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Rechtsprechung


Aktenzeichen: 3 Ss 400/03 OLG Hamm

Leitsatz: Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Jugendgerichtsverfahren bei einem aus einem anderen Kulturkreis stammenden Jugendlichen

Senat: 3

Gegenstand: Revision

Stichworte: Pflichtverteidiger, Beiordnung; Jugendgerichtsverfahren

Normen: StPO 140

Beschluss: Strafsache
gegen A.C.
wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln.

Auf die (Sprung-)Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Jugendschöffengerichts Essen vom 27.11.2002 hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 23. 06. 2003 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:

Das angefochtene Urteil wird mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts - Jugendschöffengericht - Essen zurückverwiesen.

Gründe:
I.
Das Jugendschöffengericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Heroin zu einer Jugendstrafe von 10 Monaten verurteilt.
Gegen das in seiner Anwesenheit verkündete Urteil hat der Angeklagte mit am 02.12.2002 bei dem Amtsgericht in Essen eingegangenen Schreiben seines Verteidigers Rechtsmittel eingelegt. Das angefochtene Urteil ist dem Verteidiger am 14.03.2003 zugestellt worden. Mit am 17.01.2003 bei dem Amtsgericht Essen eingegangenem Schriftsatz vom 16.01.2003 hat der Verteidiger das Rechtsmittel als Revision fortgeführt und die Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie die Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an ein anderes Amtsgericht - das Amtsgericht Düsseldorf - beantragt.
Der Angeklagte rügt mit der Revision u. a. die Verletzung der §§ 338 Ziffer 5, 140 Abs. 2 StPO, da er in der Hauptverhandlung vor dem Jugendschöffengericht nicht verteidigt war.

II.
Die zulässige Revision des Angeklagten hat bereits mit der Rüge der Verletzung der §§ 338 Ziffer 5, 140 Abs. 2 StPO auch in der Sache einen zumindest vorläufigen Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie zur Zurückverweisung der Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Essen. Für eine Verweisung der Sache an ein anderes Amtsgericht - etwa das Amtsgericht Düsseldorf - hat der Senat keine Veranlassung gesehen. Der Senat geht davon aus, dass dem Angeklagten auch vor dem Amtsgericht Essen ein rechtsstaatlichen Anforderungen entsprechendes Verfahren gemacht wird.

Die entsprechend den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO von der Revision ausgeführte Rüge der Verletzung der §§ 338 Ziffer 5, 140 Abs. 2 StPO ist begründet. Die Hauptverhandlung vor dem Jugendschöffengericht am 27.11.2002 fand nämlich in Abwesenheit eines Verteidigers statt, obwohl hier ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vorlag, § 338 Nr. 5 StPO. Dieser absolute Revisionsgrund nötigt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mit den zugrundeliegenden Feststellungen.

Die Mitwirkung eines Verteidigers war gemäß § 140 Abs. 2 StPO erforderlich, da ersichtlich war, dass sich der Beschuldigte nicht selbst in einer den Erfordernissen eines fairen Verfahrens genügenden Weise verteidigen konnte. Der Angeklagte war zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung vor dem Jugendschöffengericht erst 17 Jahre und 5 Monate alt. Er stammt aus Afrika - aus Gambia oder Sierra Leone - und befindet sich erst seit dem Jahre 2001 in der Bundesrepublik Deutschland. Er ist der deutschen Sprache nicht mächtig. Gleichwohl ist ihm die Anklageschrift in vorliegender Sache lediglich in deutscher Fassung zugestellt worden. Ein Dolmetscher für die englische Sprache, die der Angeklagte mehr oder weniger gut beherrscht, erschien erstmals in der Hauptverhandlung vor dem Jugendschöffengericht.
Bei dieser Sachlage war die Fähigkeit des Angeklagten, sich gegen die von der Staatsanwaltschaft erhobenen Vorwürfe zu verteidigen, zunächst bereits deshalb eingeschränkt, weil er aus einem anderen Kulturkreis stammte und der deutschen Sprache nicht mächtig ist (so OLG Karlsruhe, Strafverteidiger 2002, 299 m. w. N.). Hinzu kommt die Jugend des Angeklagten, durch die das Gewicht beider vorgenannten Umstände noch erhöht wird. Der sich hieraus ergebende Nachteil in der Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten konnte auch nicht dadurch ausgeglichen werden, dass in der Hauptverhandlung vor dem Jugendschöffengericht ein Dolmetscher zur Verfügung stand, der dem Angeklagten die Ereignisse in der Hauptverhandlung zwar nicht in seiner Muttersprache aber doch offenbar zumindest in einer für ihn verständlichen Form in die englische Sprache übersetzte. Entscheidendes Gewicht kommt insoweit nämlich dem Umstand zu, dass dem Angeklagten hier entgegen Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe a MRK die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Essen vom 05.09.2002 nicht in übersetzter Fassung gemäß § 201 StPO übermittelt worden war (vgl. OLG Karlsruhe, aaO., m. w. N.). Es muss daher zugunsten des Angeklagten davon ausgegangen werden, dass er überhaupt erst in der Hauptverhandlung in einer verständlichen Form mit den gegen ihn erhobenen Vorwürfen und den näheren Beweisumständen konfrontiert worden ist. Der Angeklagte hatte damit aber weder ausreichend Zeit noch die Möglichkeit, sich auf seine Verteidigung vorzubereiten (vgl. Artikel 6 Abs. 3 Buchstabe b MRK; vgl. auch OLG Karlsruhe, aaO). Es muss davon ausgegangen werden, dass dem Angeklagten in der Hauptverhandlung vor dem Jugendschöffengericht weder die Beweislage noch die sich daraus ergebende Bedeutung des Fernbleibens des Hauptbelastungszeugen F. gegenwärtig war und er so zu einer wirksamen Verteidigung gegen den Tatvorwurf ebenso außer Stande war wie zu einer solchen im Hinblick auf die Bemessung der gegen ihn zu verhängenden Rechtsfolgen. Dies alles bei einer durch das angefochtene Urteil realisierten Straferwartung von 10 Monaten Jugendstrafe ohne Bewährung gegen einen bislang strafrechtlich nicht in Erscheinung getretenen Jugendlichen. Dass allein die Mitwirkung eines Dolmetschers die aufgezeigten Nachteile in der Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten nicht hinreichend kompensieren konnte, bedarf bei dieser Sachlage keiner Vertiefung. Damit lagen hier die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO für eine notwendige Verteidigung bereits aufgrund der fehlenden Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten vor. Auf die weitere Frage, ob hier bereits aufgrund der Schwere der Tat ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben war - wofür angesichts der verhängten Rechtsfolgen einiges spricht - kam es daher nicht mehr an. Ebensowenig bedürfen die weiteren Verfahrensrügen der Revision der näheren Erörterung, da bereits der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO durchgreift.


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