte um eine Lehrstelle bemüht und hält Kontakt zu einem Sozialarbeiter, der ihm schon während der Zeit der Obdachlosigkeit geholfen hat. Angesichts dieser positiven Ansätze, die das Amtsgericht im Zusammenhang mit der gewährten Strafaussetzung zur Bewährung zur Annahme einer positiven Sozialprognose geführt haben, reicht der bloße Verweis auf die (nicht beschriebenen) Vorbelastungen des Angeklagten und die noch ausstehenden Verfahren für die Annahme schädlicher Neigungen auch zum Zeitpunkt der Verurteilung nicht aus. Es war vielmehr eine eingehende Auseinandersetzung mit diesen konkreten Hinweisen auf eine Besserung in den Verhältnissen des Angeklagten erforderlich.
Die vorstehend dargelegten Begründungsmängel führen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Hagen.
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