Aktenzeichen: 2 Ws 149/03 OLG Hamm
Leitsatz: Zur Fluchtgefahr bei einer noch zu vollstreckenden (Rest)Freiheitsstrafe von 2 Jahren 10 Monaten
Senat: 2
Gegenstand: Beschwerde
Stichworte: Fluchtgefahr, Höhe der Freiheitsstrafe, Reststrafe
Normen: StPO 112, StGB 57 ]
Beschluss: Strafsache
gegen S.A.,
wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge u.a. (hier: Haftbeschwerde des Angeklagten).
Auf die (Haft)Beschwerde des Angeklagten vom 04. Juni 2003 gegen den Beschluss der 6. großen Strafkammer des Landgerichts Hagen vom 21. Mai 2003 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 04. 07. 2003 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:
Die Beschwerde wird auf Kosten des Beschwerdeführers verworfen.
Gründe:
I.
Der am 23. April 2002 vorläufig festgenommene Angeklagte befindet sich seit dem
24. April 2002 aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Hagen gleichen Datums 66 Gs 547/02 ununterbrochen in Untersuchungshaft.
Durch Urteil der 6. großen Strafkammer des Landgerichts Hagen vom 21. Mai 2003 46 KLs 600 Js 607/01 (8/02) ist gegen ihn wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei Fällen auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren erkannt worden. Gegen diese Entscheidung hat der Angeklagte mit einem am 27. Mai 2003 beim Landgericht eingegangenen Schriftsatz seines Verteidigers gleichen Datums Revision eingelegt.
Mit Beschluss vom 21. Mai 2003 hat die 6. große Strafkammer des Landgerichts Hagen die Fortdauer der Untersuchungshaft aus den Gründen ihrer Anordnung und nach Maßgabe des angefochtenen Urteils angeordnet. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Haftbeschwerde vom 04. Juni 2003, der das Landgericht Hagen mit Beschluss vom 10. Juni 2003 nicht abgeholfen hat.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Haftbeschwerde als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die gemäß § 304 Abs. 1 StPO zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.
1. Aufgrund des Urteils des Landgerichts Hagen vom 21. Mai 2003 ist der Angeklagte dringend verdächtig, zum einen am 13. März 2002 gemeinschaftlich mit den Mitangeklagten B. und C. 1 kg Kokain aus Belgien in die Bundesrepublik Deutschland eingeführt und in der Folgezeit hier sowie in Frankreich gewinnbringend weiter veräußert zu haben und zum anderen gemeinschaftlich mit den Mitangeklagten B. und C. sowie weiteren Mittätern am 19. April 2002 70 kg Haschisch, die zum gewinnbringenden Weiterverkauf bestimmt waren, aus Spanien in das Bundesgebiet verbracht zu haben, ohne jeweils über die erforderliche Erlaubnis nach § 3 BtMG verfügt zu haben.
2. Es besteht auch der Haftgrund der Fluchtgefahr i.S.d. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO fort.
Dieser ist gegeben, wenn eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Angeklagte werde sich dem Verfahren entziehen, als für die Erwartung, er werde sich ihm zur Verfügung halten (vgl. OLG Köln StV 1996, 390 und 1991, 472).
Die sich aus der Schwere der dem Angeklagten zur Last gelegten Delikte ergebende hohe Straferwartung hat sich aufgrund des Urteils des Landgerichts Hagen vom 21. Mai 2003 in einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren konkretisiert. Der Angeklagte muss damit rechnen, dass diese Strafe rechtskräftig wird, zumal das Urteil aufgrund seiner Revision nur auf Rechtsfehler überprüft wird. Obwohl der Angeklagte Erstverbüßer ist, erscheint dem Senat seine vorzeitige bedingte Entlassung aus der Strafhaft nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe gemäß § 57 Abs. 1 StGB ungeachtet seiner bisher beanstandungsfreien Führung in der Justizvollzugsanstalt im Hinblick auf seine Vorstrafen nicht wahrscheinlich. Denn er ist bereits nicht unerheblich strafrechtlich in Erscheinung getreten. Das Amtsgericht Plettenberg verhängte gegen ihn am 03. September 1991 eine Geldauflage wegen Körperverletzung, am 10. Februar 1992 eine Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu je 30,00 DM wegen unerlaubten Besitzes eines Würgeholzes und am 23. Mai 1995 eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 30,00 DM wegen Hehlerei. Durch Urteil vom 03. Juli 1997 erkannte das Amtsgericht Lüdenscheid gegen den Angeklagten wegen der einschlägigen Straftat des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge auf eine Freiheitsstrafe von einem Jahr, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Unter Anrechnung der seit dem 24. April 2002 erlittenen Untersuchungshaft nach § 51 Abs. 1 StGB verbleibt daher entgegen der Auffassung der Verteidigung im Falle der Rechtskraft der Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren nicht eine zu verbüßende Strafe von nur noch einem Jahr und sechs Monaten, sondern eine solche von zwei Jahren und zehn Monaten. Eine derartige Strafe begründet erfahrungsgemäß bereits einen starken Fluchtanreiz. Mit dieser Einschätzung setzt sich der Senat nicht in Widerspruch zu seinen Entscheidungen vom 27. Dezember 2002 in 2 Ws 475/02 sowie vom 13. März 2002 in 2 Ws 60/02, da diese jeweils einen mit dem vorliegenden Verfahren nicht vergleichbaren Sachverhalt betrafen und sich auf zu verbüßende Reststrafen von unter zwei Jahren bezogen.
Eine zu verbüßende Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten vermag jedoch allein die Annahme von Fluchtgefahr noch nicht zu rechtfertigen. Vielmehr müssen zudem bestimmte Tatsachen namentlich aus den Lebensverhältnissen des Beschuldigten zu dem Schluss führen, er werde dem in ihr liegenden Fluchtanreiz auch nachgeben (vgl. Senat in StV 1999, 37 und 215; StraFo 1999, 248; NStZ-RR 2000, 188 = StraFo 2000, 203; StV 2001, 685 = StraFo 2002, 23). Derartige Tatsachen sind hier indes gegeben.
Der einschlägig vorbestrafte Angeklagte, der marokkanischer Staatsangehöriger ist und im Falle der Rechtskraft des angefochtenen Urteils aufgrund des verhängten Strafmaßes mit seiner Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland rechnen muss, verfügt ausweislich der Ermittlungen im vorliegenden Verfahren über gute Auslandskontakte nach Belgien, Frankreich, Spanien und Marokko. In diesen Ländern leben Mittäter, die ihm bei einer Flucht behilflich sein könnten. Marokko ist zudem sein Heimatland. Die von dem Angeklagten vorgetragenen sozialen Bindungen erscheinen demgegenüber nicht derart gefestigt, dass sie fluchthindernd wirken könnten. Zwar ist der ledige und kinderlose Angeklagte mit einer deutschen Staatsangehörigen verlobt. Diese könnte ihn zum einen jedoch ins Ausland begleiten. Zum anderen vermag ein Verlöbnis im Gegensatz zu einer Ehe ohne großen bürokratischen Aufwand wieder gelöst zu werden. Die Beziehung zu ihr hat ihn in der Vergangenheit zudem auch nicht zu stabilisieren, insbesondere nicht von der Begehung von Straftaten abzuhalten vermocht. Die undatierte Bestätigung der vom Vater der Verlobten betriebenen Firma P.-GmbH über die Bereitstellung eines den Fähigkeiten des Angeklagten entsprechenden Arbeitsplatzes ist schon wegen ihrer Unbestimmtheit nicht geeignet, eine fluchthindernde günstige berufliche Perspektive zu begründen.
Bei einer Gesamtschau aller Umstände erachtet der Senat es daher für wahrscheinlicher, dass der Angeklagte dem in der noch zu verbüßenden Gesamtfreiheitsstrafe liegenden Fluchtanreiz nachgeben als sich dem Verfahren stellen würde.
3. Der Fluchtgefahr vermag nach Auffassung des Senats nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als dem Vollzug der Untersuchungshaft nach § 116 Abs. 1 StPO begegnet zu werden.
4. Die Fortdauer der Untersuchungshaft ist auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass sie bereits 14 Monate andauert, im Hinblick auf die Bedeutung der Sache und die verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren noch nicht unverhältnismäßig. Allerdings kann die Möglichkeit der Reststrafenaussetzung zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 StGB bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht unberücksichtigt bleiben (Senatsbeschluss vom 04. Januar 1998 in 2 Ws 600/98; Beschluss des 3. Strafsenats vom 05. November 1992 in 3 Ws 540/92). Die Verhältnismäßigkeit des weiteren Vollzugs der Untersuchungshaft wäre jedoch in Bezug auf diese Erwägung nur dann maßgeblich in Frage gestellt, wenn zumindest von der Wahrscheinlichkeit einer vorzeitigen bedingten Entlassung ausgegangen werden könnte (OLG Hamm MDR 1993, 673). Diese ist indes vorliegend aus den oben genannten Gründen nicht zu erwarten.
5. Die Beschwerde war daher mit der sich aus § 473 Abs. 1 StPO ergebenden Kostenfolge als unbegründet zu verwerfen.
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