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Rechtsprechung

Zur Fluchtgefahr bei älterem Mann mit fester Arbeitsstelle

Da der nicht vorbestrafte Angeklagte seit fast 20 Jahren in ungekündigter Stellung bei einer Firma beschäftigt ist und über einen festen Wohnsitz in der ehelichen Wohnung verfügt, sowie in Anbetracht seines Alters von nahezu 58 Jahren hält der Senat es eher für unwahrscheinlich, dass der Angeklagte sein Umfeld verlassen wird. Der Haftbefehl war daher auszusetzen.

Zur Fluchtgefahr bei einem älteren Mann, der über eine feste Arbeitsstelle verfügt und sich für das Verfahren zur Verfügung gehalten hat.

Beschluss

Strafsache

In pp.

hat der 2. Strafsenat des OLG Hamm am 27. 1. 2003 beschlossen:

Die Beschwerde wird mit folgender Maßgabe verworfen:

Der Vollzug des Haftbefehls des Landgerichts Hagen vom 04. November 2002 wird unter folgenden Auflagen außer Vollzug gesetzt:

1. Der Angeklagte hat wieder in XXXXXXXXXXXXXX, Wohnung zu nehmen und jede Wohnsitzänderung dem Landgericht Hagen zum o.a. Aktenzeichen mitzuteilen.

2. Der Angeklagte darf bis auf weiteres das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nicht verlassen. Reisen innerhalb Deutschlands, die länger als drei Tage dauern, sind vorher dem Landgericht Hagen zum o.a. Aktenzeichen anzuzeigen. Der Beschuldigte darf bis auf weiteres ggf. beantragte neue Personalpapiere nicht vom Einwohnermeldeamt in Empfang nehmen.

3. Der Angeklagte hat allen Ladungen von Gerichten und der Staatsanwaltschaft Folge zu leisten.

4. Der Angeklagte hat sich zweimal wöchentlich, und zwar Montags und Donnerstags bei der für seinen Wohnsitz zuständigen Polizeidienststelle zu melden.

Gründe:

I.

Der am 25. November 2002 vorläufig festgenommene Angeklagte befindet sich aufgrund des Haftbefehls des Landgerichts Hagen vom 04. November 2002 ununterbrochen in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Hagen.

In dem Haftbefehl wird ihm zur Last gelegt, an nicht mehr genau feststellbaren Tagen im Sommer und Herbst 1998 in 14 Fällen die am XXXXXXXX geborene A. und ihre am XXXXXXXX geborene Schwester B. sexuell missbraucht zu haben. In sechs dieser Fälle soll er als Person über 18 Jahren an den Kindern beischlafähnliche Handlungen (Oralverkehr), die mit einem Eindringen in den Körper verbunden waren, vorgenommen haben (schwerer sexueller Missbrauch). Wegen der Einzelheiten der Tatvorwürfe wird auf den bezeichneten Haftbefehl Bezug genommen.

In seiner verantwortlichen Vernehmung vom 08. August 2000 hat der Angeklagte die verfahrensgegenständlichen Taten bestritten. Nach Exploration der Geschädigten A.. hat die Diplom-Psychologin F. unter dem 05. Februar 2001 ein aussagepsychologisches Gutachten erstattet, in dem sie zu dem Ergebnis gelangt, dass die Angaben der Zeugin glaubhaft sind. Da sich die Geschädigte B. nicht von der Psychologin hat explorieren lassen, hat die Staatsanwaltschaft Hagen das Verfahren wegen der sie betreffenden Straftaten mit Verfügung vom 09. Juli 2001 abgetrennt und später gemäß § 154 Abs. 1 StPO vorläufig eingestellt. Mit gleichem Datum hat sie wegen der Straftaten zum Nachteil der Geschädigten A.. beim Landgericht Hagen Anklage wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in sechs Fällen und schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen erhoben. Durch Beschluss vom 07. November 2001 hat die 1. große Strafkammer des Landgerichts Hagen diese Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren gegen den Angeklagten eröffnet. Mit Verfügung vom selben Tage hat der Vorsitzende Termin zur Hauptverhandlung auf den 31. Januar sowie den 01., 04. und 06. Februar 2002 anberaumt. Diese Termine sind durch Verfügung vom 07. Januar 2002 wieder aufgehoben worden, nachdem auch die Geschädigte B. sich bereit erklärt hatte, sich durch einen Sachverständigen explorieren zu lassen.

Daraufhin hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen in diesem Verfahren wieder aufgenommen. In seinem unter dem 19. August 2002 erstatteten Gutachten hat Prof. Dr. S. die Aussagen der Zeugin als glaubhaft bewertet. Unter dem 08. Oktober 2002 hat die Staatsanwaltschaft Hagen bezüglich der Straftaten zum Nachteil der Geschädigten B. Anklage vor dem Landgericht Hagen erhoben. Aufgrund der Vorwürfe aus beiden Anklagen hat das Landgericht Hagen unter dem 04. November 2002 gegen den Angeklagten Haftbefehl erlassen. Von diesem erlangte der Verteidiger des Angeklagten am Morgen des 25. November 2002 durch einen Anruf bei dem Polizeipräsidium in Hagen Kenntnis und unterrichtete seinen Mandanten im Anschluss an dieses Telefonat fernmündlich hierüber. Sogleich nach dieser Mitteilung brachte der Angeklagte, der seit nahezu 20 Jahren als Auslieferungsfahrer bei der Firma L. beschäftigt ist, seinen Lkw zu seinem Arbeitgeber und stellte sich anschließend selbst der Polizei in Hagen. Nach seiner vorläufigen Festnahme ist ihm noch am Vormittag desselben Tages der Haftbefehl verkündet worden. Nach Anhörung des Angeklagten hat die 1. große Strafkammer des Landgerichts Hagen durch Beschluss vom selben Tage den Haftbefehl aufrecht erhalten und in Vollzug gesetzt. Die hiergegen eingelegte Beschwerde des Angeklagten vom 27. November 2002, der sie durch Beschluss vom 29. November 2002 nicht abgeholfen hat, ist durch Beschluss des Senats vom 19. Dezember 2002 für gegenstandslos erklärt worden. Denn durch Beschluss vom 11. Dezember 2002 hatte die Strafkammer die Anklage vom 08. Oktober 2002 zur Hauptverhandlung zugelassen, auch insoweit das Hauptverfahren gegen den Angeklagten eröffnet und die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Durch weiteren Beschluss vom selben Tage hatte sie die Verfahren 41 KLs 57 (richtig 58)/01 zum Nachteil der A.. und 41 KLs 90/02 zum Nachteil der B.n zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden, wobei das erstgenannte Verfahren führt.

Gegen die Haftfortdauerentscheidung vom 11. Dezember 2002 richtet sich die Beschwerde des Angeklagten vom 19. Dezember 2002, die er unter Bezugnahme auf seine Beschwerde vom 27. November 2002 begründet hat. Die Strafkammer hat der Beschwerde durch Beschluss vom 27. Dezember 2002 nicht abgeholfen und zur Begründung auf ihren Nichtabhilfebeschluss vom 29. November 2002 verwiesen.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die gemäß § 304 Abs. 1 StPO zulässige Beschwerde hat auch in der Sache in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

In Übereinstimmung mit den Auffassungen der Strafkammer und der Generalstaatsanwaltschaft erachtet der Senat den Angeklagten zwar als der ihm im Haftbefehl vom 04. November 2002 sowie den Anklageschriften vom 09. Juli 2001 und 08. Oktober 2002 zur Last gelegten Taten dringend verdächtig. Der dringende Tatverdacht gründet sich auf die miteinander korrespondierenden und einander ergänzenden Aussagen der Geschädigten A. und B., die von verschiedenen Sachverständigen in getrennt voneinander erstellten aussagepsychologischen Gutachten als glaubhaft beurteilt worden sind. Die vorläufigen Glaubhaftigkeitsgutachten der Diplom-Psychologin F. vom 05. Februar 2001 bezüglich A.. sowie des Prof. Dr. S. vom 19. August 2002 hinsichtlich B. genügen auch noch den wissenschaftlichen Anforderungen, die der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 30. Juli 1999 an aussagepsychologische Begutachtungen gestellt hat (BGH NJW 1999, 2746 ff.).

Es besteht auch der Haftgrund der Fluchtgefahr i.S.d. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO.

Dieser ist gegeben, wenn eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Angeklagte werde sich dem Verfahren entziehen, als für die Erwartung, er werde sich ihm zur Verfügung halten (vgl. OLG Köln StV 1996, 390 und 1991, 472). Der Angeklagte, dem außer sexuellem Missbrauch von Kindern in acht Fällen sechs Verbrechenstatbestände des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern mit einer Mindeststrafe von jeweils einem Jahr zur Last gelegt werden, hat im Falle seiner Verurteilung mit einer empfindlichen, mehrjährigen Freiheitsstrafe zu rechnen. Nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen sind Anhaltspunkte für die Annahme minder schwerer Fälle u.a. mangels eines Geständnisses des Angeklagten nicht ersichtlich, so dass derzeit eine Milderung des Verbrechensstrafrahmens nicht in Betracht kommt. Der Strafkammer und der Generalstaatsanwaltschaft ist darin beizupflichten, dass von einer derartigen Straferwartung grundsätzlich ein starker Fluchtanreiz ausgeht.

Dieser allein vermag aber eine Fluchtgefahr noch nicht zu begründen. Vielmehr müssen bestimmte Tatsachen vorliegen, die den Schluss rechtfertigen, der Beschuldigte werde dem in der hohen Straferwartung liegenden Fluchtanreiz auch nachgeben. Die Beurteilung der Fluchtgefahr erfordert daher neben der Berücksichtigung der Straferwartung die Würdigung aller Umstände des Falles, insbesondere auch der Lebensverhältnisse des Beschuldigten (Senat in StV 1999, 37 u. 215; StraFo 1999, 248; NStZ-RR 2000, 188 = StraFo 2000, 203; StV 2001, 685 = StraFo 2002, 23; Beschluss vom 28. Oktober 2002 in 2 BL 100/02). Die danach vorzunehmende Gesamtschau führt vorliegend zu dem Ergebnis, dass der Fluchtanreiz durch mehrere Umstände erheblich gemildert wird.

Der nicht vorbestrafte Angeklagte ist verheiratet, seit fast 20 Jahren in ungekündigter Stellung als Auslieferungsfahrer bei der Firma Z. in H. beschäftigt und verfügt über einen festen Wohnsitz in der ehelichen Wohnung. Aufgrund dieser engen familiären und sozialen Eingebundenheit sowie in Anbetracht seines Alters Von nahezu 58 Jahren hält der Senat es eher für unwahrscheinlich, dass der Angeklagte sein vertrautes, gesichertes Umfeld verlassen wird, um sich in der Fremde eine neue Existenz aufzubauen. Für eine erfolgreiche Flucht dürften ihm zudem angesichts des Einkommens eines Berufskraftfahrers die finanziellen Mittel fehlen. Schließlich müsste er als Deutscher bei einer Festnahme im Ausland mit seiner Auslieferung an die Bundesrepublik rechnen. Von entscheidender Bedeutung ist aber, dass der Angeklagte sich, sobald er am 25. November 2002 telefonisch von seinem Verteidiger über den gegen ihn erlassenen (und bis dahin nicht vollstreckten!) Haftbefehl vom 04. November 2002 informiert worden war, in Kenntnis der für ihn negativen Ergebnisse der bereits vorliegenden Glaubhaftigkeitsgutachten vom 05 Februar 2001 und 19. August 2002 noch am selben Morgen selbst der Polizei in H. gestellt hat. Obwohl dem Angeklagten die gegen ihn erhobenen Tatvorwürfe zumindest seit seiner verantwortlichen Vernehmung vom 08. August 2000, also bereits seit fast 2 '/z Jahren, bekannt waren, hat er in dem gesamten Zeitraum auch nach Anberaumung der ersten Hauptverhandlungstermine vom 31. Januar sowie 01., 04. und 06. Februar 2002 nicht den Versuch unternommen, sich dem Verfahren zu entziehen, oder auch nur Fluchtvorbereitungen getroffen.

Der aus diesen Gründen erheblich gemilderten Fluchtgefahr vermag nach Auffassung des Senats entgegen der Ansicht der Strafkammer und der Generalstaatsanwaltschaft durch weniger einschneidende Maßnahmen als dem Vollzug der Untersuchungshaft begegnet zu werden.

Der Vollzug des Haftbefehls vom 04. November 2002 war daher nach § 116 Abs. 1 StPO gegen die vorliegend erteilten Anweisungen auszusetzen.


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