Aktenzeichen: 3 Ws 257/03 OLG Hamm
Leitsatz: Zur Unwirksamkeit eines Rechtsmittelverzichts, der durch Zwang zustande gekommen ist
Senat: 3
Gegenstand: Beschwerde
Stichworte: Rechtsmittelverzicht, Unwirksamkeit, Zwang, unzulässiger Druck
Normen: StPO 302
Beschluss: Strafsache
gegen H.R.
wegen Betruges (hier: Feststellung der Unwirksamkeit der Rechtsmittelverzichtserklärungen).
Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten vom 08. Mai 2003 gegen den Beschluss der VII. kleinen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bielefeld vom 25. April 2003 hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 03. 07. 2003 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und den Richter am Amtsgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass die Rechtsmittelverzichtserklärungen des Angeklagten und seines Verteidigers vom 15. November 2002 hinsichtlich des Urteils des Amtsgerichts Schöffengericht Bielefeld vom selben Tage (Az.: 10 Ls 51 Js 553/01) unwirksam sind.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe:
I.
Durch Urteil des Amtsgerichts Schöffengericht Bielefeld vom 15. November 2002 wurde der Angeklagte wegen Betruges in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Missbrauch von Berufsbezeichnungen sowie wegen versuchter Erpressung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Wegen des Inhalt der Vorwürfe im Einzelnen wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zugelassene Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Bielefeld vom 18. Juni 2002 verwiesen. In der Hauptverhandlung vom 15. November 2002 hatte der Angeklagte die Vorwürfe zunächst bestritten. Nach der ihn belastenden Aussage des Zeugen R. und eingehender Erörterung der Sach- und Rechtslage erließ das Amtsgericht gegen den Angeklagten wegen der angeklagten Vorwürfe Haftbefehl. Im Haftbefehl ist ausgeführt, dass im Hinblick auf die durch die Vorverurteilung des Landgerichts Magdeburg vom 19. Juli 2001 (Az.: 23 KLs 8/99) wegen einschlägiger Taten verhängten zwei Freiheitsstrafen von zwei Jahren und vier Monaten und einem Jahr und vier Monaten auf Bewährung eine hohe Straferwartung bestehe, die die Annahme der Fluchtgefahr gem. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO begründe.
Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft beantragte sodann in der Hauptverhandlung, das Verfahren an das Landgericht wegen einer Straferwartung von über vier Jahren zu verweisen. Nach kurzer Unterbrechung der Sitzung erklärten der Verteidiger und im Folgenden auch der Angeklagte persönlich, dass die Vorwürfe der Anklage in vollem Umfang eingeräumt würden. Das Amtsgericht verurteilte den Angeklagten ohne weitere Beweisaufnahme mit dem genannten Tenor. Nach der Urteilsverkündung wurden dem Verteidiger der Haftbefehl sowie Rechtsbehelfsbelehrung zum Haftbefehl ausgehändigt. Ferner wurde eine Rechtsmittelbelehrung in Kurzform erteilt. Wie sich aus den insoweit übereinstimmenden Darstellungen des die Verhandlung führenden Richters, der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft und des Verteidigers ergibt, betonte das Gericht im Folgenden, dass es über die Frage der Haftfortdauer erst entscheiden werde, nachdem der Angeklagte und sein Verteidiger entschieden hätten, ob auf ein Rechtsmittel verzichtet werden solle oder nicht. Nachdem der Angeklagte wegen eines Herz-Kreislauf-Anfalles notärztlich versorgt worden war und von Seiten des Notarztes Bedenken gegen die Fortsetzung der Hauptverhandlung nicht erhoben worden waren, gaben der Angeklagte und sein Verteidiger Rechtsmittelverzichtserklärungen ab, die vorgelesen und genehmigt wurden. Nach weiterem Rechtsmittelverzicht der Staatsanwaltschaft hob das Amtsgericht den in der Sitzung erlassenen Haftbefehl vom selben Tage auf.
Mit Schreiben vom 19. November 2002 erklärte der Angeklagte durch seinen Verteidiger mit näheren Ausführungen die Anfechtung des Rechtsmittelverzichts und den Widerruf des Geständnisses, weil die Erklärungen unter unzulässigem prozessualen Zwang abgegeben worden seien und beantragte, die Unwirksamkeit der Rechtsmittelverzichtserklärungen festzustellen. Ferner ist von Seiten des Angeklagten Berufung gegen das Urteil des Amtsgericht Bielefeld vom 15. November 2002 eingelegt und vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt worden.
Durch Beschluss vom 25. April 2003 hat das Landgericht Bielefeld den Antrag auf Feststellung der Unwirksamkeit der Rechtsmittelverzichtserklärungen des Angeklagten und seines Verteidigers in der Hauptverhandlung vom 15. November 2002 und den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als unbegründet verworfen. Ferner hat das Landgericht festgestellt, dass das Rechtsmittel der Berufung gegen das Urteil des Schöffengerichts durch die Rechtsmittelverzichtserklärungen des Angeklagten und seines Verteidigers erledigt sei.
Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit der sofortigen Beschwerde, mit der er weiterhin die Unwirksamkeit der Rechtsmittelverzichtserklärungen geltend macht. Er rügt insbesondere, dass durch den überraschenden Erlass des Haftbefehls, der der Sache nach nicht gerechtfertigt gewesen sei, in der Hauptverhandlung unzulässiger Druck auf ihn zur Abgabe einer geständigen Einlassung und schließlich nach Aburteilung auch zur Abgabe der Rechtsmittelverzichtserklärung ausgeübt und gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens verstoßen worden sei. Auch habe er sich in einem erheblich eingeschränkten Gesundheitszustand befunden, dem durch das Gericht nicht hinreichend Rechnung getragen worden sei.
II.
Die sofortige Beschwerde ist begründet.
Der Rechtsmittelverzicht des Angeklagten und seines Verteidigers in der Hauptverhandlung vom 15. November 2002 ist unwirksam wegen der Art und Weise seines vom Gericht zu verantwortenden Zustandekommens.
Zwar ist ein Rechtsmittelverzicht als Prozesserklärung grundsätzlich unwiderruflich und unanfechtbar (ständige Rechtsprechung vgl. BGHR StPO § 302 I 1 Rechtsmittelverzicht m. w. N.). Auch eine auf Irrtum oder falschen Erwartungen beruhende Rechtsmittelverzichtserklärung ist grundsätzlich weder widerruflich noch anfechtbar (vgl. Meyer-Goßner, StPO-Kommentar, 45. Aufl., Rdnr. 21, 9 zu § 302 m. w. N.). Allerdings kann ein Rechtsmittelverzicht ausnahmsweise wegen unzulässiger Willensbeeinflussung unwirksam sein bei Vorliegen schwerwiegender Willensmängel, unzulässigen Absprachen oder wegen der Art und Weise seines Zustandekommens.
Die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts durch Umstände seines Zustandekommens ist in Frage gestellt, wenn auf den Angeklagten durch Beeinflussungsmittel in unzulässiger Weise eingewirkt wurde, selbst wenn diese Mittel nicht verboten sind i. S. d. § 136 a StPO (vgl. BGH Wistra 1994, 197, BGHSt 19, 101, 104, BGHSt 45, 51 ff.). Eine unzulässige Einwirkung auf den Angeklagten ergibt sich vorliegend aus der Verknüpfung der Entscheidung des Amtsgerichts über die Aufrechterhaltung des Haftbefehls und den Vollzug der Untersuchungshaft mit der Erklärung des Angeklagten und seines Verteidigers über die Frage der Einlegung eines Rechtsmittels gegen das soeben verkündete Urteil. Nach den insoweit übereinstimmenden Darstellungen des die Verhandlung leitenden Richters am Amtsgerichts Schmitz in der Übersendungsverfügung an das Landgericht vom 08. Dezember 2003 (Bl. 511 ff. d. A.), der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft, Staatsanwältin L., vom 20. Dezember 2002 (Bl. 508 d. A.) vom selben Tage und des Verteidigers im Schriftsatz vom 06. März 2003 unter Bezugnahme auf die Schilderung des Prozessbeobachters Rechtsanwalt D. vom 15. November 2002 (Bl. 581 ff.) hat eine Verknüpfung derart stattgefunden, dass das Gericht nach der Urteilsverkündung mehrfach betont hat, dass es die Entscheidung über den Haftbefehl erst treffen werde, wenn durch den Angeklagten und seinen Verteidiger entschieden worden sei, ob auf ein Rechtsmittel verzichtet werden solle oder nicht. Damit ist die an sich mit der Urteilsverkündung ohne weiteres zu erfolgende Haftfortdauerentscheidung durch das Amtsgericht ausgesetzt worden, um die Abgabe einer Erklärung des Angeklagten und seines Verteidigers über die Einlegung eines Rechtsmittels zu veranlassen und den Inhalt dieser Erklärung ganz offenbar zum ausschlaggebenden Argument der Haftfortdauerentscheidung zu machen. Diese Verknüpfung konnte der Angeklagte nach Lage der Dinge nur dahin auffassen, dass er nur im Falle der Erklärung des Rechtsmittelverzichts damit rechnen konnte, die gegen ihn in der Sitzung angeordnete Untersuchungshaft nicht verbüßen zu müssen. Hierin liegt eine unzulässige Einflussnahme auf die Entschließungsfreiheit des Angeklagten hinsichtlich der Akzeptanz des Urteils.
Grundsätzlich soll der Angeklagte wegen der mit einer Gerichtsverhandlung regelmäßig verbundenen belastenden Ausnahmesituation vom Vorsitzenden des Gerichts nicht im Anschluss an die Urteilsverkündung zu einer Rechtsmittelerklärung veranlasst werden. So empfehlen die Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren in Nr. 142 Abs. 2 RiStBV von dieser Fragestellung abzusehen. Ein Verstoß gegen diesen Grundsatz bewirkt zwar allein nicht die Unwirksamkeit des Verzichts (vgl. Meyer-Goßner a. a. O. Rdnr. 24 zu § 302, BGH NStZ 96, 297). Vorliegend geht die Verknüpfung des weiteren verfahrensmäßigen Prozedere nach der Urteilsverkündung, nämlich der anstehenden Haftfortdauerentscheidung mit der Abgabe einer Erklärung, ob ein Rechtsmittel eingelegt werden soll oder nicht, aber deutlich weiter, weil dem Angeklagten in Aussicht gestellt wird, dass nur seine Akzeptanz des Urteils ihn vom Vollzug der Untersuchungshaft befreien könne. Bei dieser Verquickung der Umstände kann insbesondere vor dem Hintergrund der erst in der Hauptverhandlung erfolgten für den Angeklagten und seinen Verteidiger überraschenden und von der Staatsanwaltschaft auch nicht beantragten Anordnung der Untersuchungshaft durch den Erlass des Haftbefehls die Begründung einer Zwangslage, in der die freie Willensentschließung des Angeklagten nicht mehr gewährleistet war, nicht ausgeschlossen werden.
Hinzu kommt die gesundheitliche Beeinträchtigung des Angeklagten, der wegen eines Herz-Kreislauf-Anfalles in unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit den genannten prozessualen Ereignissen, nämlich zwischen Urteilsverkündung und Rechtsmittelverzicht notärztlich behandelt wurde. Zwar spricht aufgrund des Umstandes, dass der Angeklagte bereits zahlreiche solcher Anfälle in anderen Verfahren erlitten hat und nach der ärztlichen Stellungnahme im Gutachten des Prof. Dr. B. vom 15. September 1997 vieles dafür, dass eine akute Gesundheitsgefährdung tatsächlich nicht bestand. Auch sind nach den übereinstimmenden Darstellungen der Verfahrensbeteiligten notärztlicherseits keine Bedenken gegen die Fortsetzung der Sitzung erhoben worden. Dennoch ist nicht zu widerlegen, dass der Angeklagte eine massive gesundheitliche Beeinträchtigung jedenfalls subjektiv empfunden hat und hierdurch über die prozessualen Umstände hinaus erheblich belastet war; wurden immerhin Medikamente injiziert und zeitweise eine Beatmung mit einer Sauerstoffmaske durchgeführt.
Bei Würdigung dieser Gesamtumstände ist eine unzulässige Willensbeeinflussung des Angeklagten und seines Verteidigers durch die Art und Weise des vom Gericht zu verantwortenden Zustandekommens ihrer Rechtsmittelverzichtserklärungen festzustellen. Diese unzulässige Willensbeeinflussung führt zur Unwirksamkeit der von ihnen abgegebenen Rechtsmittelverzichtserklärungen, die bei Aufhebung des angefochtenen Beschlusses antragsgemäß festzustellen war.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 3 StPO analog.
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