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Rechtsprechung

Aktenzeichen: 2 Ws 60/02 OLG Hamm

Leitsatz: Zur Fluchtgefahr bei einem ausländischen Angeklagten, dem allenfalls eine Strafe von vier Jahren Freiheitsstrafe droht, von der aber schon fast zwei Jahre verbüßt sind.
2. Die Vorlage und Weiterleitung der Akten nach § 306 Abs. 2 StPO unterliegt nicht der Disposition des Verteidigers, so dass das Gericht, dessen Entscheidung angegriffen wird, die Akten nicht wegen einer angekündigten Beschwerdebegründung zurückhalten darf.

Senat: 2

Gegenstand: Beschwerde

Stichworte: Haftbefehl, Fluchtgefahr, hohe Straferwartung, Ausländer, Verbüßung, Vorlage der Akten an das Beschwerdegericht

Normen: StPO 112, StPO 306

Beschluss: Strafsache
gegen W.R.
wegen Verstoßes gegen das BtM-Gesetz (hier: Beschwerde des Angeklagten gegen die Anordnung der Untersuchungshaft).

Auf die (Haft-)Beschwerde des Angeklagten vom 21. Dezember 2001 gegen den Beschluss der 1. großen auswärtigen Strafkammer Recklinghausen des Landgerichts Bochum vom 11. Dezember 2001 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 13. 03. 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Der Haftbefehl des Landgerichts Bochum vom 11. Dezember 2001 (21 KLs 46 Js 53/00 (I 43/00) LG Bochum) wird aufgehoben.

Die Landeskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen.

Gründe:
I.
Der Angeklagte wurde am 2. Mai 2000 aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts Recklinghausen vom 5. April 2000 wegen des Vorwurfs des Verstoßes gegen das BtM-Gesetz festgenommen. Im November 2000 fand dann die Hauptverhandlung bei der 2. auswärtigen Strafkammer Recklinghausen des Landgerichts Bochum statt. Diese verurteilte den Angeklagten am 20. November 2000 wegen unerlaubten gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 188 Fällen sowie wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Anstiftung zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren. Dabei erkannte die Strafkammer wegen des Vorwurfs des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Anstiftung zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge auf eine Einsatzstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten.

Mit Beschluss vom 8. Mai 2001 hat der BGH unter Verwerfung der Revision des Angeklagten im Übrigen das Urteil vom 20. November 2000 hinsichtlich der 188 Einzeltaten sowie im Ausspruch über die Gesamtstrafe aufgehoben und das Verfahren an das Landgericht Bochum zurückverwiesen. Dort ist jetzt die 1. auswärtige Strafkammer zuständig.

Der Angeklagte verbüßt inzwischen die rechtskräftige Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten. Strafende ist auf den 1. November 2002 notiert. Die Entlassung des Angeklagten aus der Strafhaft nach Verbüßung von 2/3 der erkannten Strafe ist durch inzwischen rechtskräftigen Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bochum vom 17. Januar 2002 abgelehnt worden. Im Verfahren hatte die Justizvollzugsanstalt die vorzeitige Entlassung des Angeklagten befürwortet.

Das Landgericht hat unter dem 11. Dezember 2001 einen neuen Haftbefehl gegen den Angeklagten erlassen. Diesen hat es nicht nur auf die 188 noch nicht rechtskräftig festgestellten Taten gestützt, sondern auch auf die Tat, wegen der der Angeklagte bereits rechtskräftig zu der Einsatzstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt ist, die er derzeit verbüßt. Als Haftgrund hat die Strafkammer Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO angenommen und diese wie folgt begründet.

"Der Angeklagte ist Ausländer ungeklärter Staatsangehörigkeit. Aufgrund seiner Herkunft - die er in der Vergangenheit mal mit Libyen, mal mit Libanon angegeben hat - hat er Auslandskontakte. Er ist zwar mit einer deutschen Frau verheiratet, mit der er zwei Kinder hat. In der Zeit vor seiner Verhaftung hat er jedoch nicht mit seiner Familie zusammengelebt. Er hat umfangreiche Kontakte im Drogenmilieu. All dies begründet unter weiterer Berücksichtigung des Umstandes, daß er von der 2. Strafkammer - bezüglich einer Einzelstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten rechtskräftig - zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt worden ist und er in dem nunmehr vor der Kammer anhängigen Verfahren erneut mit der Verhängung einer langjährigen Gesamtfreiheitsstrafe rechnen muß, einen erheblichen Fluchtanreiz. Diesem kann wirksam nur durch die Anordnung der Untersuchungshaft begegnet werden."

Gegen diesen Haftbefehl hat der Angeklagte durch seinen Verteidiger Beschwerde eingelegt, der das Landgericht nicht abgeholfen hat. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Haftbeschwerde zu verwerfen.

II.
Die Haftbeschwerde ist zulässig (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., 2001,
§ 117 Rn. 8). Sie ist auch begründet und führt zur Aufhebung des Haftbefehls vom 11. Dezember 2001.

1. Dahinstehen kann, ob der Haftbefehl bei der Begründung des "dringenden Tatverdachts" im Sinn des § 112 StPO von der zutreffenden tatsächlichen Grundlage ausgeht. Das Landgericht legt dem Haftbefehl nämlich offenbar auch noch die aufgrund des Beschlusses des BGH vom 8. Mai 2001 bereits rechtskräftig festgestellte Tat eines Verstoßes gegen das BTM-Gesetz, wegen der der Angeklagte derzeit die auf 2 Jahre und 6 Monate festgesetzte Einsatzstrafe verbüßt, zugrunde. Insoweit scheint die Strafkammer zu übersehen, dass der Angeklagte wegen dieser Tat Strafhaft verbüßt und diese Tat daher demgemäss im Rahmen des "dringenden Tatverdachts" bei der Anordnung von Untersuchungshaft nicht mehr berücksichtigt werden kann, sondern allenfalls noch bei der Beurteilung der Frage der "Fluchtgefahr".

2. Die Frage kann indes letztlich dahinstehen. Der Haftbefehl war nämlich jedenfalls deshalb aufzuheben, weil der vom Landgericht angenommene Haftgrund der Fluchtgefahr im Sinn des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO nicht gegeben ist.

Fluchtgefahr im Sinn des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO besteht nach allgemeiner Meinung dann, wenn die Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, die sich aus bestimmten Tatsachen ergeben müssen, es wahrscheinlicher macht, dass sich der Beschuldigte dem Strafverfahren eher entziehen, als sich zur Verfügung halten werde (Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 112 Rn. 22; Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 3. Aufl., Rn. 812, 813, jeweils mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung). Der Senat hat bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass die Frage, ob Fluchtgefahr vorliegt oder nicht, die sorgfältige Berücksichtigung und Abwägung aller Umstände des Falles erfordert (siehe u.a. Senat in StV 1999, 37; StV 1999, 215 mit zustimmender Anmerkung Hohmann StV 2000, 152; StraFo 1999, 248; NStZ-RR 2000, 188 = StraFo 2000, 203; StV 2000, 320; StV 2001, 685 und zuletzt Beschluss des Senats vom 6. Februar 2002 in 2 Ws 34/02).

Dem wird die Begründung des Haftgrundes der "Fluchtgefahr" durch das Landgericht nicht gerecht. Das Landgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen auf die Ausländereigenschaft des Angeklagten und seine "Auslandskontakte" sowie auf die zu erwartende "Verhängung einer langjährigen Gesamtfreiheitsstrafe" gestützt. Dabei hat es jedoch wesentliche, gegen die Fluchtgefahr sprechende Umstände übersehen:

Nach den Feststellungen des Urteils vom 20. November 2000 lebt der 1964 im Libanon geborene Angeklagte seit 1979 in der Bundesrepublik Deutschland. Hier hält sich fast seine gesamte Familie auf. Lediglich zwei der insgesamt 15 Geschwister sind in den Libanon zurückgekehrt. Ob der Angeklagte zu diesen überhaupt Kontakt hat, lässt sich den Akten nicht entnehmen. Selbst wenn das Fall wäre, würde allein das aber zur Annahme von "Auslandskontakten", die ggf. eine Fluchtgefahr begründen sollen, nicht ausreichen (zur Frage der Begründung der Fluchtgefahr bei "Auslandsberührung" siehe auch Burhoff StraFo 2000, 119 ff.). Es ist nämlich in keiner Weise ersichtlich, dass der Angeklagte diese Kontakte nutzen würde, um sich in den Libanon, den er als 15-Jähriger verlassen hat, abzusetzen.

Der Angeklagte verfügt hier - über die sozialen Bindungen zu seiner (Groß-)Familie, zu der auch noch seine Mutter gehört, hinaus - über weitere soziale Kontakte. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Der Senat übersieht insoweit nicht, dass seine Ehefrau inzwischen die Scheidung eingereicht hat. Dies ist nach dem Bericht des Leiters der Justizvollzugsanstalt Bochum vom 19. Dezember 2001, den dieser im Verfahren zur Entscheidung über die bedingte Entlassung abgegeben hat, aber nur geschehen, um den Angeklagten nachdrücklich auf die Vorstellungen seiner Ehefrau von einem weiteren Zusammenleben hinzuweisen. Die Scheidungsabsicht stellt also gerade kein endgültiges Abwenden von dem Angeklagten dar.

Die vom Landgericht angenommene "Fluchtgefahr" lässt sich auch nicht mit der zu erwartenden "langjährigen Gesamtfreiheitsstrafe" begründen. Dieser Umstand rechtfertigt weder allein noch in Zusammenhang mit den übrigen Umständen die Annahme, der Angeklagte werde sich ggf. dem Verfahren durch Flucht entziehen. Zunächst ist insoweit darauf hinzuweisen, dass dem Angeklagten, der allein gegen das Urteil vom 20. November 2000 Revision eingelegt hatte, nach § 358 Abs. 2 StPO keine höhere Strafe als eine vierjährige Gesamtfreiheitsstrafe droht. Ob das schon eine "langjährige" im Sinne einer hohen Freiheitsstrafe ist, die vorliegend offenbar die Fluchtgefahr (mit)begründen soll, kann dahinstehen (zum Begriff der "hohen" Strafe siehe ebenfalls Burhoff StraFo 2000, 119 ff.). Das Landgericht übersieht nämlich, dass von dieser Strafe, wenn auf sie wiedererkannt werden würde, schon jetzt durch die derzeit gegen den Angeklagten vollstreckte Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten, die am 1. November 2002 vollständig vollstreckt sein wird, fast 23 Monate verbüßt sind. Damit verbleibt allenfalls noch ein Strafrest von 25 Monaten. Dieser Strafrest ist aber nach Auffassung des Senats nicht ausreichend, um damit die Fluchtgefahr begründen zu können (vgl. die o.a. ständige Rechtsprechung des Senats; siehe auch dazu Burhoff StraFo 2000, 119 ff. sowie Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 3. Aufl., Rn. 549; LG Köln StV 1996, 385).

Nach allem war damit der angefochtene Haftbefehl aufzuheben.

III.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 467 StPO.

IV.
Der Ablauf des Haftbeschwerdeverfahrens gibt dem Senat im Anschluss an seinen Beschluss vom 25. 10. 1999 (2 Ws 314/99; StraFo 2000, 30 = StV 2000, 153, 155) erneut Anlass zu folgendem Hinweis:

Der zeitliche Ablauf des Verfahrens nach Einlegung der Haftbeschwerde entspricht nicht § 306 Abs. 2 StPO, wonach bei Nichtabhilfe die Akten dem Beschwerdegericht spätestens vor Ablauf von drei Tagen vorzulegen sind.

Der Verteidiger des Angeklagten hat bereits unter dem 21. Dezember 2001 Beschwerde eingelegt. Nicht zu beanstanden ist, dass diese am Nachmittag des 21. Dezember 2001, einem Freitag, eingegangene Beschwerde von der Strafkammer wegen der Weihnachtsfeiertage dann erst am 27. Dezember 2001 erstmals bearbeitet worden ist. Der Senat sieht es als auch noch sachgemäß an, dass die Strafkammer dann zunächst dem Akteneinsichtsgesuch des Verteidigers nachgekommen ist. Allerdings war Akteneinsicht nur für drei Tage gewährt, so dass nicht nachvollziehbar ist, warum die Strafkammer die Akten nach Ablauf dieser Frist dann nicht zurückgefordert hat, sondern bis zur Rücksendung der Akten durch den Verteidiger mit Schriftsatz vom 16. Januar 2002 am 21. Januar 2002 gewartet hat. Jedenfalls hätte nach Auffassung des Senats aber zumindest unmittelbar nach Rückkehr der Akten über die Nichtabhilfe entschieden werden müssen. Zwar hatte der Verteidiger bei der Einlegung der Haftbeschwerde eine Begründung angekündigt. Die Frage der Vorlage und Weiterleitung der Akten nach § 306 Abs. 2 StPO unterliegt jedoch nicht die Disposition des Verteidigers (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 306 Rn 11), so dass das Gericht, dessen Entscheidung angegriffen wird, die Akten nicht wegen einer angekündigten Beschwerdebegründung zurückhalten darf. Das gilt vorliegend erst recht, nachdem der Verteidiger dann noch unter dem 31. Januar 2002 um eine Fristverlängerung bis zum 12. Februar 2002 gebeten hat. Die Strafkammer durfte dann nicht mehr mit ihrer Nichtabhilfeentscheidung bis zum 19. Februar 2002, also fast zwei Monate (!) nach dem Eingang der Haftbeschwerde, warten. Dies verbot nicht nur schon der für (allgemeine) Beschwerdesachen nach § 306 Abs. 2 StPO geltende Beschleunigungsgrundsatz (Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O.), sondern erst recht der noch weitergehende für Haftsachen geltende Beschleunigungsgrundsatz. Nachdem dann die Strafkammer die Sache auch noch als "normale" und nicht nach Nr. 52 RiStBV als "Haftsache" behandelt hat, konnte die Sache dem Senat durch Vermittlung der Staatsanwaltschaft Bochum und der Generalstaatsanwaltschaft erst am 6. März 2002 vorgelegt werden. Dies ist im Hinblick auf § 306 Abs. 2 StPO, vor allem aber im Hinblick auf den Beschleunigungsgrundsatz, der auch gilt, wenn die Untersuchungshaft nur als Überhaft vollstreckt wird (Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 121 Rn. 2 m.w.N., nicht hinnehmbar (vgl. dazu schon Senat im o.a. Beschluss vom 25. 10. 1999).


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