Aktenzeichen: 1 Ss 1018/01 OLG Hamm
Leitsatz: Bei der Identifizierung des Angeklagten aufgrund einer Lichtbildvorlage im Ermittlungsverfahren und anschließendem Wiedererkennen in der Hauptverhandlung müssen die Urteilsgründe hinreichend deutlich erkennen lassen, dass sich der Tatrichter des beschränkten Beweiswertes eines solchen wiederholten Wiedererkennens bewusst gewesen ist.
Senat: 1
Gegenstand: Revision
Stichworte: Wiedererkennen, beschränkter Beweiswert, Identifizierung in der Hauptverhandlung, Lichtbildvorlage im Ermittlungsverfahren, Wahllichtbildvorlage
Normen: StPO 261, StPO 267
Beschluss: Strafsache
gegen R.G.,
wegen Gefährdung des Straßenverkehrs
Auf die Revision des Angeklagten vom 19. Juli 2001 gegen das Urteil der
2. kleinen Strafkammer des Landgerichts Siegen vom 18. Juli 2001 hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 05. 12. 2001 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft und des Angeklagten gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:
Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Siegen zurückverwiesen.
Gründe:
Das Landgericht Siegen hat den Angeklagten in der Sitzung vom 18. Juli 2001 wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit Nötigung zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 15,- DM verurteilt. Dem Angeklagten wurde darüber hinaus die Fahrerlaubnis entzogen. Sein Führerschein wurde eingezogen. Die Verwaltungsbehörde wurde angewiesen, dem Angeklagten vor Ablauf von noch fünf Monaten keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen. Im Übrigen wurde der Angeklagte freigesprochen.
Nach den zu der abgeurteilten Tat getroffenen Feststellungen befuhr der Angeklagte am 2. August 2001 mit dem auf seinen Bruder zugelassenen PKW Nissan mit dem amtlichen Kennzeichen in Kreuztal die Marburger Straße, Fahrtrichtung Kredenbach. Obwohl der Angeklagte gesehen habe, dass ihm auf der Gegenfahrbahn ein Noteinsatzfahrzeug mit eingeschaltetem Martinshorn und Blaulicht und erheblicher Geschwindigkeit entgegen kam, sei er zum Überholen auf die Gegenfahrbahn ausgeschert und habe dabei mehrfach seine Scheinwerfer betätigt. Um einen Frontalzusammenstoß zu verhindern, sei das Noteinsatzfahrzeug zunächst nach rechts gelenkt worden. Sodann habe der Fahrer dieses Fahrzeugs eine Vollbremsung eingeleitet. Der Angeklagte sei jedoch mit unverminderter Geschwindigkeit auf das Noteinsatzfahrzeug zugefahren und habe dabei zumindest billigend in Kauf genommen, dass durch seine Fahrweise eine konkrete Gefährdung der Insassen des Noteinsatzfahrzeugs entstanden sei. Erst wenige Meter bevor es zum Zusammenstoß der Fahrzeuge hätte kommen können, habe der Angeklagte seinen PKW wieder auf die rechte Fahrspur zurückgeführt. Das Landgericht hat die Fahrereigenschaft des Angeklagten, dessen Zwillingsbruder Halter des tatbeteiligten Fahrzeugs ist, aufgrund folgender Erwägungen als erwiesen angesehen:
Dass es sich bei dem Fahrer des weißen Pkw um den Angeklagten handelte, steht zur Überzeugung der Kammer aufgrund der Aussagen der Zeugen N., B. und K. fest. Die Zeugen A. und N. haben bekundet, sie hätten das Kennzeichen das weißen Pkw nur unvollständig ablesen können. Der Zeuge A. konnte den Fahrer nur als männliche Person zwischen 30 und 45 Jahren mit längeren Haaren beschreiben. Der Zeuge N. hat bekundet, entweder der Angeklagte oder sein Zwillingsbruder sei der Fahrer des Pkw gewesen, der ihnen auf der Marburger Straße entgegen kam. Er mache dies an der Schulterform und dem seitlichen Profil fest, welche er bei der Fahrt habe erkennen können. Der Zeuge B. hat ausgesagt, zunächst sei der weiße Pkw einige Autos hinter ihm gefahren, später sei er dann unmittelbar hinter ihm gewesen. Er habe den Fahrer im Rückspiegel gesehen und entweder der Angeklagte oder sein Zwillingsbruder sei dieser Fahrer gewesen. Schließlich hat der Zeuge K. bekundet, er habe den Fahrer des weißen Pkw über eine längere Strecke direkt hinter sich in seinem Rückspiegel sehen können, bis er selbst nach links abgebogen sei. Im Abbiegevorgang habe er noch einmal nach rechts hinüber geschaut und sich dabei den genauen Fahrzeugtyp und das Kennzeichen gemerkt, welches er sich kurz darauf notiert habe. Der Angeklagte sei der Fahrer gewesen. Er und nicht sein Zwillingsbruder passe zu dem Bild, das er im Gedächtnis habe.
Alle Zeugen waren glaubwürdig. Keiner von ihnen war mit dem Angeklagten oder seinem Zwillingsbruder bekannt. Die Zeugen B. und K. waren an den Vorgängen selbst unbeteiligt. Sie zeigten ebenso wenig wie die betroffenen Zeugen A., N. und P. eine Belastungstendenz hinsichtlich des Angeklagten. Alle Zeugen haben ihre Unsicherheiten bezüglich einer Identifizierung des Angeklagten offen eingestanden. Auch der Zeuge K. hat bekundet, dass eine Identifizierung nicht einfach sei. Nach dem von ihm gewonnenen Eindruck hat er sich die Sache nicht einfach gemacht, sondern genau überlegt und auch offen gelegt, wieso er den Angeklagten und nicht seinen Bruder für den Fahrer hält.
Dabei spielte nach seiner Aussage die im Ermittlungsverfahren vorgenommene Wahllichtbildvorlage eine große Rolle, da er den Angeklagten auf dem Lichtbild als den Fahrer wiedererkannt habe. In der Hauptverhandlung hat er nach eigenem Bekunden den Angeklagten im wesentlichen deshalb als Fahrer wiedererkannt, weil er die auf dem von ihm ausgewählten Lichtbild abgebildete Person sei. Er entspreche aber auch nach seiner heutigen Erinnerung an den Fahrer des Pkw Nissan.
Das reicht nach Ansicht der Kammer aus. Es ist der Verteidigung zuzugeben, dass sich der Angeklagte und sein Zwillingsbruder so ähnlich sehen, dass es schwer fällt, die beiden auf Anhieb zu unterscheiden. Bei genauerem Hinsehen ergeben sich dann aber Unterschiede insbesondere in der Gesichtsform und hinsichtlich der Augen. Demnach hält es die Kammer nicht für ausgeschlossen, dass ein aufmerksamer Beobachter in der Lage ist, einen der beiden als Täter zu identifizieren. Dabei ist bedacht worden, dass der Zeuge K. den Angeklagten nur durch den Rückspiegel betrachten konnte. Er hat ihm aber nach dem Fahrmanöver besondere Aufmerksamkeit geschenkt und sich seine Gesichtszüge, insbesondere im Hinblick auf eine spätere Identifizierung, eingeprägt. Der Umstand, dass das Lichtbild, das bei der Wahllichtbildvorlage vorgelegt worden ist, den Angeklagten mit Gesichtsrötungen zeigt, die er sich bei einer Festnahme zugezogen hatte, steht einer Identifizierung nicht entgegen. Auf den Schwarz-Weiß-Bildern sind die Rötungen nur bei genauem Hinsehen zu erkennen. Sie verändern den Gesamteindruck der abgebildeten Person nur unwesentlich. So erhebliche Schwellungen, dass die Gesichtsform verändert worden wäre, sind nicht vorhanden, wovon sich die Kammer in der Hauptverhandlung überzeugen konnte. Dafür, dass die Verletzungen den Angeklagten nicht erheblich verändert haben, spricht auch, dass der Zeuge den Angeklagten in der Hauptverhandlung als Fahrer bzw. als die auf dem Lichtbild von ihm als Fahrer erkannte Person identifiziert hat, obwohl der Angeklagte nun die gleiche Frisur wie sein Zwillingsbruder trägt, die in etwa der auf dem Lichtbild Nr. 9 der Wahllichtbildvorlage abgebildeten Frisur entspricht.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die in zulässiger Weise eingelegte Revision des Angeklagten, mit der er unter näheren Ausführungen die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
Das Rechtsmittel hat auf die Sachrüge einen zumindest vorläufigen Erfolg und führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung sowie zur Zurückverweisung an das Landgericht.
Die Beweiswürdigung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Sie ist lückenhaft, so dass dem Senat ihre abschließende Überprüfung auf Rechtsfehler nicht möglich ist. Zwar ist der Senat grundsätzlich an die tatrichterlichen Feststellungen gebunden, so dass die ihnen zugrunde liegende Beweiswürdigung, wie sie sich aus den Urteilsgründen ergibt, mit den Verfahrensrügen der §§ 244 Abs. 2, 261 StPO oder der Sachrüge nur in einem engen Rahmen angegriffen werden können. Das Revisionsgericht ist zugleich gehindert, das Beweisergebnis in tatsächlicher Hinsicht selbst zu bewerten (HK-StPO-Temming, StPO, § 337 Rdnr. 9). Das gilt auch für Erläuterungen von Lichtbildern (BGHSt 29, 18). Allerdings sind dem Tatrichter bei der ihm durch § 261 StPO eingeräumten Freiheit auch u.a. insoweit Grenzen gesetzt, als er die Beweise erschöpfend würdigen muss.
Die Strafkammer stützt ihre Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten maßgeblich auf die Identifizierung durch den Zeugen K.. Soweit die Strafkammer dabei darauf abstellt, dass dieser Zeuge den Angeklagten in der Hauptverhandlung als Fahrer des Kraftfahrzeugs bzw. als die im Ermittlungsverfahren im Rahmen einer Lichtbildvorlage identifizierte Person wiedererkannt hat, lassen die Urteilsgründe nicht hinreichend deutlich erkennen, dass sich die Strafkammer des beschränkten Beweiswertes eines solchen wiederholten Wiedererkennens bewusst war (BGHSt 16, 204; BGHR StPO § 261 Identifizierung 3; BGH StV 94, 638; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, § 58 Rdnr. 12 m.w.N.). Eine Rechtspflicht zur Erörterung dieser Problematik drängte sich für die Strafkammer auch schon deshalb auf, weil der Identifizierung durch den Zeugen im vorliegenden Fall eine maßgebliche Bedeutung zukommt (BGH StV 97, 454).
Das Wiedererkennen durch einen Zeugen beruht auf dem Vergleich zwischen dem gegenwärtigen visuellen Eindruck mit dem Erinnerungsbild über eine frühere Wahrnehmung. Handelt es sich um ein wiederholtes Wiedererkennen, etwa aufgrund vorangegangener Lichtbildvorlagen im Ermittlungsverfahren, kann die Verlässlichkeit des Wiedererkennens schon deshalb fragwürdig sein, weil diese durch das vorangegangene Wiedererkennen beeinflusst wird. Der so gewonnene Eindruck kann das ursprüngliche Erinnerungsbild überlagern, so dass die Gefahr besteht, dass der Zeuge - für sich selbst unbewusst - den gegenwärtigen Eindruck nicht mit dem ursprünglichen Erinnerungsbild, sondern mit dem Erinnerungsbild vergleicht, das auf dem ersten Wiedererkennen beruht. Eine falsche Beurteilung aufgrund der ersten Identifizierung kann sich deshalb bei späteren Konfrontationen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit wiederholen. Zwar schließen Fehler bei der Lichtbildvorlage die Verwertbarkeit des Wiedererkennens nicht aus, dem Urteil muss jedoch zu entnehmen sein, dass dem Gericht in diesem Fall der Mangel und die mögliche Beeinträchtigung des Beweiswertes bewusst war (OLG Düsseldorf StV 94, 8; vgl. auch LG Köln, NStZ 91, 202). Das gilt umso mehr, als der Zeuge mit dem Bruder des Angeklagten bereits in der Verhandlung vor dem Amtsgericht unmittelbar aufeinandergetroffen ist.
Es hätte deshalb näherer Ausführungen dazu bedurft, wie viele Lichtbilder dem Zeugen im Ermittlungsverfahren vorgelegt wurden und welche Ähnlichkeit die Vergleichspersonen nach Alter und äußerem Erscheinungsbild miteinander hatten. Außerdem hätte sich die Strafkammer damit auseinandersetzen müssen, ob die Zusammenstellung der Bilder in einer Form erfolgt ist, die nicht erkennen lässt, wer von den Abgebildeten der Beschuldigte und ob auf einem der Lichtbilder auch der Zwillingsbruder des Angeklagten abgebildet war. Darüber hinaus hätten im Urteil auch Feststellungen dazu getroffen werden müssen, inwieweit die Haartrachten des Angeklagten und seines Zwillingsbruders auf den vorgelegten Lichtbildern mit der Täterbeschreibung übereinstimmten. Nur so - und ggf. im Zusammenhang mit einer ergänzenden Beweisaufnahme - kann geklärt werden, ob der Angeklagte allein schon wegen seiner der Täterbeschreibung entsprechenden Haarlänge die besondere Aufmerksamkeit des Zeugen bei der Lichtbildvorlage auf sich ziehen konnte.
Aufgrund dieser lückenhaften Beweiswürdigung ist es dem Senat nicht möglich zu überprüfen, ob die Überzeugungsbildung der Strafkammer auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht. Nach alledem war das Urteil aufzuheben und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Siegen zurückzuverweisen.
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