Aktenzeichen: 2 Ws 263/01 OLG Hamm
Leitsatz: Hat der Verurteilte ausschließlich auf die Freiheitsstrafe angerechnete Untersuchungshaft verbüßt hat und befindet er sich zu dem Zeitpunkt, in dem das Gericht mit der Entscheidung über eine bedingte Strafaussetzung befasst wird, auf freiem Fuß befindet, ist für diese Entscheidung über die bedingte Entlassung nicht die Strafvollstreckungskammer, sondern das Gericht des ersten Rechtszugs zuständig.
Senat: 2
Gegenstand: Beschwerde
Stichworte: sachliche Zuständigkeit, Strafkammer, Strafvollstreckungskammer, Gericht des ersten Rechtszuges, Untersuchungshaft, Strafhaft
Normen: StPO 454, StPO 462 a; StGB 57
Beschluss: Strafsache
gegen H.M.,
wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern, (hier: Ablehnung der Aussetzung einer Reststrafe zur Bewährung - § 57 Abs. 1 StGB).
Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten vom 25. September 2001 gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hagen vom 13. September 2001 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 22. 10. 2001 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der für die Entscheidung in der Sache berufenen Strafkammer des Landgerichts Hagen vorbehalten.
Gründe:
I.
Durch Urteil vom 8. Mai 2001, rechtskräftig seit dem selben Tag, hat die 1. große Strafkammer des Landgerichts Hagen gegen den Beschwerdeführer wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten ohne Strafaussetzung zur Bewährung erkannt. Der Verurteilte befand sich für dieses Verfahren aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Lüdenscheid in dem Zeitraum vom 15. November 2000 bis zur Urteilsverkündung am 8. Mai 2001, mithin fast sechs Monate, in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Hagen. Im Anschluss an die Urteilsverkündung hat das Landgericht Hagen den Haftbefehl aufgehoben; sodann haben sowohl der Verurteilte als auch die Staatsanwaltschaft noch in der Hauptverhandlung auf die Einlegung von Rechtsmitteln verzichtet.
Der Verurteilte ist sogleich auf freien Fuß gesetzt worden, da die Staatsanwaltschaft von der unmittelbaren Einleitung der Strafvollstreckung abgesehen hat.
Im Hinblick darauf, dass der Verurteilte durch Anrechnung der Untersuchungshaft bis auf einen ganz geringen Rest zwei Drittel der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe verbüßt hat, hat die Staatsanwaltschaft die Sache dem Landgericht Hagen mit Verfügung vom 23. August 2001, dort eingegangen am 30. August 2001, zur Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes gemäß § 57 Abs. 1 StGB vorgelegt.
Durch Beschluss vom 13. September 2001 hat die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hagen nach Anhörung des Leiters der Justizvollzugsanstalt Hagen, der eine vorzeitige Entlassung des Verurteilten aufgrund seines Verhaltens während seiner Inhaftierung grundsätzlich befürwortet hat, und nach mündlicher Anhörung des Verurteilten die bedingte Strafaussetzung wie von der Staatsanwaltschaft beantragt - abgelehnt. Hiergegen wendet sich der Verurteilte mit seiner rechtzeitig eingelegten sofortigen Beschwerde.
II.
Die gemäß § 454 Abs. 3 StPO, § 57 StGB statthafte und gemäß §§ 306 Abs. 1, 311 Abs. 2 StPO form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde hat Erfolg, denn die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hagen war für die von ihr getroffene Entscheidung sachlich nicht zuständig.
Zuständig für die hier zu treffende Entscheidung nach § 454 Abs. 1 StPO, § 57 Abs. 1 StGB war gemäß § 462 a Abs. 2 Satz 1 StPO vielmehr das Gericht des ersten Rechtszuges und damit die 1. große Strafkammer des Landgerichts Hagen.
Zwar liegt die Entscheidungskompetenz in den Fällen des § 454 Abs. 1 StPO in der Regel bei der Strafvollstreckungskammer (§ 462 a Abs. 1 Satz 1 StPO), in deren Bezirk der Verurteilte die Freiheitsstrafe verbüßt. Wenn aber wie vorliegend - der Verurteilte ausschließlich die auf die Freiheitsstrafe angerechnete Untersuchungshaft verbüßt hat und sich zu dem Zeitpunkt, in dem das Gericht mit der Entscheidung über eine bedingte Strafaussetzung befasst wird, auf freiem Fuß befindet, ist für diese Entscheidung das erkennende Gericht zuständig ( vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 28. Januar 1980 in 3 Ws 39/80, veröffentlicht in NJW 1980, 2090 und Beschluss vom 18. Januar 1978 in 4 Ws 25/78, veröffentlicht in MDR 1978, 592; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., § 454 Rdnr. 42).
Dies folgt aus § 462 a Abs. 2 Satz 1 StPO, wonach in anderen als den in § 462 a Abs. 1 StPO bezeichneten Fällen das Gericht des ersten Rechtszuges zuständig ist. Die Voraussetzungen, welche die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer nach § 462 a Abs. 1 StPO begründen, liegen nicht vor. Aus § 462 a Abs. 1 Satz 1 StPO ergibt sich die sachliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer für eine Entscheidung nach § 454 StPO, 57 StGB dann, wenn der Verurteilte zu dem Zeitpunkt, in dem das Gericht mit der Sache befasst wird, in eine Justizvollzugsanstalt zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe aufgenommen worden ist.
Diese Fallkonstellation ist hier aber nicht gegeben. Zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft bestand die Untersuchungshaft nicht mehr. Zwar geht nach geltender Rechtsprechung mit dem Tag der Rechtskraft die vollzogene Untersuchungshaft automatisch in Strafhaft über, ohne dass es der förmlichen Einleitung der Strafhaft nach § 451 StPO bedarf (vgl. BGH St 38, 64; OLG Celle, NStZ 1985, 188; vgl. auch OLG Dresden StV 1999, 551; OLG Frankfurt, NStZ-RR 1996, 155, 156). Jedoch lässt sich hieraus nicht zwangsläufig auf die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer schließen. Hinzu kommen muss, dass zum Zeitpunkt des Befasstseins des Gerichts mit der Sache gegen den Verurteilten Strafhaft vollstreckt wird; der insoweit entscheidende Zeitpunkt ist der Vollzugsbeginn ( vgl. hierzu auch BGH St 26, 187, 189).
Im vorliegenden Fall ist der Haftbefehl noch vor Rechtskraft des Urteil aufgehoben worden. Aber selbst wenn der Haftbefehl erst nach Rechtskraft des Urteils aufgehoben worden wäre und der Verurteilte sich bei formalistischer Betrachtungsweise also zumindest "eine juristische Sekunde" in Strafhaft befunden hätte, wäre hierdurch nicht die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer begründet worden. Denn auch in diesen Fällen ist davon auszugehen, dass es dem mutmaßlichen Willen der Verfahrensbeteiligten in der Hauptverhandlung entspricht, dass der Eintritt der Rechtskraft und die Aufhebung des Haftbefehls gleichzeitig erfolgen sollen. Das Bewirken einer - wenn auch nur kurz andauernden - Strafhaft ist in der Regel nicht beabsichtigt. Es widerspräche auch der Intention der gesetzlichen Regelung des § 462 a Abs. 1 StPO, mit einer "Sekundenstrafhaft" die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer für die Bewährungsüberwachung und die Nachtragsentscheidungen begründen zu wollen. Der Gesichtspunkt des besonders erfahrenen, entscheidungsnahen Gerichts greift hier nämlich gerade nicht (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 462 a Rdnr. 1). Die Strafvollstreckungskammer ist ein Organ innerhalb des Vollzugsgeschehens und nimmt an der Durchführung des Resozialisierungsgedankens teil. Ihre Aufgaben sind täter- und haftbezogen und setzen voraus, dass der Vollzug bei ihrem Tätigwerden noch in Gang ist. Daraus ergibt sich, dass Vorgänge, in denen nur Untersuchungshaft vollzogen worden ist, aus der Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer ausscheiden ( vgl. OLG Hamm, MDR 1978, 592). In diesen Fällen ist die Entscheidung dem erkennenden Gericht als dem entscheidungsnäheren zu überlassen ( so auch Löwe-Rosenberg-Wendisch, StPO, 25. Aufl., § 454 Rdnr. 1, § 462 a Rdnr. 39).
Die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer kann auch nicht daraus hergeleitet werden, dass gemäß § 57 Abs. 4 StGB die angerechnete Untersuchungshaft als verbüßte Freiheitsstrafe im Sinne der Absätze 1 bis 3 des § 57 StGB gilt. Diese gesetzlich angeordnete Gleichstellung von Untersuchungshaft und Strafhaft beschränkt sich nämlich auf die Berechnung der für die Aussetzung des Strafrestes maßgebenden Strafzeiten und hat keine Auswirkung auf die mit der nachträglichen Strafaussetzung zusammen hängenden Fragen (vgl. OLG Hamm, MDR 1978, 592).
Auch aus § 462 a Abs. 1 Satz 2 StPO ergibt sich nicht die Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer. Die Vorschrift lässt zwar eine Ausnahme von dem Grundsatz zu, dass die Strafvollstreckungskammer sachlich nur zuständig ist, wenn gegen den Verurteilten in einer Justizvollzugsanstalt eine Freiheitsstrafe vollstreckt wird. Danach bleibt die Strafvollstreckungskammer zuständig für Entscheidungen, die zu treffen sind, nachdem die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe unterbrochen wurde. Es kann dahin gestellt bleiben, ob vorliegend eine Unterbrechung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe im Sinne der Vorschrift erfolgte, da jedenfalls eine Strafvollstreckungskammer bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht tätig war. Dies ist indes Voraussetzung der als Ausnahmeregelung eng auszulegenden Vorschrift (vgl. OLG Dresden, StV 1999, 551).
Nach alledem war der angefochtene Beschluss aufzuheben. Eine Entscheidung des Senats in dieser Sache ist ausgeschlossen. Zwar hat das Beschwerdegericht nach
§ 309 Abs. 2 StPO grundsätzlich die Sache anstelle des Erstgerichts selbst zu entscheiden. Dies gilt aber nicht für die Fälle, in denen wie vorliegend die angefochtene Entscheidung nicht von dem gesetzlich vorgesehen Spruchkörper getroffen worden und der Mangel im Beschwerdeverfahren nicht in dem Sinne auszugleichen ist, dass das Beschwerdegericht voll an die Stelle des an sich zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers treten kann (vgl. BGH St 38, 312; KK-Engelhardt, StPO, 4. Aufl., § 309 Rdnr. 7).
Etwas anderes ergibt sich schließlich auch nicht daraus, dass der 2. Senat sowohl der Beschwerdesenat für Entscheidungen der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hagen als auch der 1. Strafkammer des Landgerichts Hagen ist. Denn es ist wie die Stellungnahme des Leiters der Justizvollzugsanstalt Hagen zeigt auch eine andere Entscheidung als die Ablehnung der bedingten Entlassung denkbar. Nur wenn ein anderes Ergebnis ausgeschlossen werden könnte, wäre der 2. Senat in diesen Fällen selbst zur Entscheidung befugt.
Die Staatsanwaltschaft wird die Akten (erneut) der zur Entscheidung berufenen 1. großen Strafkammer des Landgerichts Hagen vorzulegen haben; Da es sich bei der Entscheidung des Senats nicht um eine das Verfahren abschließende Entscheidung im Sinne des § 464 StPO handelt, war die Kosten- und Auslagenentscheidung der zuständigen Strafkammer vorzubehalten.
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