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Rechtsprechung

Aktenzeichen: 2 BL 221/01 OLG Hamm

Leitsatz: Zur Frage, ob und wann die Verhinderung des Wahlverteidigers als "wichtiger Grund" angesehen werden kann, der die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate rechtfertigt.

Senat: 2

Gegenstand: BL 6, Haftprüfung durch das Oberlandesgericht

Stichworte: Haftprüfung durch das Oberlandesgericht, wichtiger Grund, Fortdauer der Untersuchungshaft

Normen: StPO 121

Beschluss: Strafsache
gegen J.G.
wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz, (hier: Haftprüfung durch das Oberlandesgericht).

Auf die Vorlage der (Zweit-)Akten (2 Bände, 1 Beiakte TÜ) zur Haftprüfung gemäß den §§ 121, 122 StPO hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 19. 12. 2001 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht Lange nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft, des Angeklagten und seines Verteidigers beschlossen:

Der Haftbefehl des Landgerichts Hagen vom 27. November 2001 44 KLs 600 Js 253/01 wird aufgehoben.
Gründe:
I.
Der Angeklagte befindet sich seit dem 7. Juni 2001 in Untersuchungshaft. Grundlage der Haft war ursprünglich der Haftbefehl des Amtsgerichts Lüdenscheid vom 7. Juni 2001 (AZ: 6 Gs 312/01). Durch Beschluss vom 27. November 2001 hat das Landgericht Hagen diesen Haftbefehl aufgehoben und einen neuen Haftbefehl gegen den Angeklagten erlassen, der der am 16. August 2001 von der Staatsanwaltschaft Hagen vor dem Landgericht erhobenen Anklageschrift angepasst worden ist. Dieser neu gefasste Haftbefehl, der dem Angeklagten am 5. Dezember 2001 verkündet worden ist, legt ihm zur Last, in dem Zeitraum von Ende 1999 bis zu seiner Festnahme am 7. Juni 2001 in Meinerzhagen und anderen Orten durch acht selbständige Handlungen mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unerlaubt Handel getrieben zu haben. Der Angeklagte soll zumindest seit 1999 Heroin und teilweise Kokain verkauft haben, das er sich durch Bestellungen in Höhe von insgesamt mindestens 940 Gramm Heroin und 50 Gramm Kokain bei dem gesondert Verfolgten A:M. beschafft haben soll. Er soll M. das für den Erwerb der Betäubungsmittel notwendige Geld zur Verfügung gestellt und das Rauschgift nach Erhalt selbst sowie durch Einschaltung von Kleindealern an eine Vielzahl von Abnehmern verkauft haben.
Wegen der Tatbegehung im Einzelnen wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf den Inhalt des Haftbefehls und der Anklageschrift Bezug genommen.
Die von der Staatsanwaltschaft Hagen am 16. August 2001 vor dem Landgericht Hagen erhobene und dem Angeklagten am 5. September 2001 zugestellte Anklage ist durch Beschluss der zuständigen 4. großen Strafkammer des Landgerichts Hagen vom 27. November 2001 zur Hauptverhandlung zugelassen worden. Mit der Hauptverhandlung soll nach Auskunft des Vorsitzenden der Strafkammer am 6. März 2002 begonnen werden. Es ist ein Fortsetzungstermin für den 8. März 2002 vorgesehen. Eine frühere Terminierung war allein wegen der Verhinderung des Wahlverteidigers des Angeklagten nicht möglich.

Das Landgericht Hagen hat die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich gehalten und die Akten dem Senat zur Entscheidung über die Haftfortdauer gemäß §§ 121, 122 StPO vorgelegt.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus anzuordnen.

II.
Die Voraussetzungen gemäß § 121 Abs. 1 StPO für die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus sind nicht gegeben.

Zwar ist der Angeklagte der ihm zur Last gelegten Taten dringend verdächtig.

Auch die Annahme des Haftgrundes der Fluchtgefahr begegnet keinen Bedenken.

Gleichwohl unterliegt aber der Haftbefehl der Aufhebung, da es an wichtigen Gründen im Sinne von § 121 Abs. 1 StPO fehlt, die die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus rechtfertigen könnten.
Das Verfahren ist nicht mit der in Haftsachen gebotenen, auf dem Freiheitsanspruch gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG beruhenden Beschleunigung gefördert worden (vgl. BVerfGE 46, 194, 195 mit weiteren Nachweisen). Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung betont, der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten bzw. Angeklagten sei den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv entgegenzuhalten und sein Gewicht vergrößere sich gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft (vgl. BVerfGE 19, 342, 347; 20, 45, 49; 36, 264, 270; 53, 152, 158 f.). Dem trägt die Norm des § 121 Abs. 1 StPO Rechnung, wonach der Vollzug der Untersuchungshaft vor Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrecht erhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Die Bestimmung des § 121 Abs. 1 StPO lässt also nur in begrenztem Umfang eine Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus zu und ist eng auszulegen (vgl. BVerfGE 20, 45, 50; 36, 264, 271).

Das gilt namentlich für das hier allein in Betracht kommende Kriterium eines anderen wichtigen Grundes im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO. Insoweit sind als Rechtfertigungsgrund für die Haftfortdauer nur verfahrensimmanente Umstände anzuerkennen, die nicht auf Fehlern oder Versäumnissen der Strafverfolgungsbehörden oder der Gerichte beruhen.
Das Hinausschieben der Hauptverhandlung wegen Terminschwierigkeiten des Verteidigers ist kein solcher verfahrensimmanenter Umstand, auf den sich die Strafkammer des Landgerichts berufen kann; vielmehr wird die Sachbehandlung durch das Landgericht nicht mehr den Erfordernissen des § 121 Abs. 1 StPO gerecht.
Nachdem die sehr zügig geführten Ermittlungen von der Staatsanwaltschaft Hagen bereits am 16. August 2001 mit der Erhebung der Anklage zum Abschluss gebracht worden sind, hat das Landgericht mit Datum vom 27. November 2001 über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden. Termin zur Hauptverhandlung ist erst für den 6. März 2002 anberaumt, da der Wahlverteidiger wegen anderer Terminierung zu einem früheren Zeitpunkt nicht zur Verfügung steht.
Zwar ist die Frage umstritten, ob und in welchem Umfang das Verhalten des Beschuldigten oder seines Verteidigers ein die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigender anderer wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO sein kann. Dies wird man bejahen können, wenn der zur Fortdauer der Untersuchungshaft führende Umstand allein in der Sphäre des Beschuldigten bzw. Angeklagten und seines Verteidigers liegt, dem Verteidigungsinteresse des Beschuldigten bzw. Angeklagten dient sowie für das Gericht nicht vorhersehbar und damit auch nicht vermeidbar war (vgl. hierzu Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 3. Aufl.,
Rdnr. 888; Löwe-Rosenberg-Hilger, StPO, 25. Aufl., § 121 Rdnrn. 24 ff., 38 mit weiteren Nachweisen; vgl. auch Beschluss des erkennenden Senats vom 10. Oktober 1995 in 2 BL 385/95 in StV 1996, 497 f.).
Auf einen solchen unvorhersehbaren und unvermeidbaren Umstand kann sich die Strafkammer vorliegend aber nicht berufen. Sie hätte der zeitlichen Verzögerung, bedingt durch die Verhinderung des Wahlverteidigers, nämlich dadurch wirksam begegnen können, dass der Strafkammervorsitzende dem Angeklagten einen geeigneten Pflichtverteidiger bestellt hätte. Durch die Verhinderung des Wahlverteidigers darf jedenfalls nicht - wie hier eine Verfahrensverzögerung von mehreren Monaten eintreten (vgl. hierzu auch Löwe-Rosenberg-Hilger, a.a.O.; OLG Köln MDR 1991, 662, 663; OLG Düsseldorf StV 1992, 586; siehe aber OLG Düsseldorf StV 1994, 326).
Denn der Vorsitzende der Strafkammer hat auf Anfrage des Senats mitgeteilt, er habe den Wahlverteidiger, Rechtsanwalt B., bereits Anfang Oktober 2001 darauf hingewiesen, dass spätestens Anfang Dezember 2001 verhandelt werden müsse. Die Strafkammer habe daraufhin Termine für eine etwaige Hauptverhandlung in der ersten Dezemberwoche frei gehalten; ein konkreter Termin sei jedoch noch nicht zwischen den Prozessbeteiligten abgesprochen worden. Der Verteidiger habe zunächst noch Rücksprache mit seinem Mandanten nehmen wollen. Im November 2001 habe er sodann erneut Kontakt mit dem Strafkammervorsitzenden aufgenommen und diesem mitgeteilt, wegen einer umfänglichen Strafsache vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf kurzfristig keine Termine - auch nicht für einen einzelnen Hauptverhandlungstag - mehr zur Verfügung zu haben und frühestens ab 6. März 2002 abkömmlich zu sein. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wäre der Strafkammervorsitzende gehalten gewesen, dem Angeklagten einen Pflichtverteidiger beizuordnen, um dem Verfahren Fortgang zu geben. Ein Zeitraum von sechs Monaten zwischen dem Eingang der Anklage und dem ins Auge gefassten Hauptverhandlungstermin Anfang März 2002 ist bei einem Verfahren wie dem vorliegenden, das weder bezüglich seines Umfangs noch seines Schwierigkeitsgrades irgendwelche Besonderheiten aufweist, im Hinblick auf den genannten verfassungsrechtlich begründeten Anspruch des Angeklagten auf beschleunigte Aburteilung nicht mehr hinnehmbar. Die Fortdauer der Untersuchungshaft bis zur Hauptverhandlung Anfang März 2002 ist nicht mehr mit dem in Haftsachen geltenden besonderen Beschleunigungsgebot zu vereinbaren.
Soweit der Strafkammervorsitzende in seinem Vermerk vom 5. Dezember 2001 mitgeteilt hat, der Bruder des Angeklagten hätte in der gegen ihn im November 2001 vor der Strafkammer stattgefundenen Hauptverhandlung angedeutet, bei seinem Bruder liege möglicherweise eine Drogenabhängigkeit vor, hält der Senat es für geboten, dass unverzüglich ein Sachverständiger mit der Erstellung eines Gutachtens zur Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Angeklagten beauftragt wird.

Nach alledem war der Haftbefehl aufzuheben (vgl. Beschlüsse des Senats vom
6. November 1997 in 2 BL 372/97 und vom 7. Oktober 1999 in 2 BL 183/99,
StV 2000, 90 = StraFo 2000, 69).


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