Aktenzeichen: 2 Ws 421/02 OLG Hamm
Leitsatz: Zur Außervollzugsetzung eines Haftbefehls bei einem Heranwachsenden, der sich selbst den Ermittlungsbehörden gestellt hat.
Senat: 2
Gegenstand: Beschwerde
Stichworte: Haftbefehl, Außervollzugsetzung, neue Umstände, Fluchtgefahr, Kaution, Familienverband
Normen: StPO 116, StPO 112
Beschluss: Strafsache
gegen H.L.
wegen Raubes
(hier: (Haft-)Beschwerde des Beschuldigten).
Auf die (Haft-)Beschwerde des Beschuldigten vom 24. Oktober 2002 gegen den Beschluss der 1. Jugendkammer des Landgerichts Hagen vom 22. Oktober 2002 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 11. 11. 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht und die Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:
Der Vollzug des Haftbefehls des Amtsgerichts Lüdenscheid vom 1. Oktober 2002 - 6 Gs 643/02 - wird unter folgenden Auflagen außer Vollzug gesetzt:
Der Beschuldigte hat in bar eine Sicherheitsleistung in Höhe von 20.000 EURO zu erbringen.
Der Beschuldigte hat Wohnung zu nehmen unter der Anschrift .
Er hat seinen Reisepass bei der Staatsanwaltschaft Hagen zu hinterlegen.
Er hat sämtlichen gerichtlichen Aufforderungen und Ladungen Folge zu leisten.
Er hat sich zweimal in der Woche bei der für seinen Wohnsitz zuständigen Polizeidienststelle zu melden.
Im Übrigen wird die Beschwerde verworfen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Beschuldigte zu tragen. Jedoch wird die Gebühr um die Hälfte ermäßigt; in diesem Umfang hat die Landeskasse die dem Beschuldigten entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe:
I.
Dem noch heranwachsenden - Beschuldigten, der türkischer Staatsangehöriger ist, wird vorgeworfen, am 15. September 2002 zusammen mit drei Mittätern die Filiale von Burger King in Lüdenscheid überfallen und dabei 12.000 EURO erbeutet zu haben. Dabei sollen die dort anwesenden Angestellten sowohl mit Schusswaffen als auch mit Messern bedroht worden sein.
Der Beschuldigte erfuhr Ende September 2002, dass die Mitbeschuldigten verhaftet worden waren und sich u.a. dahin eingelassen hatten, dass der Beschuldigte an der Tat beteiligt gewesen sein sollte. Über seinen Verteidiger meldete der Beschuldigte sich sowohl am 27. als auch am 30. September 2002 bei der örtlichen Polizei, um dort einen Vernehmungstermin abzustimmen. Dieser kam jedoch nicht zustande. Am Abend des 1. Oktober 2002 suchte ein Polizeibeamter die Wohnung des Beschuldigten auf, um diesen aufgrund des zwischenzeitlich am 1. Oktober 2002 vom Amtsgericht Lüdenscheid erlassenen Haftbefehls festzunehmen. Da der Beschuldigte zu dieser Zeit arbeitete, wurde er über seine Eltern gebeten, am nächsten Tag auf der Polizeiwache zu erscheinen.
Der Beschuldigte erschien dann am 2. Oktober 2002 in Begleitung seines Verteidigers auf der örtlichen Polizeiwache. Dort wurde er vorläufig festgenommen und anschließend dem Amtsgericht Lüdenscheid zur Verkündung des Haftbefehls vom 1. Oktober 2002 vorgeführt. In diesem Termin setzte das Amtsgericht den auf Fluchtgefahr im Sinne von § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützten Haftbefehl gegen Meldeauflagen und die Leistung einer Kaution von 5.000 EURO außer Vollzug. Nachdem die Kaution erbracht worden war, wurde der Beschuldigte am 3. Oktober 2002 aus der Untersuchungshaft entlassen.
Die Staatsanwaltschaft hat gegen die Entscheidung des Amtsgerichts Beschwerde eingelegt. Diese hat sie vornehmlich im Hinblick auf § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO begründet und u.a. ausgeführt, die Fluchtgefahr sei nunmehr vor allem deshalb größer, weil der Verteidiger des Beschuldigten zwischenzeitlich Akteneinsicht gehabt habe und der Beschuldigte daher nun erfahren werde, inwieweit er von seinen Mittätern belastet werde. Das Amtsgericht Lüdenscheid hat daraufhin im Nichtabhilfeverfahren mit Beschluss vom 9. Oktober 2002 den Haftbefehl vom 1. Oktober 2002 wieder in Vollzug gesetzt. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, dass der Beschuldigte mit einer hohen Freiheitsstrafe rechnen müsse. Dadurch bestehe ein Fluchtanreiz, dem andere Umstände nicht entgegenstünden. Der Fluchtanreiz werde sich vielmehr nach Bekannt werden des Ermittlungsergebnisses noch verstärken. Das Amtsgericht hat zudem auch Verdunkelungsgefahr bejaht. Diese Annahme hat es damit begründet, dass Tatmittel und Tatbeute noch nicht aufgefunden seien und es wahrscheinlich sei, dass der Beschuldigte diese beiseite schaffen werde, wenn er auf freien Fuß komme. Es bestehe zudem die Gefahr, dass der Beschuldigte auf die anderweitig Verfolgten einwirke und dadurch die Ermittlungen erschwere.
Der Beschuldigte ist festgenommen worden und befindet sich seitdem in Untersuchungshaft. Er hat gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 9. Oktober 2002 Beschwerde eingelegt, die das Landgericht verworfen hat. Er wendet sich nunmehr gegen diese Entscheidung. Das Landgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Haftbeschwerde des Beschuldigten zu verwerfen.
II.
Die (Haft-)Beschwerde ist gemäß § 304 StPO zulässig und hat auch in der Sache teilweise Erfolg. Der Haftbefehl war nämlich gemäß § 116 StPO gegen Auflagen außer Vollzug zu setzen.
1. Der Senat weist vorab auf Folgendes hin: Zutreffend ist die Annahme des Landgerichts in der Nichtabhilfeentscheidung, dass vorliegend über die Frage der Haft(fortdauer) nicht allein anhand der Kriterien des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO zu entscheiden ist. Das Amtsgericht hat auf diese zwar bei seiner Entscheidung vom 9. Oktober 2002 maßgeblich abgestellt, dabei aber offenbar übersehen, dass es vorliegend nicht im Verfahren nach § 116 Abs. 4 StPO um die Wiedereinvollzug-Setzung eines außer Vollzug gesetzten Haftbefehls geht. Vielmehr streiten Ermittlungsbehörden und Beschuldigter immer noch um Umfang und Ausmaß der ursprünglichen Anordnung der Untersuchungshaft. In diesem Rahmen hat das Amtsgericht zunächst eine Außervollzugsetzungsentscheidung getroffen, deren Bestand dann von der Staatsanwaltschaft im Beschwerdeverfahren angegriffen worden ist. Um den Bestand der daraufhin vom Amtsgericht im Nichtabhilfeverfahren getroffenen Entscheidung geht es vorliegend noch immer. Würden bereits in diesem Verfahrensstadium die Kriterien des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO zugrunde gelegt werden müssen, würde das zu einer nach Auffassung des Senats im Haftbefehlsverfahren vom Gesetz nicht vorgesehenen Einschränkung des Beurteilungsspielraums führen. Damit kommt es entgegen der Auffassung des Verteidigers nicht darauf an, ob im Sinne des § 116 Abs. 3 Nr. 4 StPO neue Umstände vorgelegen haben, die es am 9. Oktober 2002 rechtfertigten, den erst am 2. Oktober 2002 bei der Verkündung außer Vollzug gesetzten Haftbefehl wieder in Vollzug zu setzen.
2. Mit dem Amtsgericht und dem Landgericht ist dringender Tatverdacht im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO zu bejahen. Nach übereinstimmender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur besteht dringender Tatverdacht, wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass ein Beschuldigter Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., 2001, § 112 Rn. 5 mit weiteren Nachweisen), wobei es ausreicht, wenn aufgrund des sich aus den Akten ergebenden Ermittlungsergebnisses die Möglichkeit der Verurteilung besteht. Von dieser Möglichkeit ist vorliegend auszugehen. Der Beschuldigte wird durch die Angaben der Mitbeschuldigten belastet. Diese haben angegeben, dass der Beschuldigte an der Tat beteiligt war. Ein Grund dafür, dass sie ihn wider besseres Wissen belasten könnten, ist nicht ersichtlich.
3. a) Entgegen der Auffassung des Beschuldigten und seines Verteidigers ist auch (noch) von Fluchtgefahr im Sinne von § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO auszugehen. Es ist ihnen zwar darin beizupflichten, dass allein eine hohe Straferwartung die Fluchtgefahr nicht begründen kann (vgl. dazu aus der ständigen Rechtsprechung Senat in StV 1999, 37, 215; siehe auch die weiteren Nachweise bei Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 3. Aufl., 2002, Rn. 1701). Vielmehr ist die Straferwartung in der Regel nur Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass er die Annahme rechtfertigt, der Beschuldigte werde ihm nachgeben und wahrscheinlich flüchten. Entscheidend ist, ob bestimmte Tatsachen vorliegen, die den Schluss rechtfertigen, der Beschuldigte werde dem in der
- hohen - Straferwartung liegende Fluchtanreiz nachgeben und fliehen (so auch OLG Köln StV 1995, 419, Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 112 Rn. 24 mit weiteren Nachweisen).
Danach ist vorliegend eine Fluchtgefahr im Sinn von § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO zu bejahen. Der Beschuldigte hat im Verurteilungsfall wegen des ihm zur Last gelegten Raubüberfalls mit einer empfindlichen Jugend- bzw. Freiheitsstrafe zu rechnen, die nach Überzeugung des Senats angesichts der Tatumstände auf jeden Fall an die Grenze heranreichen wird, ab der nach der Rechtsprechung des Senats eine hohe Straferwartung anzunehmen ist (vgl. dazu OLG Hamm, a.a.O.; siehe auch noch OLG Köln StV 1993, 371; 1995, 419; LG Zweibrücken StV 1997, 534).
Der in dieser Straferwartung liegende Fluchtanreiz wird vorliegend entgegen der Auffassung des Verteidigers durch andere Umstände nicht derart gemildert, dass die Annahme, der Beschuldigte werde diesem Anreiz nachgehen, nicht mehr gerechtfertigt wäre. Dabei übersieht der Senat nicht, dass der Beschuldigte mit einem Teil seiner Familie seit längerem in der Bundesrepublik Deutschland lebt und er zum Zeitpunkt der Inhaftierung über eine Arbeitsstelle verfügte. Auch der Umstand, dass der Beschuldigte sich Anfang Oktober 2002 selbst den Ermittlungsbehörden gestellt hat, hat in diesem Zusammenhang erhebliches Gewicht. Andererseits darf jedoch auch nicht übersehen werden, dass der Beschuldigte türkischer Staatsangehöriger ist und ein Teil seiner Familie noch im Ausland lebt. Er hätte also die Möglichkeit sich dorthin abzusetzen und zu leben. Für ihn als türkischen Staatsangehörigen besteht auch nicht die Gefahr, dass er an die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert wird.
b) Der vom Amtsgericht in seiner Entscheidung vom 9. Oktober 2002 angenommene Haftgrund der Verdunkelungsgefahr, zu dem das Landgericht in der Beschwerde-Entscheidung nicht Stellung genommen hat, liegt allerdings nicht vor. Auch der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr (zu den allgemeinen Voraussetzungen siehe Senat in StV 2002, 205; OLG Karlsruhe StraFo 2002, 15) setzt bestimmte Tatsachen voraus, die die Annahme rechtfertigen, dass der Beschuldigte auf Beweismittel einwirken wird und dadurch die Ermittlung der Wahrheit erschweren wird. Tatsachen für eine solche Annahme sind aber derzeit nicht erkennbar. Die vom Amtsgericht für die Annahme von Verdunkelungsgefahr aufgeführten Umstände sind keine Tatsachen, sondern allgemeine und pauschale, nicht fallbezogene bloße Behauptungen, mit denen in jedem Verfahren, in dem Beweismittel und Tatbeute nicht aufgefunden werden konnten, die Verdunklungsgefahr begründet werden könnte. Für die Annahme von Verdunkelungsgefahr genügt es nicht, dass der Beschuldigte z.B. nur seine Tatbeteiligung bestreitet oder er sich weigert, unbekannte Personen, die ggf. bei der ihm zur Last gelegten Tat beteiligt waren, zu benennen (OLG Köln StV 1999, 37). Der Beschuldigte muss vielmehr aktiv auf die Beweismittel einwirken (OLG Karlsruhe, a.a.O.) bzw. muss für diese Gefahr eine große Wahrscheinlichkeit bestehen. Dies lässt sich nach Überzeugung des Senats aber nicht damit so aber offenbar das Amtsgericht - begründen, der Beschuldigte habe über die seinem Verteidiger inzwischen gewährte Akteneinsicht Kenntnis vom Ermittlungsstand erlangt und es seien nun Erschwerungen der Ermittlungen zu erwarten. Für die Begründetheit dieser Behauptung lässt sich den Akten nichts entnehmen.
4. Der beim Beschuldigten bestehende Fluchtanreiz ist nach Auffassung des Senats jedoch nicht so groß, dass ihm nur durch den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft und nicht durch andere Mittel im Sinne des § 116 StPO begegnet werden könnte. Von ausschlaggebender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der bereits erwähnte Umstand, dass der Beschuldigte sich im September 2002, nachdem er Kenntnis von dem gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren hatte, dem Verfahren nicht durch Flucht entzogen hat, sondern selbst Kontakt zu den Ermittlungs-Behörden aufgenommen hat, um zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen (vgl. ähnlich Senat in StraFo 2002, 177 = StV 2002, 491 bzw. StV 2001, 685 = StraFo 2002, 23). Auch hat der Beschuldigte sich am 2. Oktober 2002 selbst gestellt. Dieses Argument lässt zwar den bestehenden Fluchtanreiz nicht vollständig entfallen, dem Verhalten des Beschuldigten ist jedoch zu entnehmen, dass er sich letztlich offenbar dem Verfahren stellen will. Deshalb ist im Rahmen des § 116 StPO die vom Beschuldigten nach wie vor angebotene Kaution ein geeignetes Mittel, diesen auch weiterhin davon abzuhalten, dem - nach wie vor - bestehenden Fluchtanreiz nachzugeben. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass die Kaution für ihn als Heranwachsenden aus dem Familienverband aufgebracht worden ist bzw. nach Erhöhung ggf. aufgebracht werden wird (vgl. dazu Senat in StV 1997, 643 und in StraFo 2002, 338). Der Senat hat allerdings als Voraussetzung für die Entlassung des Beschuldigten neben den üblichen sonstigen (Melde-)Auflagen die vom Amtsgericht vorgesehene Kaution von 5.000 EURO auf 20.000 EURO erhöht. Eine Kaution in Höhe von nur 5.000 EURO erschien dem Senat nicht ausreichend.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 473 Abs. 1, 4 StPO. Sie berücksichtigt, dass die Haftbeschwerde des Beschuldigten nur teilweise Erfolg hatte.
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