Aktenzeichen: 4 BL 127/99 OLG Hamm
Senat: 4
Gegenstand: BL6
Stichworte: dringender Tatverdacht, Verzögerung durch Verweigerung einer Exploration, psychiatrisches Gutachten, Urlaub des Sachverständigen, Verhinderung des Sachverständigen, wichtiger Grund
Normen: StPO 121
Beschluss: Strafsache gegen F.B.,
wegen Totschlages,
hier: Haftprüfung durch das Oberlandesgericht.
Auf die Vorlage der Akten zur Entscheidung nach §§ 121, 122 StPO hat der 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 03.08.1999 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft, des Verteidigers und des Angeklagten beschlossen:
Die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus wird angeordnet.
Die Haftprüfung für die nächsten drei Monate wird dem nach den allgemeinen Vorschriften dafür zuständigen Gericht übertragen.
Gründe: Der Angeklagte ist in der vorliegenden Sache am 20.01.1999 polizeilich festgenommen und aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Münster vom 21.01.1999 - 23 Gs 255/99 - an diesem Tage zur Untersuchungshaft gebracht worden, die seitdem ununterbrochen vollzogen wird. Die Untersuchungshaft dauert damit seit nunmehr über sechs Monaten an.
Mit dem genannten Haftbefehl wird dem Angeklagten zur Last gelegt, am 05.01.1999 in Lüdinghausen seine am 20.06.1976 geborene Tochter S.B. mit einem Gürtel erdrosselt zu haben. Als Haftgrund hat das Amtsgericht Fluchtgefahr und den Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO bejaht.
Dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft entsprechend war die weitere Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft des Angeklagten über sechs Monate hinaus anzuordnen. Er ist des ihm zur Last gelegten Tatgeschehens nach dem Ergebnis der bisherigen kriminalpolizeilichen Ermittlungen dringend verdächtig. Der dringende Tatverdacht gründet sich insbesondere auf seine eigenen geständigen Angaben in den verantwortlichen Vernehmungen vom 21.01.1999, die er zu einem Teil auch anläßlich einer Tatortbegehung gemacht hat. Dabei hat er detailliert einen Tatablauf geschildert, der ihm einerseits aus anderen Quellen als eigenem Erleben so nicht bekannt gewesen sein kann und der mit dem objektiven Spurenbild übereinstimmt. Außerdem hat er seine Angaben zur Tat nachvollziehbar und stimmig in ein Vor- und Nachgeschehen eingebettet. Teile davon sind durch andere Beweismittel, insbesondere durch die Angaben seines Sohnes D.B., verifiziert worden. Schließlich sind an dem Ort, an dem S.B. erdrosselt worden ist, drei herausgerissene Haare gefunden worden, die nach den Untersuchungen des Landeskriminalamtes Düsseldorf mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 : 2 Milliarden vom Angeklagten stammen. Diesem Umstand kommt nach den bisherigen gutachterlichen Äußerungen des Sachverständigen Dr. W. besonderes Gewicht zu, weil der Angeklagte diese Haare selbst am Tatort verloren haben muß.
Durch diese Beweismittel, die auch noch durch weitere Ermittlungsergebnisse erhärtet werden, wird der Angeklagte i.S. der Vorwürfe, die Gegenstand des amtsgerichtlichen Haftbefehls sind, schwer belastet. Nach dem Ergebnis des vorläufigen Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. Leygraf war zwar seine Steuerungsfähigkeit bei der Tat möglicherweise erheblich eingeschränkt, aufgehoben war sie, ebenso wie seine Einsichtsfähigkeit, jedoch nicht.
Mit diesem Vorwurf identisch ist die Anklage der Staatsanwaltschaft Münster vom 31.03.1999, die das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen zutreffend zusammenfaßt. Sie ist dem Angeklagten und seinem Verteidiger zugestellt und durch Beschluß des Landgerichts vom 29.06.1999 zur Hauptverhandlung zugelassen worden.
Bei dem Angeklagten besteht der Haftgrund des § 112 Abs. 3 StPO. Es ist nach den Umständen des Falles zumindest nicht auszuschließen (zur verfassungsgemäßen Auslegung dieser Vorschrift vgl. BVerfGE 19, 342, 350 ff.), daß sich der Angeklagte, der im Verurteilungsfalle mit der Verhängung einer langjährigen Freiheitsstrafe rechnen muß, dem Verfahren durch Flucht entzöge, würde er freigelassen. Entgegen der Ansicht der Verteidigung kann diese Fluchtgefahr nach der von dem Sachverständigen Prof. Dr. Leygraf aufgezeigten Persönlichkeit des Angeklagten unter Berücksichtigung seines sozialen Umfeldes auch nicht ausgeschlossen werden. Nach dem bisherigen Gutachten des Sachverständigen handelt es sich bei dem Angeklagten um eine abnorme Persönlichkeitsentwicklung mit überwiegend depressiven und sensitiven Zügen, was sich insbesondere in seiner pessimistischen Grundhaltung, einem geringen Selbstwertgefühl, in seiner Tendenz zu somatischen Beschwerden, der Zurückhaltung im zwischenmenschlichen Kontakt und der Vermeidung von Auseinandersetzungen, seiner erheblichen Selbstunsicherheit und seiner mangelnden Durchsetzungskraft zeige. Dieses Persönlichkeitsbild spricht ebenso wie sein chronischer Alkoholismus nach Ansicht des Senats eher dafür, daß sich der Angeklagte im Falle seiner Freilassung dem Verfahren entzöge, als sich ihm zu stellen. Dazu kommt die soziale Bindungsarmut des Angeklagten. Er hat zuletzt im wesentlichen von Arbeitslosenhilfe gelebt und war darüber hinaus nur geringfügig bei seinem Bruder als Aushilfe beschäftigt. Tragfähige Bindungen zu seiner Familie bestehen nicht. Von seiner Ehefrau ist er seit Jahren geschieden. Auch der Umstand, daß er im weiteren Verfahrensverlauf von seinem Geständnis abgerückt ist, spricht dafür, daß er sich gerade nicht "schicksalsergeben" dem Verfahren stellen wird. Schließlich spricht auch die Tat, deren er dringend verdächtig ist, eher dafür, daß es bei ihm in belastend empfundenen Situationen zu unüberlegten Handlungen kommen kann.
Auf diesem Hintergrund sind weniger einschneidende Maßnahmen als die Anordnung und auch der Vollzug der Untersuchungshaft (§ 116 StPO) nicht ausreichend, um die Fluchtgefahr wirksam einzudämmen.
Der bisherige und der absehbare weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der im Verurteilungsfalle zu erwartenden Bestrafung.
Die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus sind gleichfalls gegeben. Sowohl das Ermittlungs- als auch das gerichtliche Verfahren sind bisher mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung betrieben worden. Besondere Umstände, die nicht im Verantwortungsbereich der Justiz liegen, haben jedoch bisher einen Abschluß des Verfahrens nicht zugelassen.
So konnten die polizeilichen Ermittlungen bereits am 11.03.1999 abgeschlossen werden. Nach der erforderlichen Sichtung und Prüfung der Ermittlungsakte, von der zur weiteren Verfahrensbeschleunigung Doppelakten zum Zwecke der Gewährung von Akteneinsicht angefertigt worden sind, ist unter dem 31.03.1999 die öffentliche Klage erhoben worden. Am selben Tage hat die Staatsanwaltschaft in Absprache mit und auf ausdrücklichen Wunsch der Verteidigung den Sachverständigen Prof. Dr. L. mit der Erstattung eines schriftlichen Gutachtens zur Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Angeklagten und seiner eventuellen Unterbringung nach §§ 63, 64 StGB beauftragt. Die von dem Sachverständigen für Mitte Mai 1999 vorgesehene Exploration des Angeklagten konnte nicht durchgeführt werden, da der Angeklagte zunächst ein Gespräch mit den Sachverständigen verweigert hatte. Die erforderliche Untersuchung konnte deshalb erst am 17./18.6.1999 erfolgen. Unter dem 25.06.1999 wurde das schriftliche Gutachten abgefaßt.
Die Strafkammer hat die am 6. 4 1999 eingegangene Anklage unverzüglich dem Angeklagten und seinem Verteidiger bekanntgemacht und mit der Verteidigung frühzeitig Kontakt hinsichtlich einer eventuellen Terminierung aufgenommen. Insoweit ist Einvernehmen erzielt worden, zunächst das vorläufige Ergebnis des Gutachtens zur Schuldfähigkeit abzuwarten, was unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgebotes vorliegend nicht zu beanstanden ist. Bereits am 29.06.1999 hat die Strafkammer das Hauptverfahren eröffnet (nachdem ihr der Sachverständige Prof. Dr. L. am 21.06.1999 vorab mitgeteilt hatte, daß sich bei dem Angeklagten keine Hinweise auf eine völlige Aufhebung der Schuldfähigkeit für die Tatzeit ergeben hätten) und zugleich in Absprache mit der Verteidigung und dem Sachverständigen Hauptverhandlungstermine ab dem 22.09.1999 bestimmt. Eine frühere Terminierung war nicht möglich, weil der Sachverständige bis Ende 7. 1999 infolge Urlaubs und anschließend aufgrund Gutachtertätigkeit in einer anderen Schwurgerichtssache verhindert war bzw. ist.
Wenn unter diesen Umständen das Verfahren noch nicht abgeschlossen werden konnte, so beruht das auf wichtigen Gründen i.S.v. § 121 Abs. 1 StPO, die ein Urteil noch nicht zugelassen haben, es andererseits aber rechtfertigen, die auch vom Landgericht für erforderlih erachtete Untersuchungshaft des Angeklagten über sechs Monate hinaus aufrechtzuerhalten.
Die Nebenentscheidung folgt aus § 122 Abs. 3 Satz 3 StPO.
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