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Rechtsprechung

Aktenzeichen: 1 VAs 52/2000 OLG Hamm

Leitsatz: Zur fehlerhaften Ablehnung eines Antrages auf Überstellung zur Strafvollstreckung in die Türkei wegen unzureichender Auseinandersetzung mit den besseren Resozialisierungsmöglichkeiten im Heimatland.

Senat: 1

Gegenstand: Justizverwaltungssache

Stichworte: Strafvollstreckung im Heimatland; Aussetzung der Strafvollstreckung wegen Ausliefeferung, Ausweisung, Ermessen, Resozialisierung im Heimatland

Normen: StPO 456 a

Beschluss: Justizverwaltungssache
betreffend den Strafgefangenen I.U.
wegen Raubes (hier: Ersuchen um Vollstreckung einer Freiheitsstrafe in der Türkei)

Auf den Antrag des Betroffenen vom 28. September 2000 gegen den Bescheid des Leitenden Oberstaatsanwalts in Essen vorn 19. Juni 2000 in der Form des Beschwerdebescheids des Generalstaatsanwalts in Hamm vom 1. September 2000 hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 09.01.2001 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Der Bescheid des Leitenden Oberstaatsanwalts in Essen vom 19. Juni 2000 in der Form der Beschwerdeentscheidung des Generalstaatsanwalts in Hamm vom 1. September .2000 wird aufgehoben.

Der Leitende Oberstaatsanwalt in Essen wird angewiesen, den Betroffenen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden.

Die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Betroffenen werden bei einem Gegenstandswert von 5.000,00 DM der Landeskasse auferlegt.

Gründe:

Der Betroffene ist türkischer Staatsangehöriger. Er wurde am 27. Januar 1999 wegen schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Das Urteil ist seit diesem Tag rechtskräftig. Der Verurteilte befindet sich seit dem 22. Juli 1998 in Haft. Die Hälfte der Strafe wird am 1. Mai 2001, zwei Drittel der Strafe werden am 1. Mai 2002 verbüßt sein; das Strafende ist auf den 1. Mai 2004 notiert.

Der Betroffene hat an 25. März/4., 15. Juni 1999 beantragt, zur Strafvollstreckung in die Türkei überstellt zu werden. Er hat dazu ausgeführt, dass seine Ehefrau in der Türkei lebe und er dort auch berufliche Perspektiven als Dolmetscher habe. Außerdem sei seine Resozialisierung im Hinblick auf die bestandskräftige Ausweisungsverfügung der Ausländerbehörde Iserlohn sinnvollerweise nur in der Türkei möglich.

Der Leiter der JVA Bochum hat in einem Schreiben an die Staatsanwaltschaft Essen vom 26. August 1999 eine antragsgemäße Entscheidung befürwortet. Dies hat er damit begründet, dass der Verurteilte aufgrund der bestandskräftigen Ausweisungsverfügung keine beruflichen Förderungsmaßnahmen erhalten könne.

Der Leitende Oberstaatsanwalt in Essen hat den Antrag des Betroffenen mit folgendem, an seinen Verteidiger gerichteten Bescheid vom 19. Juni 2000, zurückgewiesen:

,,Nach den Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 31.03.1983 ist im Verhältnis zu dem Heimatland Ihres Mandanten der Vollstreckungshilfeverkehr grundsätzlich eröffnet.

Im gegenwärtigen Zeitpunkt ist es aber nicht angezeigt, bei der Bundesregierung anzuregen, die Überstellung Ihres Mandanten zur weiteren Strafvollstreckung der durch Urteil des Landgerichts Essen vom 27.01.99 verhängten Freiheitsstrafe von sechs Jahren in der Türkei an die türkische Regierung heranzutragen.

Für die Entscheidung waren im wesentlichen folgende Gesichtspunkte maßgebend:

Die Vollstreckungspraxis in der Türkei, die in aller Regel bereits eine bedingte Entlassung nach Verbüßung von 42 % der verhängten Strafe vorsieht, würde zu einer mit den Strafzwecken des deutschen Strafrechtes nicht zu vereinbarenden Besserstellung gegenüber solchen Verurteilten führen, deren Vollstreckung in Deutschland betrieben wird. Während ein Verurteilter bei einer Vollstreckung in Deutschland erst mit Ablauf von zwei Dritteln der gegen ihn erkannten Freiheitsstrafe berechtigte Aussichten hätte, bedingt entlassen zu werden, also nach Verbüßung von vier Jahren, könnte Ihr Mandant in der Türkei mit einer solchen Vergünstigung bereits nach Ablauf von zwei Jahren und sechs bzw. sieben Monaten rechnen.

Aber auch das Resozialisierungsinteresse Ihres Mandanten gibt keine Veranlassung, diese Besserstellung in Kauf zu nehmen.

Ihr Mandant ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Hier hat er auch einen Beruf erlernt. Schwierigkeiten im familiären Bereich, die ihn veranlaßt haben sollen, sich nach seinem Entweichen aus der JVA Iserlohn in die Türkei abzusetzen, geben zu einer anderen Einschätzung keine Veranlassung, zumal der Verdacht naheliegt, daß Ihr Mandant die weitere Strafvollstreckung in Deutschland vermeiden will. Die besonderen, zur Türkei bestehenden und geltend gemachten Bindungen scheinen vor dem aufgezeichneten Hintergrund nur vorgeschoben zu sein, um in den Genuß einer verkürzten .Strafvollstreckung in der Türkei zu gelangen. Mögliche, denkbare Nachteile, die im Zusammenhang mit der Ausübung der <islamischen) Religionsfreiheit in einer deutschen Justizvollzugsanstalt die de facto auftreten
können, sind selbstverschuldet und müssen in Kauf genommen werden.

Die Abwägung zwischen den Belangen Ihres Mandanten und den Interessen der Allgemeinheit an einer geordneten Strafrechtspflege verbietet es, auch im Interesse der Gleichbehandlung mit deutschen Straftätern -. zum gegenwärtigen Zeitpunkt das Gesuch Ihres Mandanten positiv zu behandeln.

Sobald Ihr Mandant die Hälfte der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe verbüßt haben wird, wird der die Vollstreckung betreibende Dezernent in die Prüfung eintreten, ob - bei Vorliegen einer bestandskräftigen Ausweisungsverfügung des zuständigen Ausländeramtes - gem. § 456 a StPO verfahren werden kann/soll."

Gegen diesen Bescheid hat der Betroffene unter dem 7. August 2000 Beschwerde eingelegt. Dabei hät er im wesentlichen gerügt, dass die Ausführungen der Staatsanwaltschaft im Hinblick auf die Gefahr einer ungerechtfertigten Besserstellung des Verurteilten zu unsubstantiiert seien. Ferner habe die Staatsanwaltschaft weder die in Deutschland möglicherweise zu erwartende Verbüßungszeit, noch den Resozialisierungsanspruch des Betroffenen ermessensfehlerfrei berücksichtigt.

Der Generalstaatsanwalt in Hamm hat mit Entschließung vom 1. September 2000 die Beschwerde des Betroffenen zurückgewiesen und dazu u.a. folgendes ausgeführt:

,Im vorliegenden Fall hat die Staatsanwaltschaft Essen bei ihrer Entscheidung, ein Vollstreckungshilfeersuchen an die türkischen Behörden nicht anregen zu wollen, das ihr ein geräumte Ermessen fehlerfrei ausgeübt. Sachfremde Erwägungen sind nicht erkennbar. Die Staatsanwaltschaft hat dabei sowohl die mit den Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983 anerkanntermaßen verfolgten Zwecke als auch die Ihrem Mandanten durch die Vollstreckung der Strafe in Deutschland erwachsenden Nachteile berücksichtigt. Andererseits ist aber auch den Interessen der Rechtspflege auf der Grundlage aller dem deutschen Strafrecht zugrunde liegenden Strafzwecke Rechnung zu tragen. In Anbetracht der erheblichen Schuld Ihres Mandanten und unter Berücksichtigung insbesondere generalpräventiver Strafzwecke sowie namentlich in Ansehung der bereits von der Staatsanwaltschaft zutreffend dargelegten Praxis der Vollstreckung von Freiheitsstrafen in der Türkei ist die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Essen sachgemäß. Nach den gesetzlichen Bestimmungen des türkischen Strafvollzugsgesetzes werden Verurteilte grundsätzlich - bei nach dem 08.04.1991 begangenen Straftaten und Verurteilungen zu zeitiger Freiheitsstrafe - nach Verbüßung der Hälfte der Strafe auf Bewährung entlassen; darüber hinaus werden gemäß Zusatzartikel 2 des türkischen des türkischen Strafvollzugsgesetzes bei der Berechnung der Frist der Entlassung auf Bewährung zusätzlich sechs Tage je Monat abgezogen, so dass in aller Regel - wie die Staatsanwaltschaft Essen zutreffend ausgeführt hat - eine Strafentlassung nach Verbüßung von ca. 42 % der verhängten Freiheitsstrafe erfolgen wird. Diese Vollstreckungspraxis widerspricht den mit der Strafvollstreckung nach deutschen
Recht verfolgten Zwecken und führt darüber hinaus zu einer erheblichen Benachteiligung vor allem deutscher Strafgefangener.

Die Staatsanwaltschaft Essen hat im Übrigen in ihrer Entscheidung auch die von den Verfassungsgericht aufgestellten Grundsätze, nach denen die Grundrechtsposition des Verurteilten neben den öffentlichen Interesse zu berücksichtigen ist, beachtet. Anhaltspunkte hinsichtlich der persönlichen Belange Ihres Mandanten, die geeignet sein könnten, gegenüber den hier insbesondere zu berücksichtigenden Haftzwecken ein höheres Gewicht beizumessen, sind - worauf die Staatsanwaltschaft Essen bereits hingewiesen hat - nicht ersichtlich.

Ihre Beschwerdebegründung rechtfertigt eine andere Entscheidung nicht.

Ihre Einwendung weise ich daher zurück."

Gegen diesen Bescheid richtet sich der Antrag des Betroffenen vom 28. September 2000. Darin führt er aus, dass allein die mögliche Benachteiligung deutscher Strafgefangener keine allgemeine Ermessensgrundlage bilden dürfe. Auch sei vorliegend dem Resozialisierungsanspruch des Verurteilten aufgrund der gegen ihn bestandskräftigen Ausweisungsverfügung, seiner in der Türkei lebenden Ehefrau und der dort bestehenden beruflichen Perspektiven nicht hinreichend Rechnung getragen worden.

Der Antrag des Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung ist zulässig und hat in der Sache. einen - zumindest vorläufigen - Erfolg.

Der Antrag nach §§ 23 ff. EGGVG ist zulässig. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 18. Juni 1997 (NJW 1997, 53013) festgestellt, dass die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, ein Ersuchen um Übernahme der weiteren Strafvollstreckung nicht anzuregen, sich als Rechtsakt mit unmittelbarer Auswirkung für den Betroffenen darstellt und sich damit auf das grundrechtlich geschützte Resozialisierungsinteresse des Verurteilten auswirkt. Daraus folge zugleich, dass ein gerichtlicher Rechtsschutz zur Überprüfung, ob die Strafvollstreckungsbehörde ihr Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat, nicht verwehrt werden darf (Art. 19 Abs. 4 GG) . Mangels anderweitiger ist hierfür der Rechtsweg nach §§ 23 ff. EGGVG eröffnet (vgl. Beschlüsse des Senats von 29. Januar 1998 - 1 VAs 7/98 -; 14. Juli 1998 - 1 VAs 31/98 - und vom 3. September 1998 - 1 VAs 45/98 -)

Aus dem Vorstehenden folgt zugleich, dass die staatsanwaltlichen Entschließungen für den Betroffenen und das Gericht die Nachprüfung ermöglichen müssen, ob die Behörde das ihr zustehende Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt hat. Insbesondere muss erkennbar sein, dass die Staatsanwaltschaft den ihr eingeräumten Ermessensspielraum eingehalten und ausgenutzt hat, dass sie dabei von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist und dass sie alle zu berücksichtigenden Umstände gegeneinander abgewogen und in ihre Entschließung einbezogen hat (s. auch der Beschluss des Senats vom 3. September 1998 - 1 VAs 45/98 -).

Diesen Anforderungen wird die Entschließung des Leitenden Oberstaatsanwalts in Essen vom 19. Juni 2000 - auch unter Berücksichtigung der Beschwerdeentscheidung vom 1. September 2000 nicht gerecht.

Die Entschließung vom 19. Juni 2000 lässt ein Abwägungsdefizit erkennen. Zwar beinhaltet sie neben dem zutreffenden Gesichtspunkt der Vollstreckungspraxis in der Türkei und den Strafzwecken des deutschen Strafrechts auch eine Auseinandersetzung mit dem Resozialisierungsinteresse des Betroffenen. Zu den in diesem Zusammenhang vom Betroffenen zur Türkei geltend gemachten familiären und beruflichen Bindungen, findet sich allerdings - ohne weitere Ausführungen - lediglich der Hinweis, dass diese nur vorgeschoben seien. Dieser Mangel wird auch durch die Beschwerdeentscheidung des Generalstaatsanwalts in Hamm nicht behoben. Diese Ausführungen der Staatsanwaltschaft lassen eine Auseinandersetzung mit der sich aus Art. 6 GG ergebenden Grundrechtsposition des Betroffenen vermissen. So ist davon auszugehen, dass durch nur im türkischen Strafvollzug mögliche Besuche der Ehefrau der Bestand der Ehe und damit auch die Resozialisierung des Betroffenen gefördert wird. Durch die Vollstreckung der Strafe in Deutschland ist ihm dagegen ein unmittelbarer, persönlicher Kontakt zu seiner Ehefrau nicht möglich. Daraus ergibt sich zweifelsfrei, dass die Überstellung des Betroffenen in die Türkei für seine Resozialisierung von besonderer Bedeutung ist. Darüber hinaus vermag zwar eine nach der Entlassung erstrebte Tätigkeit als Dolmetscher einen Antrag auf Überstellung in den türkischen Strafvollzug nicht zu begründen, da es zunächst einmal um die Resozialisierung während des Strafvollzugs geht und eine Weiterbildung für den Beruf des Dolmetschers im türkischen Strafvollzug sicherlich nicht erfolgen wird. Aber auch insoweit kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Strafvollzug in der Türkei resozialisierungsfördernde Wirkung hat. So ist es dem Betroffenen gegebenenfalls bereits aus dem Strafvollzug heraus möglich, Kontakte für die spätere Ausübung des Berufs zu knüpfen. Diese persönlichen Verhältnisse des Betroffenen müssen den Belangen der Rechtspflege gegenübergestellt werden, um dem Betroffenen und dem Senat die Überprüfung, ob die Behörde das ihr zustehende Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat, zu ermöglichen.

Eigene Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Betroffenen hat die Staatsanwaltschaft nicht getroffen. Allein der nicht näher begründete und den Feststellungen des angefochtenen Urteils widersprechende Hinweis, dieses persönliche Interesse sei nur vorgeschoben, genügt diesen Anforderungen nicht. Im Hinblick auf das Interesse des Betroffenen an seiner sozialen Wiedereingliederung sind die persönlichen Interessen vielmehr zu würdigen. Dem ist durch die formelhafte Ablehnung der persönlichen Belange nicht Genüge getan. Im Hinblick auf das Resozialisierungsinteresse des Antragstellers ist auch die bestandskräftige Ausweisungsverfügung in die Abwägung mit einzustellen, wenn diese letztendlich auch nicht von entscheidendem Gewicht ist.

Allerdings folgt aus diesen Erwägungen nicht, dass die Ausübung fehlerfreien Ermessens nur zu dem Ergebnis führen kann, dass die türkischen Behörden um Vollstreckungshilfe zu ersuchen sind. Die in den angefochtenen Bescheiden erwähnten Belange der deutschen Strafrechtspflege sind gleichfalls von erheblichem Gewicht, jedoch müssen bei der zu treffenden Ermessensentscheidung jedenfalls die vorstehenden Aspekte angemessen mit einbezogen werden.

Der angefochtene Bescheid war daher aufzuheben.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 30 EGGVG, 30, 130 KostO.


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