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Rechtsprechung


Aktenzeichen: 4 Ss OWi 634/99 OLG Hamm

Senat: 4

Gegenstand: OWi

Stichworte: Zulassungsbeschwerde, Zulassung wegen Versagung rechtlichen Gehörs, Aufhebung, Geschwindigkeitsüberschreitung, Verfahrensrüge, Akteneinsicht, Akteneinsichtsgesuch, Ablehnung eines Beweisantrages auf Vernehmung von Zeugen ohne tragfähige Begründung

Normen: 80 Abs. 1 Nr. 2, OWiG 77 Abs. 2 Nr. 2

Beschluss: Bußgeldsache gegen J.V.,
wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit.

Auf den Antrag des Betroffenen vom 11.03.1999 auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gemäß §§ 79 ff. OWiG gegen das Urteil des Amtsgerichts Lemgo vom 10.03.1999 hat der 4. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Hamm am 06.07.1999 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und den Richter am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gemäß § 79 Abs. 5, 6 OWiG beschlossen:

1. Die Rechtsbeschwerde wird wegen Versagung des rechtlichen Gehörs zugelassen (Entscheidung der Einzelrichterin).
2. Das angefochtene Urteil wird mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Lemgo zurückverwiesen.

Gründe: I. 1. Das Amtsgericht verurteilte den Betroffenen wegen "fahrlässiger Verkehrsordnungswidrigkeit nach §§ 3 Abs.3, 49 Abs.1 Nr.3 StVO i.V.m. § 24 StVG" zu einer Geldbuße von DM 150.
Nach den Feststellungen befuhr er am 19.10. 1998 gegen 8.36 Uhr mit seinem PKW der Marke VW, amtliches Kennzeichen LIP - AV 200, in Lemgo - Voßheide die L 712 (Ostwestfalenstraße) in Fahrtrichtung Blomberg und hielt statt der außerhalb der geschlossenen Ortschaft zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h eine Geschwindigkeit von 131 km/h ein. Bei der erforderlichen und ihm zumutbaren Sorgfalt hätte er seine Geschwindigkeitsüberschreitung bemerken und unterlassen können.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen, deren Zulassung er beantragt hat. Er rügt die Verletzung rechtlichen Gehörs.
Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde als unbegründet zu verwerfen.
2. Mit der ordnungsgemäß ausgeführten Verfahrensrüge macht der Betroffene geltend, das Amtsgericht habe ihm rechtliches Gehör versagt, weil es einem Akteneinsichtsgesuch nicht entsprochen und einen auf die Vernehmung weiterer Zeugen gerichteten Beweisantrag aus unzutreffenden verfahrensrechtlichen Gründen abgelehnt sowie die Verurteilung allein auf die Aussage eines Polizeibeamten gestützt habe, der keine Angaben dazu habe machen können, ob der Betroffene - der sich zur Sache nicht geäußert hat - das Fahrzeug zum Tatzeitpunkt geführt habe.
Aus den Akten ergibt sich dazu folgender Verfahrensablauf:
In dem der Sache zugrundeliegenden Bußgeldbescheid des Kreises Lippe vom 30.11.1998 sind in der Spalte "Beweismittel" für die dem Betroffenen zur Last gelegte Geschwindigkeitsüberschreitung um 31 km/h die Kästchen "Angaben des Betroffenen", "Foto", "Radarmessung" und "Zeugenaussage" angekreuzt. Als "Anzeigeerstatter/Zeuge" ist PK W. vom Verkehrsdienst der Kreispolizeibehörde Detmold maschinenschriftlich eingesetzt (Bl.1 d.A.).Im Anhörungsbogen hat derselbe Polizeibeamte in der Spalte "Angaben zur Sache - Wird der Verkehrsverstoß zugegeben?" das Kästchen "Ja" ausgefüllt (Bl. 2/2 R d.A.).Ein Beweisfoto befindet sich nicht bei den Akten.
Nach dem zulässigen Einspruch des Betroffenen bestimmte das Amtsgericht Lemgo am 03.02.1999 Termin zur Hauptverhandlung auf den 26.02.1999 und forderte beim Kreis Lippe "Meßprotokoll + Eichschein" an (Bl. 17 d.A.). Mit Schriftsatz vom 12.02.1999 bat der Verteidiger um Terminsverlegung, Beiziehung der den Verkehrsvorgang betreffenden Unterlagen von der Bußgeldbehörde und anschließende ergänzende Akteneinsicht zur Abfassung einer Stellungnahme zur Sache. Der Amtsrichter verlegte den Hauptverhandlungstermin auf den 10.03.1999.
Mit Fax vom 03.03.1999 sind Ablichtungen der Meßunterlagen beim Amtsgericht eingetroffen, wovon der Verteidiger jedoch keine Kenntnis erhalten hat. Bei den Urkunden des Verkehrsdienstes handelt es sich um einen Eichschein der Eichverwaltung Nordrhein-Westfalen für ein Verkehrsradargerät der Firma Multanova vom Typ MU VR 6 F und um ein von PK Wohlgemuth als Meßtrupp- und Protokollführer gefertigtes Meßprotokoll, in dem in der Zeile "Anhaltetrupp" handschriftlich "ab 9.00 h B., PK / K., POM" eingetragen ist (Bl. 27 d.A.).In dem das Fahrzeug VW Golf, Kennzeichen LIP - AV 200, betreffenden Auszug aus dem Meßprotokoll sind weiter u.a. die "laufende Bildnummer 3", die "Zeit 8.38 Uhr" und als "Bemerkungen" eingefügt: "kam zurück (08.40 - 08.50 Personalbogen anbei)" (Bl. 28 d.A.).
In der Hauptverhandlung vom 10.03.1999, in der sich der Betroffene zur Sache nicht eingelassen hat, hat sein Verteidiger ausweislich der am Terminstage fertiggestellten Sitzungsniederschrift nach Vernehmung des Polizeibeamten R.W. als Zeugen beantragt,
"die Zeugen B. und K. zu hören, zu der Behauptung, der Betroffene ist nicht angehalten und seine Personalien nicht festgestellt worden" (Bl. 30 d.A.).
Darauf hat das Gericht beschlossen und verkündet ("b.u.v."):
"Der Antrag wird gem. § 77 Abs.2 Nr.2 OWiG zurückgewiesen, weil die zu beweisende Tatsache ohne verständigen Grund so spät vorgebracht worden ist, daß die Beweiserhebung zur Aussetzung der Hauptverhandlung führen würde" (Bl. 30 d.A.).
Antragsgemäß ist sodann die Erklärung des Verteidigers wörtlich zu Protokoll genommen worden:
"Ich rüge fehlendes rechtliches Gehör im Hinblick auf nicht erteilte Akteneinsicht trotz des Antrages vom 12.2.99 mit dem Hinweis auf fehlende Beweismittel zur Messung und zur Personalienfeststellung des Betroffenen" (Bl. 31 d.A.).
Am Schluß der Sitzung ist die eingangs wiedergegebene Sachentscheidung ergangen. Ausweislich der schriftlichen Gründe hat das Amtsgericht die den Schuldspruch tragenden Feststellungen aufgrund der Aussage des Polizeibeamten R.W. getroffen. Im Hinblick auf die Bekundungen dieses Zeugen hat sich der Richter davon überzeugt, daß die Messung ordnungsgemäß gewesen ist und der Betroffene das Fahrzeug zum Tatzeitpunkt geführt hat. Dazu ist im Urteil u.a. ausgeführt:
"Der als Meßbeamter eingesetzte und mit dem Umgang des Gerätes Multanova VR 6 F gesondert geschulte Zeuge W. hat ferner ausgesagt, daß er das mobile Gerät vor den Messungen den Vorschriften gemäß aufgebaut habe. Er habe das Gerät parallel zur Fahrbahn in dem erforderlichen Winkel aufgestellt und eingemessen. Eine Kalibrierung sei nicht erforderlich gewesen, weil der Film nicht gewechselt haben werden müsse. Eine gesonderte Kalibrierung sei nur erforderlich, wenn ein Film in das Gerät eingelegt oder herausgenommen werde. Ansonsten stelle sich das Gerät selbst ein. Vor der Anzeige einer Messung überprüfe das Gerät die gemessene Geschwindigkeit dreimal. Sofern sich Unstimmigkeiten ergeben, zeige der Apparat eine Fehlmessung an.
Wenn ein Fahrzeug gemessen werde, werde die Geschwindigkeit auf dem Display angezeigt. Die Daten würden in ein Meßprotokoll übertragen. Dem Anhaltetrupp werden sodann die Daten des anzuhaltenden Fahrzeuges, insbesondere Kennzeichen und Fahrzeugtyp per Funk durchgegeben.
Der Anhaltetrupp stoppe sodann das Fahrzeug. Die Beamten ließen sich sodann Führerschein und Fahrzeugschein zeigen und notierten sich Kennzeichen und Halter." (Bl. 36/37 d.A.)
II. 1. (Entscheidung der Einzelrichterin gemäß § 80 a Abs.2 Nr.2 OWiG:)
Die Rechtsbeschwerde war zuzulassen, weil es gemäß § 80 Abs.1 Nr.2 OWiG geboten war, das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben. Dieser Zulassungsgrund wird durch § 80 Abs.2 OWiG nicht eingeschränkt (vgl. Göhler,12. Aufl. (1998), § 80 Rdnr.16 i m.w.N.).
2. Die Prüfung ergibt im vorliegenden Fall, daß das Amtsgericht durch die Behandlung des vom Verteidiger in der Hauptverhandlung gestellten Beweisantrags das rechtliche Gehör des Betroffenen verletzt hat.
a ) Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs gebietet, daß Beweisanträge, auf die es für die Entscheidung ankommt, vom Gericht berücksichtigt werden müssen, sofern nicht Gründe des Prozeßrechts es gestatten oder dazu zwingen, sie unbeachtet zu lassen (BVerfG NJW 1996, 2785, 2786 m.w.N.). Die Ablehnung eines Beweisantrages ohne nachvollziehbare, auf das Gesetz zurückführbare Begründung, die unter Berücksichtigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist, verletzt deshalb das rechtliche Gehör (vgl. BVerfG NJW 1992, 2811; OLG CeIle VRS 84, 232, 233; OLG Köln NZV 1998, 476, 477).
So liegt der Fall hier, soweit das Amtsgericht den Beweisantrag auf Vernehmung der Zeugen B. und K. als verspätet zurückgewiesen hat, obwohl die Vernehmung des Polizeibeamten Wohlgemuth in der Hauptverhandlung erstmals Anhaltspunkte dafür ergeben hat, daß ein polizeilicher Anhaltetrupp an der Personalienfeststellung des Betroffenen beteiligt gewesen sein könnte.
b) § 77 Abs.2 Nr.2 OWiG ermächtigt das Gericht, das einen Sachverhalt nach dem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme für geklärt hält, einen Beweisantrag auch dann abzulehnen, wenn nach seiner freien Würdigung das Beweismittel oder die zu beweisende Tatsache ohne verständigen Grund so spät vorgebracht wird, daß die Beweiserhebung zur Aussetzung der Hauptverhandlung führen würde. Dabei bleibt die Pflicht des Gerichts nach § 77 Abs.1 OWiG unberührt, die Wahrheit unter Berücksichtigung der Bedeutung der Sache von Amts wegen zu erforschen (BT - Drucks. 392/96 S.20).
Unter Berücksichtigung des oben wiedergegebenen Aktenauszugs hat der erkennende Richter den Beweisantrag auf Vernehmung der Zeugen B. und K. zu der Behauptung, der Betroffene sei nicht angehalten und seine Personalien nicht festgestellt worden, nicht ohne Verfassungsverstoß deswegen ablehnen dürfen, weil die zu beweisende Tatsache ohne verständigen Grund zu spät vorgebracht worden sei.
c ) Zutreffend hat ihn der Verteidiger bereits in der Hauptverhandlung sinngemäß darauf hingewiesen, daß ihm die Umstände der Messung und der Personalienfeststellung mit den als Beweismittel genannten Zeugen B. und K. erstmals durch die Zeugenvernehmung des Polizeibeamten W. bekannt geworden sind.
An der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln, hat es keinen Anlaß gegeben. Der vom Zeugen in der Hauptverhandlung behauptete Einsatz des Anhaltetrupps bei der Personalienfeststellung des Betroffenen hat in den Akten keinen Niederschlag gefunden.
Selbst nach dem Inhalt des Meßprotokolls, das dem Verteidiger überdies nicht zur Kenntnis gebracht worden war, ist der Anhaltetrupp noch nicht tätig gewesen, als der Betroffene den ihm zur Last gelegten Verkehrsverstoß begangen haben soll. Es versteht sich deshalb von selbst, daß die Verteidigung die Beweisbehauptung - auch zur Überprüfung der Richtigkeit der Zeugenbekundungen - erst hat aufstellen können, nachdem sich der Zeuge Wohlgemuth in der Hauptverhandlung entsprechend geäußert hatte. Der vom Amtsgericht nicht näher erläuterte Vorwurf der Prozeßverschleppung ist unter diesen Umständen nicht nachvollziehbar.
Gänzlich unverständlich ist die Entscheidung des erkennenden Richters darüber hinaus in der Beurteilung der Sachaufklärung aufgrund der erhobenen Beweise. Die Aussage des Zeugen Wohlgemuth in der Hauptverhandlung hat im krassen Widerspruch zum Inhalt der von ihm gefertigten und in der Hauptverhandlung teilweise verlesenen Urkunden, die er zeitnah zum Verkehrsvorgang erstellt hatte, gestanden. Ihre Bewertung als uneingeschränkt glaubhaft ohne jede Auseinandersetzung mit dem abweichenden Sachverhalt, wie er sich aus dem verlesenen Meßprotokoll und dem Bußgeldbescheid ergeben hat, findet im Prozeßrecht keine Stütze. Ihre Auswahl als alleinige Feststellungsgrundlage erscheint willkürlich und steht damit nicht im Einklang mit den das Grundgesetz beherrschenden Gedanken.
III. Das ergangene Urteil war danach aufzuheben und die Sache war zur erneuten Verhandlung und Entscheidung gemäß § 79 Abs. 6 OWiG an das Amtsgericht Lemgo zurückzuverweisen, das auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde zu befinden haben wird, da deren Erfolg im Sinne des § 473 StPO i.V.m. § 46 Abs.1 OWiG noch nicht feststeht.
Der Senat hat keinen Anlaß gesehen, die Sache einer anderen Abteilung des Amtsgerichts zu übertragen.


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