Aktenzeichen: 4 Ss 745/99 OLG Hamm
Senat: 4
Gegenstand: Revision
Stichworte: Aufhebung, Ablehnung der Anwendung von Jugendrecht, Heranwachsender, nähere Darlegung der Anknüpfungstatsachen, Jugendgerichtsverfahren, Reifeverzögerungen, Jugendverfehlungen
Normen: JGG 105
Beschluss: Strafsache gegen S.G.,
wegen gefährlicher Körperverletzung.
Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil der 6. kleinen Jugendkammer des Landgerichts Paderborn vom 25.03.1999 hat der 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 28.09.1999 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:
Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Jugendkammer des Landgerichts Paderborn zurückverwiesen.
Gründe: Die Jugendrichterin des Amtsgerichts Delbrück hat den zur Tatzeit 19 Jahre und 6 Monate alten Angeklagten wegen "gemeinschaftlicher" Körperverletzung zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 10,00 DM verurteilt. Auf die auf das Strafmaß beschränkte Berufung der Staatsanwaltschaft Paderborn hat die 6. kleine Jugendkammer des Landgerichts Paderborn das Urteil der Jugendrichterin "aufgehoben"' und den Angeklagten wegen "gefährlicher" Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt.
Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten mit den näher ausgeführten Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Die kleine Jugendkammer hat durch das angefochtene Urteil auf die wirksam auf das Strafmaß beschränkte Berufung der Staatsanwaltschaft das Urteil der Jugendrichterin im Rechtsfolgenausspruch abgeändert. Soweit die Jugendkammer die "Aufhebung" des erstinstanzlichen Urteils ausgesprochen hat, handelt es sich um ein offensichtliches Formulierungsversehen, denn den Urteilsausführungen ist zu entnehmen, dass die Jugendkammer von einer wirksamen Rechtsmittelbeschränkung der Staatsanwaltschaft ausgegangen ist (vgl. Seite 4 der Urteilsausführungen).
Nach den somit bindenden Feststellungen der Jugendrichterin zur Schuldfrage, auf die hinsichtlich der Einzelheiten Bezug genommen wird, hat der Angeklagte am 01.05.1998 im Zusammenwirken u.a. mit seinem Vater R.G. den Zeugen N. ins Gesicht geschlagen und sich deshalb wegen gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht.
Das Rechtsmittel des Angeklagten hat bereits mit der Sachrüge Erfolg, denn die Ausführungen zum Strafausspruch begegnen durchgreifenden rechtlichen Bedenken in bezug auf die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht.
Die Jugendkammer hat die Anwendung von Jugendstrafrecht mit der Begründung abgelehnt, dass im Lebenslauf des Angeklagten "keine Reifeverzögerungen" festzustellen wären. Er habe 1977 (gemeint ist offensichtlich 1997) geheiratet, habe sich von seiner Familie räumlich gelöst und lebe mit seiner Ehefrau selbständig in Bad Friedrichshall. Diese Erwägungen tragen nicht die Ablehnung der Anwendung von Jugendstrafrecht. Für die Anwendung des Jugendstrafrechts - diese Entscheidung betrifft allein die Straffrage (vgl. BGHSt 5, 207 = NJW 1954, 260; BGH, NStZ 1984, 447; OLG Hamburg, NJW 1963, 67; Eisenberg, JGG, 6. Aufl., § 105 Rdnr. 45; Schäfer, NStZ 1998, 330, 331) - kommt es darauf an,. ob es sich bei dem Heranwachsenden um einen zur Tatzeit noch in der Entwicklung befindlichen prägbaren Menschen handelt, bei dem Entwicklungskräfte noch in größerem Umfang wirksam sind. Dann käme die Anwendung von Jugendstrafrecht in Betracht. Um die Entscheidung für das Revisionsgericht nachprüfbar zu machen, bedarf es einer detaillierten Darlegung der Entscheidungsgründe. Die bloße Verneinung von Anhaltspunkten für den Schluss auf Reifeverzögerungen reicht keineswegs aus (vgl. PfzOLG Zweibrücken bei Böhm, NStZ 1993, 530). Es müssen vielmehr die Tatsachen und rechtlichen Schlussfolgerungen dargelegt werden, auf denen die jeweils konkrete Entscheidung beruht. Das Rechtsmittelgericht muss erkennen können, dass bei den Ermittlungen alle Möglichkeiten der Anwendung von Jugendstrafrecht ausgeschöpft wurden (vgl. Eisenberg, a.a.O., § 105 Rdnr. 46 m.w.N.). Insoweit bedurfte es insbesondere näherer Auseinandersetzung mit der bisherigen sittlichen und geistigen Entwicklung des Angeklagten. Nach den Feststellungen zum Lebenslauf des Angeklagten bestand durchaus Anlass zu entsprechenden Abwägungen, zumal der Angeklagte in seiner Jugendzeit mehrfach mit seinen Eltern in Gebieten mit unterschiedlichen sozialen, kulturellen und rechtsethischen Anschauungen der einheimischen Bewohner umziehen musste (Kosovo, Kroatien, Deutschland, Kroatien und wieder Deutschland), er keinen Beruf erlernt hat und in der Bundesrepublik keiner Arbeit nachgeht. Zudem könnte der Umstand für die Frage der Anwendung von Jugendstrafrecht bedeutsam sein, dass sich der Angeklagte möglicherweise spontan entschloss, dem eskalierenden Streit des Vaters mit dem Zeugen N. beizutreten. Insoweit dürfte auch der Frage nachzugehen sein, ob sich die Tat noch als Jugendverfehlung darstellt.
Bereits wegen dieses Darstellungsmangels war das angefochtene Urteil, das sich nur auf den Rechtsfolgenausspruch bezieht, aufzuheben und die Sache gemäß § 354 Abs. 2 StPO insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an eine andere kleine Jugendkammer des Landgerichts Paderborn zurückzuverweisen.
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