Aktenzeichen: 2 BL 3/03 OLG Hamm
Leitsatz: Allein die verspätete Vorlage der Akten an das Oberlandesgericht zur Haftprüfung führt nicht zur Aufhebung des Haftbefehls: Es sind, wenn die Akten verspätet vorgelegt werden, jedoch an die materiellen Voraussetzungen der Fortdauer der Untersuchungshaft erhöhte Anforderungen zu stellen.
Senat: 2
Gegenstand: Haftprüfung durch das Oberlandesgericht
Stichworte: Haftprüfung durch das OLG, Vorlage der Akten, Verspätete Vorlage, Aufhebung des Haftbefehls
Normen: StPO 121, StPO 122
Beschluss: Strafsache
gegen G.P.
wegen Betruges (hier: Haftprüfung durch das Oberlandesgericht).
Auf die Vorlage der (Zweit-)Akten zur Haftprüfung gemäß den §§ 121, 122 StPO hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 20. 01. 2003 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft, des Angeschuldigten und seines Verteidigers beschlossen:
Die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus wird angeordnet.
Die Haftprüfung für die nächsten drei Monate wird dem nach den allgemeinen Vorschriften dafür zuständigen Gericht übertragen.
Gründe:
Der Angeschuldigte befindet sich nach seiner vorläufigen Festnahme am 04. Juli 2002 aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Lüdenscheid vom 05. Juli 2002 (6 Gs 419/02), der durch den ihm am 18. Dezember 2002 verkündeten Haftbefehl des Landgerichts Hagen vom 12. 12. 2002 ergänzt und neu gefasst worden ist, seit dem O5. Juli 2002 in Untersuchungshaft. In dem Haftbefehl vom 18. Dezember 2002 werden dem Angeschuldigten 412 Fälle des vollendeten und 19 Fälle des versuchten gewerbsmäßigen Betruges, davon in 119 Fällen in Form der bandenmäßigen Begehungsweise, zur Last gelegt. Der Angeklagte und seine Mittäter sollen ihren Lebensunterhalt mit ihnen nicht gehörenden EC-Karten gedeckt und dabei erhebliche Schäden verursacht haben. Dem entspricht die Anklage der Staatsanwaltschaft Hagen vom 2. Dezember 2002. Wegen der Einzelheiten, insbesondere wegen des dem Angeschuldigten im Einzelnen zur Last gelegten Tatgeschehens, wird auf den Inhalt des Haftbefehls des Landgerichts vom 18. Dezember 2002 und auf die Anklage der Staatsanwaltschaft Hagen vom 02. Dezember 2002. Bezug genommen.
Das Landgericht hat im Beschluss vom 19. Dezember 2002 die weitere Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich angesehen und die Akten durch Vermittlung der Staatsanwaltschaft und der Generalstaatsanwaltschaft dem Senat zur Entscheidung über die Haftfortdauer gemäß den §§ 121, 122 StPO vorgelegt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat Fortdauer beantragt.
II.
Die Fortdauer der Untersuchungshaft des Angeschuldigten über sechs Monate hinaus war, entsprechend dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft, anzuordnen.
1. Der Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft stand nicht schon entgegen, dass die Akten dem Senat nicht rechtzeitig vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist, die am 5. Januar 2003 endete (vgl. zum Ende der Frist des § 121 Abs. 1 StPO Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., 2003, § 121 Rn. 4 mit weiteren Nachweisen), vorgelegt worden sind, sondern erst am 6. Januar 2003. Nach (wohl) h.M. ist nämlich allein die verspätete Vorlage der Akten bei dem Oberlandesgericht kein Grund, den Haftbefehl aufzuheben (vgl. dazu die Nachweise bei Meyer-Goßner, a.a.O., § 121 Rn. 28 mit weiteren Nachweisen). Gegen diese h.M. sind in der Vergangenheit unter Hinweis auf neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG Bedenken erhoben worden (vgl. BVerfG StV 2001, 691; Hagmann StV 2001, 693 in der Anmerkung zu BVerfG, a.a.O.; Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 3. Aufl., 2003, Rn. 935; a.A. auch Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 3. Aufl., Rn. 852 f.). Diesen vermag sich der Senat jedoch nicht anzuschließen. Er hält vielmehr an seiner ständigen Rechtsprechung, die der aller Strafsenate des Oberlandesgerichts Hamm entspricht, fest. Es handelt sich um eine bloße Ordnungsvorschrift (so zuletzt auch OLG Karlsruhe StV 2000, 513), deren Verletzung zumindest dann nicht, zur Aufhebung des Haftbefehls führt, wenn die Frist - wie vorliegend - nur um einen Tag versäumt ist. Ob und wenn ja, ab wann etwas anderes gilt, wenn die Vorlage um eine längere Frist verspätet erfolgt, kann dahinstehen (vgl. dazu OLG Karlsruhe, a.a.O., für eine Fristversäumung um fünf Wochen). Der Senat ist aber in dem Zusammenhang - mit dem OLG Karlsruhe (a.a.O.) - der Auffassung, dass in den Fällen der Fristverletzung an die Prüfung der materiellen Voraussetzungen der Haftfortdauer erhöhte Anforderungen zu stellen sind (so auch OLG Karlsruhe, a.a.O.; Burhoff, a.a.O.).
2. Es besteht gegen den Angeschuldigten dringender Tatverdacht im Sinn von § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO hinsichtlich der ihm im Haftbefehl vom 5. Juli 2002/18. Dezember 2002 zur Last gelegten Taten, die u.a. auch Gegenstand der Anklage vom 02. Dezember 2002 sind. Der Tatverdacht gegen den Angeschuldigten ergibt sich aus dem inzwischen vorliegenden umfassenden Geständnis des Angeklagten.
Zutreffend weist die Generalstaatsanwaltschaft allerdings darauf hin, dass die Anklageschrift vom 02. Dezember 2002 und der darauf beruhende Haftbefehl des Landgerichts vom 18. Dezember 2002 der Richtigstellung hinsichtlich der Zahl der dem Angeschuldigten insgesamt zur Last gelegten Taten bedarf. Insoweit wird auf die Ausführungen in der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft vom 06. Januar 2003 Bezug genommen.
3. Als Haftgrund ist der des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gegeben. Der Angeschuldigte hat wegen der ihm zur Last gelegten Taten mit einer empfindlichen Jugend - bzw. Freiheitsstrafe zu rechnen. Wenn gegen den Angeschuldigten eine Freiheitsstrafe verhängt wird, müssen zudem die dem Urteil des Amtsgerichts Bochum vom 03. Januar 2002, durch das eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten festgesetzt worden , zugrundeliegenden Einzelstrafen und die Einzelstrafen des Urteils des Amtsgericht Lüdenscheid vom 15. Mai 2002, durch das Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten festgesetzt worden ist, einbezogen werden. Diese somit insgesamt hohe Straferwartung - die dem Angeschuldigten drohende Strafe dürfte auf jeden Fall - über drei Jahre liegen - stellt einen nicht unerheblichen Fluchtanreiz dar, der vorliegend durch andere Umstände nicht gemildert wird. Tragfähige soziale Bindungen sind nicht erkennbar vorhanden. Auch verfügt der Angeschuldigte nicht (mehr) über eine Arbeitsstelle. Nach allem ist der Senat daher davon überzeugt, dass der Angeschuldigte sich dem Verfahren durch Flucht zu entziehen würde, wenn er auf freien Fuß käme.
4. Demgemäss war der Zweck der Untersuchungshaft auch nicht mit weniger einschneidenden Maßnahmen nach § 116 StPO, insbesondere nicht durch eine Kaution, zu erreichen.
Es steht die bisher gegen den Angeschuldigten vollzogene Untersuchungshaft im Übrigen auch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Tatvorwürfe und der im Fall der Verurteilung zu erwartenden Freiheitsstrafe (vgl. zur Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes BVerfG StV 1998, 558).
5. Die besonderen Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO, unter denen die Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus fortdauern darf, sind ebenfalls (noch) gegeben.
Nach § 121 Abs. 1 StPO kommt - solange kein auf Freiheitsentziehung lautendes Urteil vorliegt - die Fortdauer von Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus nur dann in Betracht, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang oder ein anderer wichtiger Grund ein Urteil noch nicht zugelassen haben. Bei der insoweit erforderlichen Prüfung des Verfahrens(fort)gangs sind die Ausnahmetatbestände des § 121 Abs. 1 StPO grundsätzlich eng auszulegen (vgl. u.a. BVerfGE 36, 264, 271 mit weiteren Nachweisen; siehe auch BVerfG NJW 1980; 1448; 1992, 1749 f. = StV 1991, 565; vgl. die weiteren Rechtsprechungsnachweise bei Meyer-Goßner, § 121 StPO Rn. 18 ff.). Auch unter Berücksichtigung dieser strengen Grundsätze ist vorliegend der verfassungsrechtliche Beschleunigungsgrundsatz nicht verletzt.
Das Verfahren ist nämlich mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung noch ausreichend gefördert worden. Die Ermittlungen waren umfangreich. Die Ermittlungsbehörden hatten eine Vielzahl von Fällen des Betruges aufzuklären. Dazu mussten die entsprechenden Fallakten von auswärtigen Staatsanwaltschaften beigezogen werden. Auch musste zunächst der Rücklauf der an die Geschädigten gestellten Anfragen abgewartet werden. Danach sind dann der Angeklagte und seine Mittäter - teilweise mehrfach - vernommen worden. Die Kreispolizeibehörde Lüdenscheid hat ihren 60-seitigen Schlussbericht am 26. November 2002 an die Staatsanwaltschaft übersandt. Diese hat dann bereits unter dem 02. Dezember 2002 Anklage erhoben. Die Anklage ist dem Angeklagten am 11. Dezember 2002 zugestellt worden.
Die Jugendkammer hat das Hauptverfahren noch nicht eröffnet. Auch ist (endgültig) Termin zur Hauptverhandlung noch nicht bestimmt. Die Jugendkammer hat jedoch mit dem Verteidiger des Angeklagten und dem Verteidiger eines nicht inhaftierten Mitbeschuldigten den 18. März 2003 als Termin für den Beginn der Hauptverhandlung und den 28. März 2003 für deren Fortsetzung bestimmt. Dieser verhältnismäßig lange Zeitraum zwischen Eingang der Anklage und Hauptverhandlung ist vorliegend nicht zu beanstanden. Die Jugendkammer hat sich um eine frühere Terminierung bemüht. Diese ist jedoch daran gescheitert, dass die Verteidiger der Angeklagten an früheren Terminen wegen anderweitiger Verteidigungen nicht hätten teilnehmen können. Anders als in dem vom Senat mit Beschluss vom 19. Dezember 2001 ( 2 BL 221/01, veröffentlicht in StV 2002, 151) entschiedenen Verfahren, kann der Jugendkammer vorliegend auch nicht vorgehalten werden, dass sie der Verzögerung durch Beiordnung eines anderen bzw. eines Pflichtverteidigers hätte entgegenwirken können und müssen. Denn es handelt sich um ein umfangreiches Verfahren, in das sich die neuen Verteidiger auch erst hätten einarbeiten müssen, so dass eine frühere Terminierung des Verfahrens auch bei Auswechselung der Verteidiger nicht möglich gewesen wäre.
Nach allem ist damit das vorliegende Verfahren noch ausreichend gefördert worden. Der Senat weist allerdings darauf hin, dass weitere Verzögerungen des Verfahrensabschlusses angesichts der bisherigen Dauer der Untersuchungshaft und des bisherigen Verfahrensablaufs nicht mehr hinnehmbar erscheinen dürften und das staatliche Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung zugunsten des verfassungsrechtlich geschützten Freiheitsanspruchs des noch nicht verurteilten Angeschuldigten im Hinblick auf die Bedeutung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG dann zurücktreten müsste.
III.
Die Nebenentscheidung beruht auf § 122 Abs. 3 Satz 3 StPO.
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