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Rechtsprechung

Aktenzeichen: 2 BL 90/2002 OLG Hamm

Leitsatz: Hat bereits einmal eine Hauptverhandlung stattgefunden und ist diese ausgesetzt worden kommt die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft nur in Betracht, wenn die Aussetzung der Hauptverhandlung aus sachlichen Gründen zwingend geboten bzw. unumgänglich war. Das ist nur dann der Fall, wenn die Aussetzung nicht durch Fehler und/oder Versäumnisse im bisherigen Verfahren verursacht worden ist.] nur dann zwingend geboten bzw. unumgänglich sein, wenn die Aussetzung nicht durch Fehler und/oder Versäumnisse im Ermittlungsverfahren verursacht worden ist.

Senat: 2

Gegenstand: Haftprüfung durch das OLG

Stichworte: Haftprüfung, BL 6, wichtiger Grund, Aussetzung der Hauptverhandlung, Einholung eines Sachverständigengutachtens

Normen: StPO 121

Beschluss: Strafsache
gegen R.K.
wegen Raubes (hier: Haftprüfung durch das Oberlandesgericht).

Auf die Vorlage der (Doppel-)Akten zur Haftprüfung gemäß den §§ 121, 122 StPO hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 09. 09. 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft, des Angeklagten und seines Verteidigers beschlossen:

Der Haftbefehl des Amtsgerichts Witten vom 03. März 2002 (18 Gs 126/02) wird aufgehoben.

Gründe:
I.
Der Angeklagte befindet sich nach seiner vorläufigen Festnahme am 02. März 2002 seit dem 03. März 2002 in Untersuchungshaft. Grundlage des Vollzugs der Untersuchungshaft ist der Haftbefehl des Amtsgerichts Witten vom 03. März 2002 (18 Gs 126/2002). Dem Angeklagten wird in dem Haftbefehl des Amtsgerichts Witten vom 03. März 2002 ein am 02. März 2002 begangener Raub in einer Spielhalle zur Last gelegt. Diese Tat ist auch Gegenstand der Anklage der Staatsanwaltschaft Bochum vom 6. Mai 2002. In dieser wird dem Angeklagten zusätzlich ein weiterer am 2. März 2002 begangener versuchter Raub zum Nachteil des Inhabers eines Reformhauses vorgeworfen. Wegen der Einzelheiten, insbesondere wegen der den Angeklagten im Einzelnen zur Last gelegten Tatgeschehen, wird auf den Inhalt des genannten Haftbefehls vom 03. März 2002 und auf die Anklage der Staatsanwaltschaft Bochum vom 06. Mai 2002 Bezug genommen.

Die Strafkammer hat den Haftbefehl - trotz eines Antrags der Staatsanwaltschaft Bochum - nicht an den Inhalt der Anklage vom 6. Mai 2002 angepasst. Damit ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. Senat in StV 1995, 200), auf die der Senat schon wiederholt hingewiesen hat, für das Haftprüfungsverfahren nur vom Vorwurf des Haftbefehls auszugehen.

Das Landgericht hat die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich angesehen und die Akten durch Vermittlung der Staatsanwaltschaft Bochum und der Generalstaatsanwaltschaft dem Senat zur Entscheidung über die Haftfortdauer gemäß den §§ 121, 122 StPO vorgelegt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat Fortdauer der Untersuchungshaft beantragt.

II.
Der Haftbefehl des Amtsgerichts Witten vom 03. März 2002 war aufzuheben. Die nach § 121 Abs. 1 StPO für die Anordnung der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus erforderlichen Voraussetzungen sind nicht gegeben.

1. Gegen den geständigen Angeklagten besteht zwar "dringender Tatverdacht" im Sinn von § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO hinsichtlich der ihm zur Last gelegten Taten. In Anbetracht der Vorverurteilungen des Angeklagten dürfte auch Fluchtgefahr im Sinn des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO anzunehmen sein, da der Angeklagte mit einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu rechnen hat und der dadurch bestehende Fluchtanreiz - soweit ersichtlich - nicht durch andere Umstände gemildert wird (vgl. dazu Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., 2001, § 112 Rn. 17; Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 2. Aufl., 1999, Rn. 813).

2. Dies kann indes letztlich dahinstehen Denn jedenfalls war der Haftbefehl deshalb aufzuheben, weil das Verfahren nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung gefördert worden ist.

Nach § 121 Abs. 1 StPO kommt - solange kein auf Freiheitsentziehung lautendes Urteil vorliegt - die Fortdauer von Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus nur dann in Betracht, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang oder ein anderer wichtiger Grund ein Urteil noch nicht zugelassen haben. Das Bundesverfassungsgericht betont in ständiger Rechtsprechung, der sich der Senat angeschlossen hat, dass den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv der sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ergebende Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Angeklagten entgegenzuhalten ist und das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse sich mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert (vgl. u.a. BVerfGE 36, 264 = NJW 1974, 307; 53, 152, 158 f. mit weiteren Nachweisen). Dem trägt die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO dadurch Rechnung, dass der Vollzug der Untersuchungshaft vor Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen. Die Bestimmung des § 121 Abs. 1 StPO lässt also nur in begrenztem Umfang die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus zu. Bei der insoweit erforderlichen Prüfung des Verfahrens(fort)gangs sind die Ausnahmetatbestände des § 121 Abs. 1 StPO grundsätzlich auch eng auszulegen (vgl. u.a. BVerfGE 36, 264, 271 mit weiteren Nachweisen; siehe auch BVerfG NJW 1980; 1448; 1992, 1749 f. = StV 1991, 565; vgl. die weiteren Rechtsprechungsnachweise bei Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 121 StPO Rn. 18 ff.; zu allem auch Burhoff StraFo 2000, 109, 114, 116). Die Fortdauer der Untersuchungshaft kommt danach u.a., dann nicht in Betracht, wenn ihre Dauer dadurch verursacht worden ist und wird, dass die Strafverfolgungsbehörden und oder Gerichte nicht alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfahrens ergriffen haben.

Vorliegend wird der nach den Akten festzustellende Verfahrensgang diesen von Verfassungs wegen zu stellenden Anforderungen an die beschleunigte Abwicklung des Verfahrens gegen einen inhaftierten Angeklagten nicht gerecht.

Der Angeklagte, der bereits 14-mal verurteilt ist - darunter zumindest zweimal wegen Verstoßes gegen das BtM-Gesetz -, wurde am 2. März 2002 unmittelbar nach Begehung des Spielhallenraubes festgenommen. Seine Vorführung erfolgte am 3. März 2002. Der Angeklagte erklärte, dass er den Raub begangen habe, "weil ich Entzugserscheinungen hatte und weil ich Geld für Drogen brauchte." Er war aufgrund von Entzugserscheinungen nicht in der Lage, seine Zelle zu verlassen oder auch nur aufzustehen, so dass die Vorführung in der Zelle stattfinden musste. Unmittelbar im Anschluss an die Vorführung sind von der Polizei dann noch Zeugenvernehmungen durchgeführt worden. Nachdem dem Verteidiger des Angeklagten noch im März 2002 Akteneinsicht gewährt worden ist, wurde unter dem 6. Mai 2002 von der Staatsanwaltschaft die Anklage erhoben, die am 23. Mai 2002 beim Landgericht eingegangen ist. Der Vorsitzenden der Strafkammer verfügte deren Zustellung am 27. Mai 2002. Die Anklage wurde dem Angeklagten bzw. seinem Verteidiger am 3. bzw. 4. Juni 2002 zugestellt. Am 9. August 2002 hat die Strafkammer die Anklage zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Hauptverhandlungstermin wurde auf den 28. August 2002 bestimmt. Die Terminsverfügung enthält den Vermerk, dass, da von verminderter Schuldfähigkeit ausgegangen werden muss, der Verteidiger auf die persönliche Anhörung des Sachverständigen verzichte. Bei dem damit gemeinten Sachverständigen handelt es sich um den Sachverständigen Prof. Dr. H., der auf Veranlassung der Polizei eine dem Angeklagten entnommene Blutprobe untersucht hatte. In der Hauptverhandlung kündigte der Verteidiger sodann aufgrund der Anhörung des Angeklagten, bei der dieser einen andauernden Drogenkonsum geschildert hatte, Anträge im Hinblick auf die Notwendigkeit der Untersuchung des Angeklagten an. Die Strafkammer hat daraufhin die Hauptverhandlung ausgesetzt und inzwischen die Sachverständigen T. und S. mit der Erstattung eines Gutachtens zur Frage der Unterbringung des Angeklagten gemäß § 64 StGB beauftragt. Nach einer der Generalstaatsanwaltschaft erteilten telefonischen Auskunft ist mit der Erstattung des Gutachtens im September 2002 zu rechen. Neuer Hauptverhandlungstermin soll dann Ende September 2002 stattfinden.

Dieser Verfahrensablauf genügt nicht den o.a. Anforderungen, die im Hinblick auf das Beschleunigungsgebot an die Durchführung von Verfahren gegen inhaftierte Angeklagte zu stellen sind. Entgegen der Auffassung des Verteidigers ist allerdings der Zeitpunkt der Anklageerhebung (noch) nicht zu beanstanden. Dahinstehen kann, ob der Verfahren nach Eingang der Akten bei der Strafkammer am 23. Mai 2002 ausreichend gefördert worden oder ob schon die Hauptverhandlung am 28. August 2002 zu spät terminiert worden ist. Der Senat übersieht insoweit nicht, dass die Strafkammer in den Monaten Juni und Juli im Umfangsverfahren L. und in weiteren Haftsachen verhandelt hat. Damit ist aber allenfalls die spätere Terminierung gerechtfertigt. Die Verhandlung in diesen Verfahren rechtfertigt jedoch nicht die Aussetzung der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten am 28. August 2002. Hat nämlich bereits einmal eine Hauptverhandlung stattgefunden und ist diese ausgesetzt worden bzw. musste diese ausgesetzt werden, ist der „andere wichtige Grund„ im Sinn des § 121 Abs. 1 StPO besonders sorgfältig zu prüfen. Der Beschleunigungsgrundsatz erfordert es nämlich auch, dass eine einmal begonnene Hauptverhandlung zügig zum Abschluss gebracht wird (vgl. zuletzt OLG Karlsruhe StV 2000, 91 mit weiteren Nachweisen.). In diesen Fällen dauert die Untersuchungshaft nämlich meist bereits in der Regel mehr als sechs Monate an. Deshalb kommt die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft in diesen Fällen nach allgemeiner Meinung nur in Betracht, wenn die Aussetzung der Hauptverhandlung aus sachlichen Gründen zwingend geboten bzw. unumgänglich war (OLG Karlsruhe, a.a.O., vgl. dazu z.B. auch OLG Düsseldorf StraFo 2001, 255 betreffend eine grundlose Vertagung, weil kein Grund für die Annahme vorlag, dass die Schöffen aus Sicht des Angeklagten befangen sein könnten; OLG Zweibrücken StraFo 2000, 322 betreffend die grundlose Aussetzung wegen Beweisanträgen; OLG Celle Nds.Rpfl. 2000, 367 betreffend die grundlose Aussetzung wegen Einholung eines Sachverständigengutachtens; zu allem auch Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 121 Rn. 25 mit weiteren Nachweisen). Die Aussetzung der Hauptverhandlung kann nach Auffassung des Senats aber nur dann zwingend geboten bzw. unumgänglich sein, wenn die Aussetzung nicht durch Fehler und/oder Versäumnisse im Ermittlungsverfahren verursacht worden ist.

Das ist vorliegend aber der Fall, da die Einholung des erst nach der Hauptverhandlung vom 28. August 2002 in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachtens sich von vornherein aufgedrängt hat. Der Angeklagte ist immerhin bereits zweimal wegen Verstoßes gegen das BtM-Gesetz verurteilt. Die übrigen Vorverurteilungen - im Wesentlichen Eigentumsdelikte - sprechen für Beschaffungskriminalität, was sich allerdings aufgrund der dem Senat nur vorliegenden Zweitakten nicht abschließend beurteilen lässt. Der Angeklagte litt kurz nach der Tat unter so erheblichen Entzugserscheinungen, dass er nicht in der Lage war, seine Zelle zu verlassen oder auch nur aufzustehen. Seine Anhörung musste deshalb in der Zelle stattfinden. Dabei hat der Angeklagte eingeräumt, dass er die Tat begangen hat, "weil er Entzugserscheinungen hatte und weil ich Geld für Drogen brauchte". Dahinstehen kann, ob angesichts dieser Umstände nicht schon die Staatsanwaltschaft ein Sachverständigengutachten hätte in Auftrag geben müssen. Da dessen Ergebnis nicht unbedingt für die Erhebung der Anklage erforderlich gewesen wäre, hätte der Eingang des Gutachtens nicht abgewartet, sondern vorab schon Anklage erhoben werden können. Eine Verfahrensverzögerung wäre somit nicht eingetreten. Jedenfalls hätte aber die Strafkammer bei Eingang der Akten beim Landgericht nunmehr unverzüglich ein Sachverständigengutachten in Auftrag geben müssen. Die Frage der Schuldfähigkeit bzw. verminderten Schuldfähigkeit des Angeklagten lag auf Grund der Umstände auf der Hand. Nach Auffassung des Senats war aufgrund der Vorverurteilungen und des Maßes der aktenkundigen Entzugserscheinungen nach der Tat die Frage des § 64 StGB auf jeden Fall zu diskutieren. Dazu bedurfte die Strafkammer sachverständiger Hilfe. In diesem Zusammenhang ist unerheblich, dass der Verteidiger nach dem bei der Terminsverfügung aufgebrachten Vermerk vom 9. August 2002 auf eine persönliche Anhörung des Sachverständigen verzichtet haben soll; der Verteidiger ist dieser Darstellung in seiner Stellungnahme vom 5. September 2002 entgegen getreten. Denn der in dieser Verfügung gemeinte Sachverständige Prof. Dr. H. hatte sich nicht zu den Fragen der §§ 20, 21, 64 StGB, sondern nur zum Nachweis von Suchtmitteln in der Blutprobe des Angeklagten geäußert. Er hatte in seinem Gutachten vom 22. April 2002 gerade darauf hingewiesen, dass ein Gutachten zur Schuldfähigkeit "nach Kenntnis weiterer Ermittlungsergebnisse und Tatbestände erstattet werden" könne.

Unter diesen Umständen kann nach allem ein wichtiger Grund für die Haftfortdauer im Sinn des § 121 Abs. 1 StPO nicht (mehr) bejaht werden. Das gilt auch im Hinblick darauf, dass nach telefonischer Auskunft der Strafkammer ein neuer Hauptverhandlungstermin für Ende September 2002 in Aussicht genommen worden ist. Dabei kann dahinstehen, ob die eingetretenen Zeitversäumnisse nun überhaupt noch durch einen besonders beschleunigten Verfahrensabschluss kompensiert werden können (zur Kompensation und zum Streit- und Meinungsstand eingehend Burhoff StraFo 2000, 109, 118; siehe auch Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 121 Rn. 26), wobei der Senat allerdings dazu neigt, diese Frage zu verneinen. Jedenfalls liegt derzeit das Sachverständigengutachten noch nicht vor und es ist zudem nicht absehbar, ob die Strafkammer angesichts der übrigen Belastung, auf die sie in der Vorlageverfügung ausdrücklich hingewiesen hat, überhaupt Ende September 2002 die Hauptverhandlung durchführen kann. Damit erfordert angesichts der bislang schon verstrichenen Zeit der Freiheitsanspruch (Art 2 Abs. 2 GG) des noch nicht verurteilten Angeklagten die Aufhebung des Haftbefehls.


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