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Rechtsprechung

Aktenzeichen: 3 Ss 320/02 OLG Hamm

Leitsatz: En Sachverständiger ist bereits dann ein geeignetes Beweismittel, wenn vorhandene Anknüpfungstatsachen ihm Schlussfolgerungen ermöglichen können, die für sich allein die unter Beweis gestellte Behauptung lediglich wahrscheinlicher machen.

Senat: 3

Gegenstand: Revision

Stichworte: Straßenverkehrsgefährdung, Sachverständiger, geeignetes Beweismittel

Normen: StPO 244

Beschluss: Strafsache
gegen H.G.
wegen Straßenverkehrsgefährdung

Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil der 11. kleinen Strafkammer des Landgerichts Essen vom 05. Oktober 2001 hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 12. 06. 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft und des Angeklagten bzw. seines Verteidigers gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:

Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Essen zurückverwiesen.

Gründe:
Das Amtsgericht hat den Angeklagten wegen „gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr in Tateinheit mit unerlaubten Entfernens vom Unfallort“ zu einer Freiheitsstrafe von 7 Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Ferner hat das Amtsgeicht dem Angeklagten die Fahrerlaubnis entzogen, seinen Führerschein eingezogen und die Verwaltungsbehörde angewiesen, ihm vor Ablauf von einem Jahr keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen. Auf die Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Essen das Urteil des Amtsgerichts aufgehoben und den Angeklagten wegen fahrlässiger Körperverletzung in Tateinheit mit unerlaubten Entfernens vom Unfallort zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 40,00 DM verurteilt und ihn ferner mit einem Fahrverbot von 2 Monaten belegt.

Nach den Urteilsfeststellungen der Berufungskammer befuhr der Angeklagte mit einem geliehenen Lkw am 17. März 2000 gegen 15.10 Uhr die Hans-Böckler-Straße in Essen in Fahrtrichtung Kreuzung Segerothstraße. Dabei fuhr er so nah am Straßenrand, dass der Zeuge S., der gerade im Begriff war, in sein am Fahrzeugrand geparktes Fahrzeug einzusteigen, sich flach an die linke Fahrzeugseite seines Pkw pressen musste, um nicht von dem Lkw mitgerissen zu werden. Der Zeuge S. und der Zeuge F. verfolgten daraufhin den Angeklagten und erreichten diesen, als er bei Rotlicht an der Lichtzeichenanlage der Kreuzung Hans-Böckler-Straße/Segerothstraße stand. Das folgende Geschehen hat die Strafkammer im einzelnen wie folgt festgestellt:

„An dieser Kreuzung gibt es einen gesonderten, durch eine Verkehrsinsel von der Geradeausfahrspur abgetrennten Rechtsabbiegestreifen, auf den der Zeuge S. sein Fahrzeug anhielt, den Pkw verließ und sich zum Lkw des Angeklagten begab. Der Zeuge F. blieb als Beifahrer zunächst im Pkw des Zeugen S. sitzen. Dieser begab sich zunächst zur Beifahrerseite des Lkw's des Angeklagten, wo sich der Zeuge R.G. als Beifahrer des Angeklagten befand. An der Beifahrertür machte sich der Zeuge S. zunächst durch lautes Rufen und Klopfen an die Beifahrertür bemerkbar und wollte den Angeklagten veranlassen, rechts heranzufahren und das Eintreffen der Polizei abzuwarten. Ohne auf eine weitere Reaktion zu warten, begab sich der Zeuge S., der immer noch sehr erregt war und sich sehr über das dichte Vorbeifahren seitens des Angeklagten geärgert hatte, um die Vorderfront des Lkw's herum zur Fahrertür. Hier geriet er in das Blickfeld der Zeugen M. und W., die sich mit ihrem Krankentransportfahrzeug als erstes Fahrzeug vor der Lichtzeichenanlage auf der linken der beiden Geradeausfahrspuren der Hans-Böckler-Straße befanden, jedoch nicht ganz bis zur Haltelinie vorgefahren waren, sondern eine Lücke zur Haltelinie gelassen hatten, so dass sie schräg versetzt links hinter dem Lkw des Angeklagten standen. Die Zeugen konnten nunmehr sehen, dass der Zeuge S. sich lauthals rufend an der Fahrertür des Lkw's des Angeklagten zu schaffen machte. Der Zeuge schlug gegen die Tür und öffnete sie sodann. Er verlangte von dem Angeklagten, dass dieser rechts heranfahre und warte, bis die Polizei komme. Die Polizei wollte der Zeuge S. noch rufen. Der Angeklagte brachte den Zeugen S. zwar mit dem Vorfall in Höhe des Gebäudes der WAZ in Verbindung, wollte sich jedoch der Situation nicht stellen und lehnte es ab, auf die Polizei zu warten. Er war sich auch unsicher, wie sich die Situation mit dem offensichtlich sehr aufgeregten Zeugen S. weiterentwickeln würde. In dieser Zeit war auch der Zeuge F. um den Lkw des Angeklagten herum zum Zeugen S. gegangen, um beruhigend auf ihn einzuwirken und ihn dazu zu bewegen, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Der Zeuge S. ließ sich jedoch nicht beruhigen, so dass der Zeuge F. sich wieder unverrichteter Dinge zum Pkw des Zeugen S. begab. Im Laufe der Auseinandersetzung gelang es dem Angeklagten, den Zeugen S. abzudrängen und wegzuschubsen und schließlich die Fahrertür wieder zu verschließen. Er forderte dabei den Zeugen S. auf, ihn endlich in Ruhe zu lassen und kündigte an, nunmehr weiterfahren zu wollen. Der Zeuge S. begab sich, immer noch wütend und aufgeregt, vorne um den Lkw des Angeklagten herum wieder in den Bereich der Beifahrerseite. Hier wandte er sich erneut schimpfend und gestikulierend auch in Richtung des Beifahrers, des Zeugen G., und versuchte nach wie vor den Angeklagten zum Stehenbleiben zu bewegen. Dies wurde jetzt von der Zeugin K. beobachtet, die als Fußgängerin die Hans-Böckler-Straße überqueren wollte und sich deshalb in der Fußgängerfurt unmittelbar rechts neben dem Lkw des Angeklagten aufhielt. Obwohl für sie als Fußgängerin die Ampel grün zeigte, blieb sie fasziniert stehen, um sich die Auseinandersetzung des Zeugen S. mit den Insassen des Lkw anzusehen. Als die Lichtzeichenanlage für den Angeklagten immer noch Rotlicht zeigte und sich der Zeuge S. immer noch in der Fahrbahn des Lkw befand, nämlich im Bereich des rechten Fahrtrichtungsanzeigers, der in den äußersten Ecken des Fahrzeugs montiert ist, fuhr der Angeklagte in der Meinung, der Zeuge S. befinde sich bereits wieder auf dem Grünstreifen der Verkehrsinsel, seinen Lkw stark beschleunigen, an, weil er der für ihn unangenehmen Situation entrinnen wollte. Dabei erfasste er den Zeugen S., der mit seiner rechten Hand an den rechten Außenspiegel des Lkw geriet, sich daran festhielt, so dass der Seitenspiegel einklappte, hierdurch in einer drehenden Bewegung zunächst gegen die Beifahrertür geschleudert und schließlich vom Lkw weg in die Begrünung der Verkehrsinsel geschleudert wurde, wo er zunächst liegen blieb. Der Angeklagte und der Zeuge G. hatten das Einklappen des Spiegels und den Aufprall des Zeugen S. mitbekommen. Der Angeklagte fuhr gleichwohl weiter. Nach zirka 50 Metern drückte der Zeuge G. während der Fahrt den Spiegel wieder nach außen und erkundigte sich noch bei dem Angeklagten, was denn mit dem Zeugen S. los sei. Daraufhin wurde er seitens des Angeklagten gefragt, ob er denn die Situation in Höhe des Gebäudes der WAZ nicht mitbekommen habe. Der Angeklagte setzte daraufhin seine Fahrt fort.“

Der Angeklagte hat die Tat bestritten und sich zum Tatgeschehen im wesentlichen dahingehend eingelassen, er habe den Zeugen S. darauf hingewiesen, dass er jetzt losfahre und ihn deshalb gebeten, wieder rechtsrüber zu gehen. Das habe der Zeuge S. dann auch anstandslos getan. Er habe den Zeugen S. auf dem Seitenstreifen stehen sehen. Die Ampel sei dann auf Grün umgesprungen. Er sei dann extra langsam losgefahren, weil er sich darüber bewusst gewesen sei, dass der Zeuge S. nicht weit weg vom Lkw gestanden habe. Er habe dann schließlich ein „Klack“ gehört und festgestellt, dass der rechte Außenspiegel eingeklappt worden sei. Er habe sich jedoch nichts weiter dabei gedacht und sei weitergefahren.

Die Strafkammer hat die Einlassung des Angeklagten durch die Bekundungen der Zeugen S., M., W. und K. als widerlegt erachtet. Auf die insoweit in dem angefochtenen Urteil niedergelegte Beweiswürdigung wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.

Die Strafkammer hat das Verhalten des Angeklagten als fahrlässige Körperverletzung in Tateinheit mit unerlaubten Entfernen vom Unfallort gewertet.

Hiergegen richtet sich die Revision des Angeklagten. Sie erhebt die allgemeine Sachrüge sowie mit näheren Ausführungen die Rüge der Verletzung von Verfahrensrecht.

Das Rechtsmittel hat bereits mit der ordnungsgemäß erhobenen Rüge der Verletzung formellen Rechts Erfolg. Die Strafkammer hat - wie die Revision zutreffend ausführt - die von dem Angeklagten beantragte Einholung eines Sachverständigengutachtens und zum Beweis dafür, dass der Verkehrsraum vor dem und seitlich vom Lkw beim Losfahren zur Tatzeit geräumt gewesen ist, als ungeeignet abgelehnt mit der Begründung, es fehlten entsprechende sichere Anknüpfungstatsachen. Diese Begründung kann die Ablehnung des Beweisantrages nicht tragen.

Zwar kann ein Sachverständiger ein im Sinne von § 244 Abs. 3 StPO völlig ungeeignetes Beweismittel sein, wenn es nach den Umständen des Einzelfalles nicht möglich ist, ihm tatsächliche Anknüpfungspunkte zu verschaffen, die er für die Erstattung seines Gutachtens benötigt (Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., Rdnr. 59 a). Völlig ungeeignet ist ein Beweismittel aber lediglich dann, wenn auszuschließen ist, dass sich der Gutachter zur vorgelegten Beweisfrage sachlich überhaupt äußern kann (vgl. BGH St 14, 339, 341). Die Möglichkeit einer sachdienlichen Äußerung des Gutachters ist jedoch schon für den Fall gegeben, dass eine Stellungnahme (zunächst nur) für die Feststellung von Anknüpfungstatsachen bedeutsam werden kann, zumal wenn diese auch indizielle Bedeutung für die aufgestellten Beweisbehauptungen haben (vgl. BGH NStZ 1985, 562). Deshalb ist ein Sachverständiger bereits ein geeignetes Beweismittel, wenn vorhandene Anknüpfungstatsachen ihm Schlussfolgerungen ermöglichen können, die für sich allein die unter Beweis gestellte Behauptung lediglich wahrscheinlicher machen (vgl. BGH NStZ 1985, 562).

Im vorliegenden Fall ist es keineswegs ausgeschlossen, dass ein Sachverständiger unter Berücksichtigung der beim Zeugen S. festgestellten Verletzungen sich sachverständig dazu äußern kann, ob und wie der Zeuge S. von dem Fahrzeug erfasst worden ist und wo gegebenenfalls dabei sein Standort war. Der Beweisantrag zielte insoweit darauf ab nachzuweisen, dass der Zeuge S. nicht im Sinne eines Unfallgeschehens von dem Lkw des Angeklagten angefahren worden ist, sondern dass der Zeuge auf der Verkehrsinsel stehend beim Anfahren des Lkw von sich aus an den Außenspiegel gegriffen hat. Zu der aufgeworfenen Frage kann sich ein technischer Sachverständiger durchaus äußern, zumal die Kammer genügend Anknüpfungstatsachen gefunden hat, um Feststellungen zum Tatgeschehen treffen zu können. Auf dem angezeigten Verfahrensverstoss beruht das Urteil, denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Sachverständige, wäre er von der Strafkammer gehört worden, zu dem von der Verteidigung erstrebten Beweisergebnis gekommen wäre.

Da bereits die erörterte Verfahrensrüge durchgreift und zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führt, braucht der Senat auf die weiter erhobenen Verfahrensrügen sowie auf die Sachrüge nicht näher einzugehen.

Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass bei einem anderen Beweisergebnis die Glaubwürdigkeit von Zeugen oder die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen in Zweifel gezogen werden kann, hat der Senat das Urteil im vollen Umfang aufgehoben, damit in der neuen Hauptverhandlung das Tatgeschehen einschließlich der Umstände des unerlaubten Entfernens vom Unfallort umfassend geprüft werden kann.

Das angefochtene Urteil war daher mit den Feststellungen aufzuheben und die Sache an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Essen zurückzuverwei-
sen, welche auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden hat.


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