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Rechtsprechung


Aktenzeichen: 4 BL 172/99 OLG Hamm

Senat: 4

Gegenstand: BL6

Stichworte: BtM, Ermittlungsverfahren, Zeitraum zwischen Vorlage des Schlußberichts und Anklageerhebung, Abwarten auf erwartete Einlassung des Angeklagten, wichtiger Grund, Beschleunigung

Normen: StPO 121 Abs. 1

Beschluss: Strafsache gegen R.Y.,
wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz,
hier: Haftprüfung durch das Oberlandesgericht.

Auf die Vorlage der (Doppel-)Akten - 2. Haftsonderheft - zur Entscheidung nach §§ 121, 122 StPO hat der 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 28.09.1999 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft, der Verteidiger und des Angeklagten beschlossen:

Die Fortdauer der Untersuchungshaft aber sechs Monate hinaus wird angeordnet.
Die Haftprüfung für die nächsten drei Monate wird dem nach den allgemeinen Vorschriften dafür zuständigen Gericht übertragen.

Gründe: Der Angeklagte ist in der vorliegenden Sache am 24.03.1999 polizeilich festgenommen und aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Ahaus vom 25.03.1999 - 2 Gs 153/99 - an diesem Tage zur Untersuchungshaft gebracht worden, die seitdem ununterbrochen vollzogen wird. Die Untersuchungshaft dauert damit seit nunmehr über sechs Monaten an.
Dem zwischenzeitlichen Ermittlungsstand entsprechend ist der Haftbefehl vom 25.03.1999 durch Beschluss des Landgerichts Münster vom 03.09.1999 (Bl. 322 ff. Bd. II DA ) neu gefasst und ersetzt worden. Dieser neue, auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützte Haftbefehl ist dem Angeklagten bekannt gemacht worden und ist damit die Grundlage des vorliegenden Haftprüfungsverfahrens. Dem Angeklagten wird nunmehr zur Last gelegt, in der Zeit von 8. 1997 bis zum 20.03.1999 in Stadtlohn und anderen Orten in 94 Fällen tateinheitlich Betäubungsmittel im Sinne des § 1 des Betäubungsmittelgesetzes ohne Erlaubnis nach § 3 BtMG erworben und damit gewerbsmässig Handel getrieben zu haben, wobei es sich in 16 Fällen um nicht geringe Mengen handelte, und tateinheitlich damit in 13 FälIen Betäubungsmittel unerlaubt eingeführt zu haben, wobei es sich in einem Fall um eine nicht geringe Menge handelte. Insoweit wird ihm der Erwerb und gewinnbringende Weiterverkauf von Kokain vorgeworfen. In 5 Fällen habe er jeweils mindestens 30 Gramm Kokain von dem Zeugen R., in 62 Fällen jeweils 10 Gramm und in einem weiteren Fall 50 Gramm von dem Zeugen I. sowie in 13 Fällen jeweils mindestens 5 Gramm Kokain selbst in den Niederlanden erworben. Darüber hinaus wird ihm vorgeworfen durch eine weitere Handlung vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat (Handeltreiben mit Betäubungsmitteln) Hilfe geleistet zu haben. Wegen der Einzelheiten wird auf die Darstellung im Haftbefehl vom 03.09.1999 Bezug genommen.
Mit diesem Vorwurf identisch ist die Anklage der Staatsanwaltschaft Münster vom 27.08.1999 (Bl. 308 ff. Bd. II DA), die das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen zutreffend zusammenfasst. Sie ist dem Angeklagten und seinen Verteidigern zugestellt worden. Die Anklage ist unverändert durch Beschluss vom 23.09.1999 (Bl. 348 Bd. II DA ) zur Hauptverhandlung zugelassen und deren Beginn ab dem 25.10.1999 mit zwei Fortsetzungsterminen anberaumt worden.
Dringender Tatverdacht ergibt sich aus der geständigen Einlassung des richterlich vernommenen Angeklagten sowie den Bekundungen insbesondere der anderweitig verfolgten Zeugen C. und I. sowie dem Ergebnis der Telefonüberwachung. Im übrigen gründet sich der Tatverdacht auf die Angaben von Abnehmern des Kokains, unter anderem den Zeugen pp.l. Diese haben in einer Vielzahl von Einzelfällen den Erwerb von Kokain vom Angeklagten bestätigt.
Bei dem Angeklagten besteht auch weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO ), denn es besteht die konkrete Gefahr, dass er sich dem Verfahren durch Flucht entzieht, würde er freigelassen. Obschon der Angeklagte nicht vorbestraft ist, hat er gleichwohl wegen der ihm zur Last gelegten Taten mit einer hohen, zu vollstreckenden Freiheitsstrafe zu rechnen, was für ihn einen beträchtlichen Fluchtanreiz begründet. Dem stehen keine tragfähigen sozialen Bindungen gegenüber. Eine solche Bindung ergibt sich auch nicht aus seiner beruflichen Eingliederung. Seine ursprüngliche Existenzgrundlage hat er mit der Abgabe der früher selbständig betriebenen Lackiererei verloren. Er arbeitete bis zu seiner Festnahme als Autolackierer in der Fa. H.. Der Senat sieht zwar, dass wegen dieses Beschäftigungsverhältnisses des Angeklagten sowie der Tatsache, dass er seit seinem 16. Lebensjahr (1982 ) in Deutschland lebt, durchaus soziale Bindungen in Deutschland begründet worden sind. Diese bieten jedoch in Anbetracht der Gesamtumstände gleichwohl keine hinreichend tragfähige Grundlage für die Annahme, der Angeklagte werde sich dem Verfahren, würde er freigelassen. Bereits der bisherige Lebenszuschnitt des Angeklagten begründet nicht die Erwartung, dass er in seinem Beruf wieder tätig werden wird. Schon bisher ist er mit den dort erzielten Einkünften nicht ausgekommen. Sowohl wegen offener Forderungen privater Gläubiger als auch insbesondere im Hinblick auf die auf den Angeklagten zukommenden Steuerforderungen steht nicht zu erwarten, dass er sich in Zukunft mit dem Leben mit bescheidenen Einkünften - wahrscheinlich langjährig im Umfang der Pfändungsfreigrenzen - begnügen wird. Schon von daher steht zu erwarten, dass er statt dessen dem Fluchtanreiz nachkommen und sich ins benachbarte Ausland, wohin er ausweislich der Telefonüberwachung umfangreiche Beziehungen unterhält, oder in seine Heimat Türkei absetzen wird. Letzteres liegt auch deshalb nahe, da seine Frau erst vor einem Jahr von dort in die Bundesrepublik übergesiedelt ist und bislang kein Deutsch spricht.
Auf diesem Hintergrund sind weniger einschneidende Maßnahmen als die Anordnung und auch der Vollzug der Untersuchungshaft (§ 116 StPO) nicht ausreichend um die Fluchtgefahr wirksam einzudämmen.
Der absehbare weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht nicht ausser Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der im Verurteilungsfalle zu erwartenden Bestrafung.
Die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus sind gleichfalls gegeben. Das Ermittlungsverfahren ist letztlich noch mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung betrieben worden. Zwar ist der Zeitraum zwischen Eingang der Akten mit Vorlage des Schußberichts (17.5.1999) und der Anklageerhebung (27.8.1999) unter dem Gesichtspunkt der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung nicht unbedenklich. Er findet jedoch hier angesichts der besonderen Umstände des vorliegenden Verfahrens seine Erklärung und Rechtfertigung. Bei Akteneingang waren Erkenntnisse aus Nachvernehmungen sowie aus der bereits am 28.05.1999 anstehenden Hauptverhandlung gegen den Zeugen Ilhan zu erwarten. Die diesbezüglichen Unterlagen gingen am 21.06.1999 bei der Staatsanwaltschaft ein (Bl. 260 Bd. II DA). Auch das weitere Zuwarten mit der Anklageerhebung ist hier nicht zu beanstanden. Der Angeklagte hat nämlich in seiner Nachvernehmung am 09.06.1999 zu erkennen gegeben sich ggf. später nach Absprache mit seinem Anwalt äußern zu wollen. Als Anwalt war seinerzeit zunächst Rechtsanwalt E. tätig, dem die Akten antragsgemäss zur Einsicht überlassen worden waren. Von diesem wurden die Akten unter Datum vom 19. 7. -1999 zurückgesandt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich jedoch mit Rechtsanwalt Dr. G. ein weiterer Verteidiger bestellt und unter Berufung auf eine erst am 13.07.1999 ausgestellte Strafprozessvollmacht mit am 19.07.1999 eingegangenem Schriftsatz um Akteneinsicht nachgesucht. Da zu dieser Zeit noch mit einer ergänzenden Stellungnahme des Angeklagten nach Rücksprache mit seinem neuen, am Ort seiner Inhaftierung ansässigen Verteidiger Dr. G. gerechnet werden durfte, ist auch gegen das Zuwarten im Hinblick auf dessen mögliche Stellungnahme nach Akteneinsicht nichts zu erinnern. Als von diesem die Akten mit am 11.08.1999 bei der Staatsanwaltschaft eingegangenem Begleitschreiben ohne Ankündigung einer ergänzenden Stellungnahme zurückgesandt wurden, wurde umgehend Anklage erhoben. Diese datiert unter dem 27.08.1999 und lag bereits am 31.08.1999 beim Landgericht Münster vor.
Gegen die Bearbeitung im bisherigen gerichtlichen Verfahren ist nichts zu erinnern. Bereits am 31.08.1999 hat das Landgericht Münster das Zwischenverfahren eingeleitet, Rechtsanwalt Dr. G. dem Angeklagten als Pflichtverteidiger beigeordnet, sowie mit Beschlüssen vom 03.09.1999 den Haftbefehl angepasst und die Begutachtung des Angeschuldigten hinsichtlich seiner Schuldfähigkeit durch den Sachverständigen Dr. L. angeordnet. Unmittelbar nach Ablauf der Stellungnahmefrist ist mit Beschluss vom 23.09.1999 das Hauptverfahren eröffnet und entsprechend der mit dem Sachverständigen und dem Pflichtverteidiger getroffenen Absprache Termine zur Hauptverhandlung für den 25.10.1999 mit zwei Fortsetzungsterminen anberaumt worden.
Wenn unter diesen Umständen das Verfahren noch nicht abgeschlossen werden konnte, so beruht das auf wichtigen Gründen i. S. v. § 121 Abs. 1 StPO, die ein Urteil bisher nicht zugelassen haben, es andererseits aber rechtfertigen, die auch vom Landgericht für erforderlich erachtete Untersuchungshaft des Angeklagten über sechs Monate hinaus aufrechtzuerhalten.
Die Nebenentscheidung folgt aus § 122 Abs. 3 Satz 3 StPO.


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