Aktenzeichen: 1 Ws (L) 9/2001 OLG Hamm
Leitsatz: Verwendet das Gericht bei seiner Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung ein Sachverständigengutachten, dann ist es gemäß § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO auch dann verpflichtet, den Sachverständigen mündlich anzuhören, wenn es das Gutachten nicht selbst in Auftrag gegeben hat.
Senat: 1
Gegenstand: Beschwerde
Stichworte: Strafaussetzung zur Bewährung, lebenslange Freiheitsstrafe, Einholung eines Gutachtens, Verwendung eines Sachverständigengutachtens, Pflicht zur mündlichen Anhörung eines Sachverständigen
Normen: StGB 57a, StPO 454
Beschluss: Strafsache gegen N.K.,
wegen Mordes, (hier: sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen die Ablehnung der bedingten Entlassung).
Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten vom 24. Juli 2001 gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Wuppertal vom 17. Juli 2001 hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 20.09.2001 durch den Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung - auch über die Kosten der Beschwerde - an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Wuppertal zurückverwiesen.
Gründe:
Der Verurteilte ist vom Landgericht Wuppertal am 11. Februar 1980 wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Mit Beschluss vom 20. November 1992 hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Wuppertal die Mindestverbüßungsdauer wegen der besonderen Schwere der Schuld auf 18 Jahre festgesetzt. Im Verfahren über die bedingte Entlassung des Verurteilten gem. § 57 a Abs. 1 StGB hat die Strafvollstreckungskammer ein Gutachten der Sachverständigen Dr. J. und Prof. Dr. S. vom 12. Februar und 20. Februar 1997 eingeholt. Diese gelangten zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem Verurteilten um eine ausreichend stabilisierte Persönlichkeit handele, deren weitere Bewährung im Strafvollzug nicht mehr erforderlich erscheine. Die in seiner Gewalttat hervortretende Gefährlichkeit bestehe bei dem Verurteilten nicht mehr, so dass Bedenken gegen eine bedingte Entlassung nicht mehr geltend gemacht werden könnten. Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Wuppertal hat daraufhin am 25. März 1997 die bedingte Entlassung des Verurteilten beschlossen. Innerhalb der Bewährungszeit ist der Beschwerdeführer erneut in strafrechtlicher Hinsicht in Erscheinung getreten. So verurteilte ihn das Amtsgericht Wuppertal am 14. Januar 1999 wegen versuchter Nötigung zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 30,- DM. Nach den Feststellungen des amtsgerichtlichen Urteils beabsichtigte der Verurteilte, eine marokkanische Staatsangehörige zu heiraten. Das Standesamt habe die Bestellung des Aufgebots verweigert, weil es den Verdacht gehabt habe, es handele sich um die Eingehung einer Scheinehe. Daraufhin habe am 24. Juni 1998 der Verurteilte bei der Sachbearbeiterin in Standesamtangelegenheiten in Wuppertal angerufen und auf dem Anrufbeantworter folgende Nachricht hinterlassen:
"Sie melden sich sofort bei mir, bei der nächsten Gelegenheit machen wir einen Termin, um das Schlimmste zu verhüten. Sonst gibt es eine Katastrophe. Muss erst jemand Bulldozer ins Standesamt fahren, wie es schon einmal passiert ist, oder was? Sie nehmen die Sache nicht ernst und mich auch nicht. Sie überschätzen sich und unterschätzen mich. Machen Sie keinen Fehler!"
Die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Wuppertal hat daraufhin mit Beschluss vom 14. April 1999 die gewährte Strafaussetzung widerrufen. Die gegen diese Entscheidung gerichtete sofortige Beschwerde des Verurteilten hat der Senat am 7. September 1999 als unbegründet verworfen.
Mit Schriftsatz seiner Verteidigerin vom 17. März 2000 hat der Verurteilte beantragt, ihn psychiatrisch daraufhin untersuchen zu lassen, ob die Vollstreckung des Restes seiner lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Diesen Antrag hat das Landgericht Wuppertal mit Beschluss vom 20. Juli 2000 mit der Begründung zurückgewiesen, für eine isolierte Begutachtung fehle es an einer gesetzlichen Grundlage. Daraufhin hat der Verurteilte unter dem 15. Dezember 2000 beantragt, die Vollstreckung des Restes der lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen.
Im Verfahren nach § 57 a StGB hat der Leiter der Justizvollzugsanstalt Remscheid Stellung genommen. Er hat ausgeführt, der Verurteilte habe in der letzten Zeit seine Mutter bis zu ihrem Tode am 9. Februar 2001 regelmäßig im Krankenhaus besucht, zunächst in Form von Ausführungen und ab dem 5. Februar 2001 in Form von Begleitausgängen. Nunmehr organisiere der Verurteilte - ebenfalls im Rahmen von Begleitgängen - die Haushaltsauflösung. Sein Verhalten bei den gewährten Lockerungen sei stets beanstandungsfrei. In dieser für ihn als sehr schmerzvoll erlebten Zeit habe er es verstanden, mit den Belastungen situationsangemessen umzugehen. Die Sterbebegleitung der Mutter, die für jeden Menschen eine außerordentliche psychische Belastung bedeute, habe den Verurteilten nicht überfordert, sondern ihn gefordert und in seiner Persönlichkeitsentwicklung gefördert. Begleitet werde dieser Prozess von der Anstaltspsychologin, mit der der Gefangene seit dem 5. Juni 2000 einmal wöchentlich tiefenpsychologisch fundierte Einzelgespräche führe. Am 18. Januar 2001 sei die Vollzugskonferenz zu dem Ergebnis gelangt, (weitergehende) vollzugliche Lockerungen in Form von Urlaub und Verlegung in den offenen Vollzug der hiesigen Zweiganstalt zu befürworten. Der Lockerungsvorgang liege nunmehr dem Präsidenten des Justizvollzugsamtes Rheinland zur Zustimmung vor. Im Falle der Zustimmung zu den geplanten Lockerungen beabsichtige der Beschwerdeführer während seiner Unterbringung im offenen Vollzug die Therapiegespräche fortzusetzen. Zu gegebener Zeit werde dann die Anbahnung eines Arbeitsbündnisses mit einem externen Therapeuten in Wuppertal vorbereitet, so dass die aus vollzuglicher Sicht weiterhin erforderliche therapeutische Begleitung auch nach der Entlassung sichergestellt sei. Was die Entlassungssituation betreffe, so stehe dem Gefangenen noch immer seine Wohnung zur Verfügung. Der Leiter der Justizvollzugsanstalt hält eine Entlassung zum gegenwärtigen Zeitpunkt ohne vorherige Erprobung in selbständigen Vollzugslockerungen für verfrüht. Der Psychologische Dienst der Justizvollzugsanstalt Remscheid hat in seiner Stellungnahme ausgeführt, gegen erneute Vollzugslockerungen bestünden keine Bedenken in dem Sinne, dass der Verurteilte in Symbiosen seine Enttäuschungsaggressionen nochmals massiv und fremdschädigend ausagieren würde. Diesbezüglich habe er eindeutig, wie auch in den Vorgutachten beschrieben, hinzugelernt.
Die Strafvollstreckungskammer hat den Beschwerdeführer am 10. Mai 2001 angehört. Die Strafvollstreckungskammer hat sodann das im Auftrag des Präsidenten des Justizvollzugsamtes Rheinland zur Frage von Vollzugslockerungen eingeholte psychiatrische Gutachten der Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie M. angefordert. Die Sachverständige kommt zu dem Ergebnis, unbenommen sei, dass in Zukunft Beziehungspartnerinnen des Betroffenen in Gefahr wären, wenn sich wiederum eine Situation konstellieren würde, in der eine Partnerin den symbiotischen Beziehungswünschen des Betroffenen mit Ambivalenz begegnen, der Betroffene sich bis zur Selbstaufgabe in der Beziehung verlieren und seinen einzigen Ausweg nur noch in der Vernichtung des hochgeliebten Opfers sehen würde. Es sei nicht zu erkennen, dass sich an dem Beziehungsmuster des Verurteilten tief-greifend etwas verändert habe. Sicherlich hätten alle psychotherapeutischen Bemühungen deutliche Verbesserungen in der Nachreifung der Person ergeben. Der Betroffene wirke zu vielen Dingen altersangemessen, realistisch und kompetent. Die Introspektionsfähigkeit des Betroffenen in seine Problematik erscheine nur bedingt gegeben. Unter Berücksichtigung all dieser Faktoren sei die Gefahr für erneute, ähnlich gelagerte Straftaten insgesamt eher gering, korreliere jedoch nicht mit einer relevanten Veränderung der pathologischen Beziehungswünsche des Betroffenen, die unvermindert vorhanden seien. Dieses Gutachten ist dem Verurteilten zur abschließenden Stellungnahme übersandt worden.
Mit Beschluss vom 17. Juli 2001 hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Wuppertal die bedingte Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung abgelehnt. Zur Begründung hat die Strafvollstreckungskammer u.a. ausgeführt:
"Angesichts der Vorbelastungen und des bisherigen Werdeganges des Verurteilten reicht sein beanstandungsfreies Verhalten im Vollzug allein nicht mehr zur Begründung einer günstigen Zukunftsprognose aus. Vielmehr haben die Ereignisse mit Frau Z. im Jahre 1993 sowie mit dem Standesamt im Juni 1998 gezeigt, dass der Angeklagte trotz langjähriger Strafverbüßung und mehrerer Therapien offenbar noch immer keine Einsicht hat, welche Situationen für ihn gefährlich sind, d.h., in welchen Situationen er emotional überzogen und unangemessen auf Menschen reagiert, denen er durch sein Verhalten nachhaltig Angst einjagt. Hier bedarf es nach Ansicht der Kammer noch einer langen Therapiezeit sowie mehrjähriger Vollzugslockerungen, um feststellen zu können, ob der Angeklagte fähig wird, korrektiv mit seinen Persönlichkeitsstörungen umzugehen, ohne durch sie zur Gefahr für andere zu werden.
Bestätigt werde diese Auffassung der Kammer durch eine psychiatrische Untersuchung des Verurteilten durch die Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie M. im März 2001."
Abschließend führt die Kammer aus, auch auf der Grundlage der psychiatrischen Bewertung sei die Kammer der Auffassung, dass die in der Tat zutage getretene Gefährlichkeit des Verurteilten fortbestehe und die Wahrscheinlichkeit neuer Straftaten das Maß eines noch zu verantwortenden Restrisikos bei Weitem übersteige. Aus diesen Gründen scheide nach Ansicht der Kammer vorerst die Möglichkeit einer Entlassung des Angeklagten aus dem Strafvollzug aus. Deshalb sei die (erneute) Einholung eines Sachverständigengutachtens gem. § 454 Abs. 2 Nr. 2 StPO vor dieser Entscheidung nicht erforderlich.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die sofortige Beschwerde des Verurteilten, mit der er insbesondere rügt, dass die Strafvollstreckungskammer ihre Entscheidung ohne erneute Einholung eines Sachverständigengutachtens getroffen hat.
Das Rechtsmittel hat einen - zumindest vorläufigen - Erfolg und führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung sowie zur Zurückverweisung an die Strafvollstreckungskammer.
Die Strafvollstreckungskammer hat es entgegen § 454 Abs. 2 S. 3 StPO unterlassen, die Sachverständige M. mündlich anzuhören, obgleich sie das Gutachten bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt hat. Zwar handelt es sich bei dem Gutachten der Sachverständigen nicht um ein vom Gericht gem. § 454 Abs. 2 S. 1 StPO eingeholtes Gutachten. Zur Einholung eines derartigen Gutachtens sah die Strafvollstreckungskammer sich nicht veranlasst, da sie bereits nicht erwogen hat, die Vollstreckung des Restes der lebenslangen Freiheitsstrafe auszusetzen. Letztendlich hat die Kammer aber nichtsdestotrotz das Gutachten zur Gefährlichkeitsprognose herangezogen, indem sie ausgeführt hat, auf der Grundlage der psychiatrischen Bewertung sei die Kammer der Auffassung, dass die in der Tat zutage getretene Gefährlichkeit des Verurteilten fortbestehe. Insoweit ist das Gutachten als Gutachten i.S.d. § 454 Abs. 2 StPO verwandt worden. In diesem Fall war die Strafvollstreckungskammer dann aber auch verpflichtet, gem. § 454 Abs. 2 S. 3 StPO die Sachverständige mündlich anzuhören. Diese durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 eingefügte Bestimmung ist zwingendes Recht und daher grundsätzlich unabdingbar (vgl. Senatsbeschluss vom 8. Dezember 1998 - 1 Ws (L) 10/98 -). Die Vorschrift dient auch dem Anspruch des Verurteilten auf Gewährung des rechtlichen Gehörs. Ihm ist nämlich - neben anderen Prozessbeteiligten - im Anhörungstermin Gelegenheit zu geben, Fragen an den Sachverständigen zu stellen und Erklärungen abzugeben (§ 454 Abs. 2 S. 6 StPO). Anhaltspunkte dafür, dass der Verurteilte, seine Verteidigerin und die Staatsanwaltschaft auf mündliche Anhörung des Sachverständigen verzichtet haben, sind den Akten nicht zu entnehmen.
Darüber hinaus liegen im vorliegenden Fall die Voraussetzungen, von der Mitwirkung eines Sachverständigen abzusehen, nicht vor. Die Strafvollstreckungskammer durfte nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass eine bedingte Entlassung ohnehin nicht in Betracht komme. Bereits aus dem Bericht der Justizvollzugsanstalt ergibt sich, dass der Beschwerdeführer sich in der letzten Zeit stabilisiert hat. Sowohl die psychologische Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt als auch das im Auftrage des Vollzugsamtes eingeholte Gutachten befürworten uneingeschränkt Lockerungen, da die Gefahr erneuter Straffälligkeit als gering anzusehen ist. Nach alledem bieten weder die bisherigen Sachverständigenäußerungen noch das Verhalten des Verurteilten im Vollzug Anlass, von einer neuerlichen Begutachtung abzusehen. Im Gegenteil lässt die Entwicklung in der letzten Zeit eine nunmehr günstigere Beurteilung der Prognosefrage durch einen Sachverständigen jedenfalls nicht als von vornherein ausgeschlossen erscheinen.
Bei dieser Sachlage rechtfertigt auch der von der Strafvollstreckungskammer angeführte Umstand, dass dem Verurteilten noch keine Lockerungen gewährt worden sind, kein anderes Ergebnis und kann nicht dazu führen, im Sinne der vorstehend dargelegten Grundsätze von der Beiziehung eines Sachverständigen abzusehen. Der Bewährung eines langfristig einsitzenden Verurteilten bei weitgehenden und länger andauernden Vollzugslockerungen kommt zwar ein ganz erheblicher Stellenwert für die Bejahung einer positiven Legalprognose zu. Gleichwohl kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine sachverständige Prognosebeurteilung unter Berücksichtigung der Person des Verurteilten, der Gründe seiner Delinquenz, seiner Entwicklung im Vollzug und seiner Bereitschaft am Vollzugsziel mitzuarbeiten, auch
ohne Bewährung bei Lockerungsmaßnahmen zu einem positiven Prognoseergebnis führen könnte. Ob dies vorliegend der Fall ist, kann ohne sachverständige Beratung nicht sicher beurteilt werden. Nach alledem durfte die Strafvollstreckungskammer die Entscheidung über die bedingte Entlassung nicht ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen treffen.
Die Strafvollstreckungskammer wird nunmehr Feststellungen zum weiteren Verhalten und der weiteren Entwicklung des Verurteilten im Vollzug sowie zu seiner Bereitschaft, am Vollzugsziel mitzuarbeiten, zu treffen haben, ein Gutachten zur Legalprognose, ggf. ein ergänzendes Gutachten der Sachverständigen M., einzuholen und sodann nach mündlicher Anhörung der Sachverständigen erneut über die Frage einer bedingten Entlassung zu entscheiden haben.
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