Aktenzeichen: 3 (s) Sbd. 1 - 5/01 OLG Hamm
Leitsatz: Wegen unzureichender Strafgewalt des Amtsgerichts darf an das Landgericht erst nach § 270 StPO verwiesen werden, wenn die Verhandlung so weit geführt worden ist, dass der Schuldspruch feststeht, und wenn sich die Straferwartung so weit verfestigt hat, dass nicht mehr zu erwarten ist, eine mildere Beurteilung werde noch eine Strafe im Rahmen der Strafgewalt als ausreichend erscheinen lassen.
Senat: 3
Gegenstand: Zuständigkeitsbestimmung
Stichworte: Zuständigkeit, Verweisung, Bindungswirkung; Willkür; Schöffengericht; Strafkammer;
Normen: StPO 270.StPO 265, GVG 24, GVG 29
Beschluss: Strafsache
gegen M.M.
wegen Betruges u.a.
hier: (hier: Bestimmung des zuständigen Gerichts).
Auf die Vorlage der Akten zur Bestimmung des zuständigen Gerichts hat der
3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 29. 01. 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:
Das Amtsgericht - erweitertes Schöffengericht - Münster wird als das für die Durchführung der Hauptverhandlung weiterhin zuständige Gericht bestimmt.
G r ü n d e :
I.
Unter dem 01.06.2001 hat die Staatsanwaltschaft Münster in dem Verfahren 39 Js 642/00 gegen den Angeklagten Anklage wegen Betruges in 14 Fällen sowie wegen Unterschlagung vor dem Amtsgericht - Schöffengericht - Münster erhoben. Nachdem die Staatsanwaltschaft Münster gemäß § 29 Abs. 2 GVG die Hinzuziehung eines weiteren Richters am Amtsgericht beantragt hatte, hat das Amtsgericht Münster durch Beschluss vom 03.09.2001 die Anklage vom 01.06.2001 zugelassen und das Hauptverfahren vor dem erweiterten Schöffengericht eröffnet. Zu der auf den 13.09.2001 anberaumten Hauptverhandlung wurden durch das Amtsgericht - erweitertes Schöffengericht - Münster drei der 16 in der Anklageschrift aufgeführten Zeugen, die für die dem Angeklagten vorgeworfenen Taten benannt worden waren, sowie eine weitere Zeugin geladen. Die geladenen Zeugen betrafen die Fälle 1, 3, 11 und 15 der Anklageschrift. In der Hauptverhandlung wurde nach Verlesung der Anklageschrift, der Klärung der persönlichen Verhältnisse der beiden Angeklagten und der Beiordnung eines Pflichtverteidigers für die Mitangeklagte V. durch den Vorsitzenden der rechtliche Hinweis gemäß § 265 StPO erteilt, dass hinsichtlich sämtlicher dem Angeklagten vorgeworfener Betrugsstraftaten auch eine Verurteilung wegen eines besonders schweren Falles des Betruges gemäß § 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 StGB in der Form des gewerbsmäßigen Handelns in Betracht kommen könne. Im Anschluss daran wurde der Werdegang der beiden Angeklagten erörtert und erfolgte sodann die Vernehmung der geladenen Zeugen. Sodann erfolgte eine etwa 1 1/2 Stunden dauernde Erörterung einiger Anklagepunkte mit den beiden Angeklagten. Unmittelbar im Anschluss daran gab der Vorsitzende des erweiterten Schöffengerichtes bekannt, dass beabsichtigt sei, das Verfahren wegen der zu erwartenden Strafe an das Landgericht zu verweisen. Es wurde der Beschluss verkündet, dass sich das erweiterte Schöffengericht nach den erteilten rechtlichen Hinweisen und dem bisherigen Verlauf der Beweisaufnahme für sachlich unzuständig erklärt, da es davon ausgehe, dass bei dem Angeklagten M. eine Freiheitsstrafe zu erwarten sei, die außerhalb des gemäß § 24 Abs. 2 GVG für das Amtsgericht eröffneten Strafrahmens liegen werde. Gleichzeitig wurde das Strafverfahren gemäß § 270 StPO an das Landgericht Münster - große Strafkammer - verwiesen.
Durch Beschluss vom 02.11.2001 hat die 12. große Strafkammer des Landgerichts Münster das Verfahren an das Amtsgericht - erweitertes Schöffengericht - Münster zurückverwiesen, da es den Verweisungsbeschluss für nicht bindend erachtet hat. Zur Begründung hat die Strafkammer unter näherer Darlegung ausgeführt, das Amtsgericht habe sich nicht ernsthaft um die Durchführung der Hauptverhandlung bemüht, sondern mit dieser lediglich begonnen, um die Voraussetzungen für die Verweisung formal herbeizuführen. Die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung sei nicht so weit durchgeführt worden, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit habe beurteilt werden können, dass die Strafgewalt des Amtsgerichts nicht mehr ausreichend sei. Die bisherigen Feststellungen rechtfertigten nicht die Prognose, dass der Angeklagte M. eine Gesamtstrafe von mehr als vier Jahren zu erwarten habe.
Das Amtsgericht - erweitertes Schöffengericht - Münster hat die Sache mit Verfügung vom 13.07.2001 dem Oberlandesgericht u.a. zur Entscheidung über die Wirksamkeit der Verweisung des Verfahrens an das Landgericht Münster bzw. die Wirksamkeit der Zurückverweisung durch das Landgericht an das Amtsgericht - erweitertes Schöffengericht - Münster vorgelegt.
II.
Die Vorlage durch das Amtsgericht - erweitertes Schöffengericht - Münster ist bei zutreffender Auslegung zur Bestimmung des zuständigen Gerichtes erfolgt. Gegen die Zulässigkeit der Vorlage bestehen keine Bedenken. Es liegt ein negativer Kompetenzkonflikt im Sinne des § 14 StPO vor, den das gemeinsame Obergericht, und damit das Oberlandesgericht Hamm, zu entscheiden hat.
Als zuständiges Gericht war im vorliegenden Verfahren das Amtsgericht - erweitertes Schöffengericht - Münster zu bestimmen. Die Generalstaatsanwaltschaft hat hierzu in ihrer Stellungnahme vom 17.12.2001 u.a. folgendes ausgeführt:
Für die Durchführung der Hauptverhandlung ist das Amtsgericht - erweitertes Schöffengericht - in Münster zuständig.
Dessen Verweisungsbeschluss vom 13.09.2001 ist, wie das Landgericht Münster zu Recht angenommen hat, objektiv willkürlich und damit - ausnahmsweise - unwirksam und ohne Bindungswirkung für die Strafkammer des Landgerichts Münster.
Zwar ist das Gericht höherer Ordnung grundsätzlich an einen gemäß § 270 StPO nach Beginn der Hauptverhandlung ergangenen Verweisungsbeschluss gebunden, auch wenn er formell oder sachlich fehlerhaft ist (Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 270 Rdnr. 19). Die Bindungswirkung von Verweisungsbeschlüssen, die auf Anwendung des § 270 StPO beruhen, entfällt nur bei Entscheidungen, die mit den Grundprinzipien der rechtsstaatlichen Ordnung im Widerspruch stehen und der Verweisungsbeschluss offenbar unhaltbar ist und nicht mehr vertretbar erscheint (Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 270 Rdnr. 20).
So liegt der Fall auch hier. Die Voraussetzungen für eine Verweisung an das Landgericht wegen fehlender Strafgewalt des Amtsgerichts haben offensichtlich nicht vorgelegen.
Eine Verweisung gemäß § 270 Abs. 1 StPO wegen einer vom Eröffnungsbeschluss aufgrund neu hervorgetretener Umstände abweichenden rechtlichen Bewertung ist grundsätzlich erst zulässig, wenn sich der hinreichende Tatverdacht bezüglich des die Zuständigkeit des höheren Gerichts begründenden Delikts genügend verfestigt hat, also nicht zu erwarten ist, dass er bei weiterer Verhandlung wieder entfällt. Wegen unzureichender Strafgewalt des Amtsgerichts (§ 24 Abs. 2 GVG) darf an das Landgericht erst verwiesen werden, wenn die Verhandlung so weit geführt worden ist, dass der Schuldspruch feststeht, und wenn sich die Straferwartung so weit verfestigt hat, dass nicht mehr zu erwarten ist, eine mildere Beurteilung werde noch eine Strafe im Rahmen der Strafgewalt als ausreichend erscheinen lassen. Es gibt nämlich keine dem hinreichenden Tatverdacht entsprechende hinreichende Straferwartung. § 24 Abs. 2 GVG enthält lediglich das Verbot, auf eine den Strafbann überschreitende Sanktion zu erkennen. Das Gericht bleibt vielmehr bei sonst unveränderter Sach- und Rechtslage zunächst an eine der Eröffnungsentscheidung zugrunde liegenden Straferwartung gebunden, weil andernfalls die für eine geordnete Verfahrensabwicklung notwendige Kontinuität der einmal begründeten Zuständigkeit ständig in Frage gestellt werden könnte (Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 270 Rdnr. 9; BGHSt 45, 58, 60).
Eine Verweisung durfte deshalb erst erfolgen, wenn das Ergebnis der Hauptverhandlung vor dem Schöffengericht Münster die Beurteilung zugelassen hätte, dass die Angeklagten schuldig sind und zumindest gegen einen der Angeklagten eine die Strafgewalt des Amtsgerichts übersteigende Freiheitsstrafe von mehr als 4 Jahren (§ 24 Abs. 1 Nr. 2 GVG) zu verhängen ist. Daran fehlt es hier. Ausweislich des Protokolls der Hauptverhandlung vom 13.09.2001 ist die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung nicht so weit durchgeführt worden, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit beurteilt werden konnte, dass die Strafgewalt des Amtsgerichts nicht mehr ausreichend war. Das Schöffengericht hat - wie das Landgericht Münster in seinem Zurückverweisungsbeschluss zutreffend ausgeführt hat - die Angeklagten lediglich zu einzelnen, nicht aber allen Vorwürfen aus der Anklage vernommen. Diese haben zwar einige Tatvorwürfe eingeräumt, zu anderen Anklagepunkten haben sie sich jedoch abweichend eingelassen, so dass die weitere Fortsetzung der Beweisaufnahme als notwendig anzusehen war. Die ausweislich des Sitzungsprotokolls durchgeführte Beweisaufnahme trägt nicht die Prognose, bezüglich des Angeklagten sei auf eine Gesamtstrafe von über4 Jahren zu erkennen. Die konkrete Straferwartung aufgrund des bisher festgestellten Sachverhalts hat das erweiterte Schöffengericht in seinem Verweisungsbeschluss auch nicht dargelegt.
Bei der Schlussfolgerung, dass eine die Strafkompetenz des Amtsgerichts übersteigende Rechtsfolge in Betracht kommen könnte, handelte es sich um eine bloße Vermutung. Vielmehr hätte das erkennende Gericht die Hauptverhandlung so lange weiterführen müssen, bis ihr Ergebnis bestätigt, dass der Angeklagte im angenommenen Sinne und eine den Strafrahmen des Gerichts übersteigende Rechtsfolge angezeigt ist (OLG Düsseldorf, NStZ 1986, 426; OLG Frankfurt/Main, StV 1996, 533 f). Dies hat das Schöffengericht verabsäumt. ...
Eine zwingende Überschreitung der Strafgewalt ergibt sich auch nicht daraus, dass dem Angeklagten M. der rechtliche Hinweis erteilt worden ist, es komme auch ein gewerbsmäßiges Handeln i.S.d. § 263 Abs. 3 S. 2
Nr. 1 StGB in Betracht.
Selbst wenn hier von einem gewerbsmäßigen Handeln auszugehen wäre, ist die Annahme eines besonders schweren Falles lediglich in der Regel anzunehmen. Eine Gesamtabwägung aller dafür und dagegen sprechenden Umstände wird damit nicht überflüssig. Ob ein besonders schwerer Fall vorliegt, bestimmt sich nach dem Gesamtbild der Tat einschließlich aller subjektiven Momente sowie der Täterpersönlichkeit. Dies wird dann anzunehmen sein, wenn die Tat vom Durchschnitt der gewöhnlich vorkommenden Fälle so abweicht, dass die Anwendung des höheren Strafrahmens geboten ist. Die Tat muss so schwer sein, dass unter Berücksichtigung aller Umstände der allgemeine Strafrahmen keine ausreichende Reaktionsmöglichkeit mehr bietet (Schönke/Schröder-Cramer, StGB, 26. Aufl., § 263 Rdnr. 188 i). Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist bei den in Betracht kommenden Vermögensschäden in Höhe von 2.520,69 DM (Fall 1), 690,- DM (Fall 2), 1.173,60 DM (Fall 4), 1.047,00 DM (Fall 5), 1.483,50 DM (Fall 7), 838,98 DM (Fall 8), 529,38 DM sowie 355,64 DM (Fall 13) sowie 530,00 DM (Fall 18) zweifelhaft.
Die erforderliche Gesamtabwägung ist vom Amtsgericht in seinem Verweisungsbeschluss jedenfalls nicht dargelegt worden. Des weiteren ist zu berücksichtigen, dass der Angeklagte M. hinsichtlich eines Teils der ihm vorgeworfenen Straftaten als nicht vorbestraft anzusehen ist und er im Übrigen erst einmal strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Er wurde durch das Amtsgericht Leer im Verfahren 6 Cs 13 Js 15901/99 am 04.10.1999 wegen Betruges zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen verurteilt.
Eine Überschreitung der Strafkompetenz des Amtsgerichts ist demnach weder dargetan noch sonst ersichtlich. Die Verweisung an das Landgericht stellt einen schwerwiegenden Mangel und einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG dar, so dass die grundsätzlich auch durch fehlerhafte Rechtsanwendung nicht beeinträchtigte Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses ausnahmsweise entfällt und die Verweisung nichtig ist.
Diesen Ausführungen schließt sich der Senat an und macht sie zum Gegenstand seiner Entscheidung.
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