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Rechtsprechung


Aktenzeichen: 1 Vollz (Ws) 69/03 OLG Hamm

Leitsatz: Für das Verfahren in Strafvollzugssachen gilt der Grundsatz der von Amts wegen zu erforschenden „materiellen Wahrheit“. Dies bedeutet, dass die Strafvollstreckungskammer den Sachverhalt, von dem sie ausgehen will, festzustellen hat.

Senat: 1

Gegenstand: Strafvollzugssache

Stichworte: Erforschung der materiellen Wahrheit, Strafvollzugssache; Verfahrensgrundsatz

Normen: (StVollzG 120; StPO 244

Beschluss: Strafvollzugssache
betreffend den Strafgefangenen M.B.
wegen Rechtmäßigkeit von Maßnahmen der Vollzugsbehörde (hier: Aushändigung einer Sportjacke)

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen vom 05. März 2003 gegen den Beschluss des Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bochum vom 30. Januar 2003 hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 22. 04. 2003 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht und die Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung des Präsidenten des Landesjustizvollzugsamtes Nordrhein-Westfalen beschlossen:

Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

Der angefochtene Beschluss wird mit Ausnahme der Festsetzung des Geschäftswertes aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bochum zurückverwiesen.

Gründe:
Der Betroffene hat in der Justizvollzugsanstalt Bochum einen Antrag auf Aushändigung einer Sportjacke gestellt, der von der Vollzugsbehörde abschlägig beschieden wurde. Auch auf den Widerspruch des Betroffenen blieb sein Begehren ohne Erfolg. Die Strafvollstreckungskammer hat den dagegen gerichteten Antrag des Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung als unzulässig zurückgewiesen. Sie gibt in der angefochtenen Entscheidung zunächst den Widerspruchsbescheid des Präsidenten des Landesjustizvollzugsamts vom 20.11.2002 teilweise wieder und führt danach u.a. aus:

„Anlässlich Ihrer Kammervorführung am 07.10.2002 begehrten Sie u. a. die Herausgabe einer bei Ihrer Habe befindlichen Sportjacke. Der zuständige Kammerbeamte lehnte dies ab. Ihre gegen diese Entscheidung gerichtete Eingabe hatte gemäß § 3 Abs. 2 Vorschaltverfahrensgesetz spätestens am 14.10.2002 der Vollzugsbehörde vorgelegt werden müssen. Tatsächlich hat die Eingabe erst am 16.10.2002 vorgelegen (Widerspruchsbescheid).

Mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung macht der Verurteilte geltend, in seinen Rechten verletzt zu sein. Er trägt vor, die ablehnende Entscheidung des Kammerbeamten datiere vom 08.10., so dass der Widerspruch vom 15.10. rechtzeitig sei. Für den verspäteten Eingang am 16.10. sei er nicht verantwortlich. Sein Antrag sei auch zulässig, da ihm die Widerspruchsbescheid ohne Rechtsmittelbelehrung zugegangen und daher fehlerhaft sei. Außerdem habe es sich nicht um eine Sportjacke, sondern um eine zu einem Jogginganzug gehörende Jacke gehandelt. Der Antrag des Verurteilten ist unzulässig, da der Widerspruch nicht innerhalb der vorgesehenen Frist eingelegt wurde. Entgegen dem Vortrag des Antragstellers war ihm die ablehnende Entscheidung bereits am 07.10.2002 eröffnet worden, so dass der Widerspruch am 14.10. der Vollzugsbehörde hätte vorgelegt werden müssen. Damit ist die Frage des Zugangs des Widerspruchs unbeachtlich, da dieser vom 15.10. datiert.“

Gegen diese Entscheidung richtet sich die in zulässiger Weise eingelegte Rechtsbeschwerde des Betroffenen. Er hat dazu ausgeführt, die Aushändigung der Jacke sei ihm nicht am 07. Oktober 2002 verweigert worden, „sondern viel später“. Ihm sei erklärt worden, dass im Hinblick auf die Aushändigung dieser Jacke zunächst die Abteilung für Sicherheit und Ordnung befragt werden müsse. Erst am 09. Oktober 2002 sei sein Antrag auf Aushändigung von der Abteilung für Sicherheit und Ordnung mündlich abgelehnt worden. Er habe seine Widerspruchsschrift am 15. Oktober 2002 bei der Frühstücksabgabe dem zuständigen Justizbeamten der JVA Bochum ausgehändigt. Eine möglicherweise verspätete Weiterleitung dürfe sich nicht zu seinen Ungunsten auswirken.

Die Rechtsbeschwerde, deren Zulassung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten ist, hat einen zumindest vorläufigen Erfolg und führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, weil der Beschluss der Strafvollstreckungskammer an einem durchgreifenden Mangel leidet. Für das Verfahren in Strafvollzugssachen gilt der Grundsatz der von Amts wegen zu erforschenden „materiellen Wahrheit“ (§ 120 StVollzG i. V. m. § 244 Abs. 2 StPO). Dies bedeutet, dass die Strafvollstreckungskammer den Sachverhalt, von dem sie ausgehen will, festzustellen hat. Sie muß gegebenenfalls, wenn sich der Tatsachenvortrag der Anstalt und des Betroffenen widersprechen, selbst Beweis erheben (vgl. Senatsbeschluss vom 21. April 1994 1 Vollz (Ws) 45/94; Callis/Müller/Dietz, StVollzG, § 115 Rn. 2) und zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind. Ob und inwieweit eine entscheidungserhebliche Behauptung zutrifft, unterliegt deshalb im Zweifelsfall der Aufklärungspflicht der Strafvollstreckungskammer. Den Betroffenen trifft hier weder eine Beweislast noch ein Beweisrisiko; ein rechtlich erhebliches Vorbringen kann nur unberücksichtigt bleiben, wenn es widerlegt ist. Dieser Verpflichtung ist die Strafvollstreckungskammer in rechtsfehlerhafter Weise nicht nachgekommen. Sie hat in ihrer Entscheidung den Sachvortrag der Justizvollzugsanstalt im Hinblick auf den Zeitpunkt der Eröffnung der ablehnenden Entscheidung offensichtlich ungeprüft zugrunde gelegt, obwohl der Betroffene diesen Zeitpunkt bestritten hat.

Die Strafvollstreckungskammer hätte deshalb zumindest eine dienstliche Äußerung des „Kammerbeamten“, der die ablehnende Entscheidung bezüglich der Sportjacke eröffnet hat und des bei der Frühstücksausgabe am 15. Oktober 2002 tätigen Vollzugsbeamten, der die Widerspruchsschrift des Betroffenen entgegen genommen haben soll, einholen müssen, um sich ein eigenes Bild von der Richtigkeit des Sachvortrages des Betroffenen zu machen.

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen war deshalb die angefochtene Entscheidung aufzuheben und zur erneuten Behandlung und Entscheidung an das Landgericht Bochum zurückzuverweisen.


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