Aktenzeichen: 2 Ws 116/03 OLG Hamm
Leitsatz: Der Haftgrund der Fluchtgefahr ist, auch wenn der Beschuldigte sich in einem anderen Verfahren in Strafhaft befindet, allein aus der Sicht des jeweiligen Verfahrens ohne Rücksicht auf die in dem anderen Verfahren angeordnete freiheitsentziehende Maßnahme zu beurteilen.
Senat: 2
Gegenstand: Beschwerde
Stichworte: Untersuchungshaft, Fluchtgefahr, Strafhaft in anderem Verfahren
Normen: StPO 112
Beschluss: Strafsache
gegen T.H.
wegen Diebstahls (hier: weitere Haftbeschwerde)
Auf die weitere (Haft-) Beschwerde des Angeklagten vom 31. März 2003 gegen den Beschluss der 4. Strafkammer des Landgerichts Hagen vom 19. März 2003 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 22. 05. 2003 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und
die Richterin am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:
Die Beschwerde wird auf Kosten des Beschwerdeführers verworfen.
G r ü n d e :
I.
Das Amtsgericht Hagen hat in dieser Sache gegen den Angeklagten durch Haftbefehl vom 22. November 2002 (AZ: 66 Gs 1572/02) die Untersuchungshaft angeordnet, die auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützt worden ist.
Mit Beschluss vom 20. Januar 2003 hat das Amtsgericht Hagen (AZ: 61 Ls 407 Js 836/02-91/02) die Unterbrechung der Untersuchungshaft zum Zwecke der Vollstreckung einer Restfreiheitsstrafe in Höhe von 463 Tagen in dem Vollstreckungsverfahren der Staatsanwaltschaft Hagen 632 Js 209/99 V genehmigt. Das Amtsgericht Hagen - erweitertes Schöffengericht - hatte gegen den Angeklagten in dem Verfahren 632 Js 209/99 V durch Urteil vom 22. Oktober 1999 u.a wegen gemeinschaftlichen Diebstahls in mehreren Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe in Höhe von drei Jahren und drei Monaten festgesetzt. Nach teilweiser Strafverbüßung wurde die Vollstreckung des Restes in Höhe von 463 Tagen zur Durchführung einer Drogenlangzeittherapie zurück gestellt. Diese Zurückstellung der Strafvollstreckung ist widerrufen worden und der Angeklagte verbüßt nunmehr diese Restfreiheitsstrafe seit dem 31. Januar 2003 in Unterbrechung der im vorliegenden Verfahren bestehenden Untersuchungshaft.
Durch weiteren Beschluss vom 29. Januar 2003 hat das Amtsgericht Hagen darüber hinaus die Unterbrechung der Untersuchungshaft zum Zwecke der Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe von 110 Tagen in dem Vollstreckungsverfahren der Staatsanwaltschaft Hagen 932 VRs 153/96 genehmigt.
Im vorliegenden Verfahren hat das Amtsgericht Schöffengericht - Hagen gegen den Angeklagten durch Urteil vom 8. Februar 2003 wegen Diebstahls in einem besonders schweren Fall eine Freiheitsstrafe in Höhe von einem Jahr und sechs Monaten verhängt. Ferner ist die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet worden.
Gegen das amtsgerichtliche Urteil hat der Angeklagte rechtzeitig Berufung und gegen die Aufrechterhaltung des Haftbefehls Beschwerde eingelegt. Letztere ist durch Beschluss der 4. großen Strafkammer des Landgerichts Hagen vom 19. Februar 2003 verworfen worden. Hiergegen hat der Angeklagte durch seinen Verteidiger weitere Beschwerde eingelegt, der die Strafkammer durch Beschluss vom 9. April 2003 nicht abgeholfen hat. Die Hauptakten sind zwecks Durchführung des Berufungsverfahrens noch nicht bei der Berufungskammer des Landgerichts Hagen eingegangen.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die vorgenannten Beschlüsse des Landgerichts sowie auf das Urteil des Amtsgerichts Hagen vom 28. Februar 2003 Bezug genommen.
II.
1. Die Haftbeschwerde ist gemäß § 310 Abs. 1 StPO zulässig, kann aber in der Sache keinen Erfolg haben.
Da die Hauptakten noch nicht gemäß § 321 S. 2 StPO dem Berufungsgericht zugeleitet worden sind, hatte der erkennende Senat über die weitere Haftbeschwerde zu befinden. Eine Zuständigkeit der kleinen Strafkammer des Landgerichts Hagen ist noch nicht begründet, da die Beschwerde gegen eine Haftentscheidung des ersten Richters erst nach Eingang der Akten bei dem Berufungsgericht als Antrag auf Haftprüfung nach § 117 Abs. 1 StPO durch das Berufungsgericht zu behandeln ist (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 117 Rdnr. 12 m.w.Nachw.). Hierbei ist unerheblich, ob wie im vorliegenden Fall - das Landgericht schon vorher eine Beschwerdeentscheidung getroffen hatte (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O.).
2. Wegen des dringenden Tatverdachts, gegen den sich die Beschwerde auch nicht richtet, wird auf die Feststellungen im Urteil vom 28. Februar 2003, die auf der geständigen Einlassung des Angeklagten beruhen, Bezug genommen (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 112 Rdnr. 7).
3. Es besteht auch der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO.
Diese ist immer dann anzunehmen, wenn die Würdigung der Umstände des Falles es wahrscheinlicher macht, dass ein Angeklagter sich dem Strafverfahren entzieht als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde (vgl. KK-Boujong, StPO, 4. Aufl., § 112 Rdnr. 15; Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 112 Rdnr. 17). Die im Strafverfahren zu erwartenden Rechtsfolgen sind dabei zu berücksichtigen. Ist mit der Verhängung einer hohen Strafe zu rechnen, so sind die Anforderungen an das Hinzutreten weiterer Umstände umso niedriger anzusetzen (vgl. KK-Boujong, a.a.O., Rdnr. 18 mit weiteren Nachweisen).
Der in erster Instanz zu einem Jahr und sechs Monaten verurteilte Angeklagte hat keinen festen Wohnsitz; unter der Anschrift seiner Eltern B.str 27 in H. ist er lediglich gemeldet, hält sich dort aber tatsächlich nicht auf. Er kommt vielmehr nach eigenen Angaben bei Bekannten unter oder hält sich im Stadtgebiet auf. Seit vielen Jahren ist er der Betäubungsmittelszene zuzurechnen.
Der ledige Angeklagte verfügt zudem weder über feste familiäre noch soziale Bindungen. Er ist zwar gegenüber einem vier Jahre alten Kind unterhaltsverpflichtet, das im Haushalt der Kindesmutter lebt; mangels Einkünften der Angeklagte ist seit über fünf Jahren arbeitslos - leistet er jedoch keinerlei Zahlungen. Weder zur Kindesmutter noch zu seinem Kind hält er regelmäßigen Kontakt.
Bei einer Gesamtbetrachtung der Lebensumstände des Angeklagten erscheint es dem Senat deshalb wahrscheinlicher, dass er sich dem Verfahren durch Flucht entzieht als dass er sich den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung hält.
Die Fluchtgefahr wird auch nicht dadurch ausgeräumt, dass sich der Angeklagte derzeit zur Verbüßung anderer Strafen in Strafhaft befindet, das Strafende in dem Verfahren 632 Js 209/99 V StA Hagen auf den 7. Mai 2004 notiert ist und sich daran die Vollstreckung der Restfreiheitsstrafe in Höhe von 110 Tagen in dem Vollstreckungsverfahren der StA Hagen 932 VRs 153/96 anschließt. Es ist im konkreten Fall auch nicht damit zu rechnen, dass der Angeklagte in absehbarer Zeit vorzeitig entlassen und ein Strafrest zur Bewährung ausgesetzt wird. Gleichwohl ist damit der Haftgrund der Fluchtgefahr nicht entfallen.
In der Rechtsprechung und im Schrifttum wird nämlich fast ausnahmslos die Auffassung vertreten, der Haftgrund der Fluchtgefahr sei allein aus der Sicht des jeweiligen Verfahrens ohne Rücksicht auf in anderen Verfahren angeordnete freiheitsentziehende Maßnahmen zu beurteilen. Begründet wird diese Auffassung damit, dass Vollzugserleichterungen dem Betroffenen die Gelegenheit zur Flucht bieten könnten. Der Vorbehalt des § 11 Abs. 2 StVollzG laufe insoweit leer, als der Anstaltsleiter nicht beurteilen könne, ob und inwieweit aufgrund von Erkenntnissen in schwebenden Verfahren die Gefahr einer Flucht gegeben sei (vgl. OLG Koblenz MDR 1969, 950; OLG Hamm NJW 1971, 1956; OLG Karlsruhe Justiz 1972, 321; OLG Düsseldorf NJW 1982, 1826; OLG Köln NStZ 1991, 605 mit ablehnender Anmerkung Möller NStZ 1991, 606, die sich zur Begründung ihrer gegenteiligen Auffassung auf die Entscheidungsbefugnisse des Anstaltsleiters nach dem Strafvollzugsgesetz beruft ; KK-Boujong, StPO, 3. Aufl., § 112 Rdnr. 15, 57; Lemke in Heidelberger Kommentar zur StPO, 3. Aufl., § 112 Rdnr. 17; Meyer-Goßner, a.a.O., § 112 Rdnr. 17; Löwe-Rosenberg-Dünnebier, StPO, 25. Aufl., § 112 Rdnr. 88; Paeffgen NStZ 1992, 482).
Diese Auffassung verdient den Vorzug. Allein der Umstand, dass sich ein Angeklagter in anderer Sache in Strafhaft befindet, bietet keine ausreichende Gewähr dafür, dass er sich nicht doch durch Flucht dem schwebenden Verfahren entzieht. Es kann nämlich grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden, dass die Strafhaft unter Umständen ohne Rücksicht auf das neu eingeleitete Verfahren beendet wird, etwa durch einen Gnadenerweis oder aber aufgrund einer Entscheidung nach § 360 Abs. 2 StPO. Namentlich bei einer Unterbrechung der Strafhaft nach § 360 Abs. 2 StPO greift der Hinweis auf § 11 Abs. 2 StVollzG nicht, da der Gefangene in diesem Fall ungeachtet bestehender Fluchtgefahr auf freien Fuß zu setzen wäre, wenn keine Überhaft notiert ist. Zudem gibt es Fälle, in denen überraschender Weise Urlaub gewährt wird (§§ 10 13 StVollzG). Es ist zwar richtig, dass der Anstaltsleiter bei Vollzugserleichterungen stets gewissenhaft zu überprüfen hat, ob nicht die Gefahr besteht, dass der Gefangene die Lockerungen missbraucht und sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entzieht; auch besteht nach Nummer 43 MiStra u.a. die Pflicht, den Anstaltsleiter über die Einleitung eines Strafverfahrens gegen den Strafgefangenen zu unterrichten. Da aber Informationslücken auftreten können, kann die Notwendigkeit von Überhaft auch bei anderweitiger Strafhaft nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden (so auch Paeffgen, a.a.O.).
Der Senat setzt sich mit der vorliegenden Entscheidung auch nicht in Widerspruch zu seinem Beschluss vom 13. Dezember 2001 in (2) 4 Ausl. 218/01(98/01), abgedr. in StraFO 2002, 139; StV 2003, 91. In dem dort zu entscheidenden Fall hatte der Verfolgte frühestens im Zeitpunkt der Halbstrafenentscheidung im September 2004 mit Lockerungen und Vergünstigungen zu rechnen, da vorher auch nicht mit einer Entscheidung nach § 456 a StPO zu rechnen war. Es bestand demzufolge zum Zeitpunkt der Entscheidung durch den Senat im Dezember 2001 für den Verfolgten für fast drei Jahre nicht die Möglichkeit, sich der Auslieferung durch Flucht entziehen zu können. Der Senat hat in dem zuvor zitierten Beschluss ausdrücklich offen gelassen, ob etwas Anders gilt, wenn dem Verfolgten von den Vollzugsbehörden tatsächlich Lockerungen gewährt werden.
Mildere Maßnahmen als die Anordnung der Untersuchungshaft mit den sich daraus für den Angeklagten gemäß § 122 StVollzG ergebenden weitergehenden Beschränkungen erscheinen nach Auffassung des Senats nicht ausreichend, den Zweck der Untersuchungshaft zu erreichen.
Anhaltspunkte, dass die Anordnung der Untersuchungshaft in Bezug auf die Bedeutung der Sache und angesichts der in erster Instanz verhängten und zu erwartenden Freiheitsstrafe unverhältnismäßig wäre, sind nicht ersichtlich. Der Senat geht jedoch davon aus, dass die zuständige kleine Strafkammer des Landgerichts unverzüglich Termin zur Berufungshauptverhandlung anberaumen wird.
Die Haftbeschwerde war daher, wie von der Generalstaatsanwaltschaft beantragt, mit der Kostenfolge des § 473 Abs. 1 StPO als unbegründet zu verwerfen.
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