Aktenzeichen: 2 Ws 144/03 OLG Hamm
Leitsatz: Zur Annahme von Fluchtgefahr bei einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten, die auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hin gegen den Angeklagten im Berufungsverfahren festgesetzt worden ist.
Senat: 2
Gegenstand: Beschwerde
Stichworte: Fluchtgefahr, hohe Freiheitsstrafe; Außervollzugsetzung; Straferwertung
Normen: StPO 112, StPO 116
Beschluss: Strafsache
gegen S.U,
wegen Raubes (hier: (Haft-)Beschwerde des Angeklagten).
Auf die (Haft-)Beschwerde des Angeklagten vom 13. Juni 2003 gegen den Beschluss der 14. kleinen Strafkammer des Landgerichts Bochum vom 05. Juni 2003 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 30. 06. 2003 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:
Der Vollzug des Haftbefehls des Landgerichts Bochum vom 05. Juni 2003 wird unter folgenden Auflagen außer Vollzug gesetzt:
Der Angeklagte hat Wohnung zu nehmen unter der Anschrift XXXXX.
Er hat seinen Reisepass bei der Staatsanwaltschaft Bochum zu hinterlegen.
Er hat sämtlichen gerichtlichen Aufforderungen und Ladungen Folge zu leisten.
Er hat sich einmal in der Woche bei der für seinen Wohnsitz zuständigen Polizeidienststelle zu melden.
Im übrigen wird die Beschwerde verworfen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Angeklagte zu tragen. Jedoch wird die Gebühr um die Hälfte ermäßigt; in diesem Umfang hat die Landeskasse die dem Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe:
I.
Dem Angeklagten, der in der Vergangenheit Drogen konsumiert hat, wird vorgeworfen, mit seinen Mittätern K. und Z. am 15. September 2001 einen Raub zum Nachteil des Zeugen G. begangen und dabei eine Beute von rund 100.00 DM gemacht zu haben. Der Angeklagte ist deswegen vom Amtsgericht zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist, verurteilt worden. Dagegen hat die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt. Das Landgericht hat das amtsgerichtliche Urteil abgeändert und den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte Revision eingelegt, über die bislang noch nicht entschieden ist. Der Mittäter K. ist rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten, der Mittäter Z. zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt worden.
Der Angeklagte erfuhr im Oktober 2001 von dem gegen ihn anhängigen Ermittlungsverfahren im Zusammenhang damit, dass ihm eine Speichelprobe für einen DNA-Test entnommen werden sollte. Das Amtsgericht erließ am 21. Oktober 2001 gegen ihn Haftbefehl, der auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt war. Am 12. November 2001 hat sich der Angeklagte selbst den Ermittlungsbehörden gestellt und wurde vorläufig festgenommen. Der Haftbefehl des Amtsgerichts wurde am 13. November 2002 im Termin zur Verkündung des Haftbefehls außer Vollzug gesetzt. Dem Angeklagten wurde aufgegeben, sich dreimal wöchentlich bei der für ihn zuständigen Polizeidienststelle zu melden. Dieser Haftbefehl ist nach Erlass der erstinstanzlichen Entscheidung am 28. Januar 2003 vom Amtsgericht aufgehoben worden.
Der geständige Angeklagte hat während des Verfahrens allen gerichtlichen Ladungen Folge geleistet. Er wohnt inzwischen bei seiner Lebensgefährtin und ist seit Januar 2003 bei einer Arbeitnehmerüberlassungsfirma tätig.
Das Landgericht hat in der Hauptverhandlung vom 5. Juni 2003 erneut einen Haftbefehl gegen den Angeklagten erlassen. Diesen hat es auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, dass nicht verkannt werde, dass der Angeklagte sich bei der Polizei selbst gestellt hat, geständig gewesen sei und sich dem Verfahren in 1. Instanz ebenfalls gestellt hat. Auch sei er zur Hauptverhandlung erschienen. Er habe jedoch bis zur Berufungshauptverhandlung davon ausgehen können, dass sich die Verurteilung im Rahmen der gegen die beiden Mittäter verhängten Freiheitsstrafen halten würde, also nicht mehr als drei Jahren betragen würde.
Der Angeklagte ist festgenommen worden und befindet sich seitdem in Untersuchungshaft. Er hat gegen den Beschluss des Landgerichts vom 5. Juni 2003 Beschwerde eingelegt, der das Landgericht nicht abgeholfen hat. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Haftbeschwerde des Angeklagten zu verwerfen.
II.
Die (Haft-)Beschwerde ist gemäß § 304 StPO zulässig und hat auch in der Sache teilweise Erfolg. Der Haftbefehl war nämlich gemäß § 116 StPO gegen Auflagen (erneut) außer Vollzug zu setzen.
1. Mit dem Landgericht ist dringenden Tatverdacht im Sinne des § 112 Abs. 1 Satz 1 StPO zu bejahen. Nach übereinstimmender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur besteht dringender Tatverdacht, wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass ein Angeklagter Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., 2001, § 112 Rn. 5 mit weiteren Nachweisen). Davon ist vorliegend auszugehen. Der Angeklagte hatte gegen das amtsgerichtliche Urteil keine Berufung eingelegt, die Staatsanwaltschaft hat ihre Berufung auf das Strafmaß beschränkt. Die gegen das Berufungsurteil nunmehr eingelegte Revision des Angeklagten richtet sich als so genannte Strafmaßrevision also nicht (mehr) gegen den Schuldspruch und die ihn tragenden Feststellungen, sondern nur noch gegen die vom Landgericht festgesetzten Rechtsfolgen.
2. Es ist auch (noch) von Fluchtgefahr im Sinne von § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO auszugehen. Das Landgericht geht zutreffend davon aus, dass allein eine hohe Straferwartung die Fluchtgefahr nicht begründen kann (vgl. dazu aus der ständigen Rechtsprechung Senat in StV 1999, 37, 215; StV 2003, 170, siehe auch die weiteren Nachweise bei Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 3. Aufl., 2003, Rn. 1701). Vielmehr ist die Straferwartung in der Regel nur Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass er die Annahme rechtfertigt, der Angeklagte werde ihm nachgeben und wahrscheinlich flüchten. Entscheidend ist, ob bestimmte Tatsachen vorliegen, die den Schluss rechtfertigen, der Angeklagte werde dem in der - hohen - Straferwartung liegende Fluchtanreiz nachgeben und fliehen (so auch OLG Köln StV 1995, 419, Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 112 Rn. 24 mit weiteren Nachweisen).
Danach ist vorliegend Fluchtgefahr im Sinn von § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO zu bejahen. Gegen den Angeklagten ist wegen des ihm zur Last gelegten Raubüberfalls eine nicht unerhebliche Freiheitsstrafe festgesetzt worden, die an die Grenze heranreicht, bei der nach der Rechtsprechung des Senats eine hohe Straferwartung anzunehmen ist (vgl. dazu OLG Hamm 1999, 37, 215, 2003, 170; siehe auch noch OLG Köln StV 1993, 371; 1995, 419; LG Zweibrücken StV 1997, 534).
Der in dieser Straferwartung liegende Fluchtanreiz wird vorliegend durch andere Umstände nicht derart gemildert, dass die Annahme, der Angeklagte werde diesem Anreiz nachgehen, nicht mehr gerechtfertigt wäre. Dabei übersieht der Senat nicht, dass der Angeklagte geständig war und er sich im Oktober 2002, nachdem er von dem gegen ihn anhängigen Strafverfahren Kenntnis erlangt hat, nicht abgesetzt hat, sondern sich am 12. November 2003 selbst den Ermittlungsbehörden gestellt hat. Andererseits darf nicht verkannt werden, dass der Angeklagte im Jahr 2003 einige Monate ohne festen Wohnsitz war und die Beziehung zu seiner derzeitigen Lebensgefährtin auch erst seit einigen Monaten andauert. Zudem gehörte der Angeklagte zumindest in der Vergangenheit dem Drogenmilieu an. Dies und der Umstand, dass der Angeklagte in dem gegen ihn auch noch anhängigen Verfahren StA Bochum 570 Js 193/02 möglicherweise wegen gefährlicher Körperverletzung auch noch eine gesamtstrafenfähige Verurteilung zu erwarten hat, begründet nach Überzeugung des Senats die Annahme, dass der Angeklagte sich dem Verfahren auch jetzt noch durch Flucht entziehen könnte.
3. Der beim Angeklagten bestehende Fluchtanreiz ist nach Auffassung des Senats jedoch nicht so groß, dass ihm nur durch den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft und nicht durch andere Mittel im Sinne des § 116 StPO begegnet werden könnte, womit sich das Landgericht in der angefochtenen Entscheidung nicht auseinander gesetzt hat. Von ausschlaggebender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der bereits erwähnte Umstand, dass der Angeklagte sich im November 2002, nachdem er Kenntnis von dem gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren hatte, dem Verfahren nicht durch Flucht entzogen hat, sondern selbst Kontakt zu den Ermittlungsbehörden aufgenommen hat, um zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen (vgl. ähnlich Senat in StraFo 2002, 177 = StV 2002, 491 bzw. StV 2001, 685 = StraFo 2002, 23; StV 2003, 170 und im Beschluss vom 11. November 2002 in 2 Ws 421/02, http://www.burhoff.de). Er hat sich am 12. November 2002 selbst gestellt und in der folgenden Zeit, als er wieder auf freiem Fuß war, allen gerichtlichen Ladungen Folge geleistet. Dieses Argument lässt zwar den bestehenden Fluchtanreiz nicht vollständig entfallen, dem Verhalten des Angeklagten ist jedoch zu entnehmen, dass er sich, was auch sein Geständnis beweist, seiner Verantwortung stellen will. Insoweit ist von besonderem Gewicht, dass er ohne Schwierigkeiten auch an der Hauptverhandlung in der Berufungsinstanz teilen genommen hat, obwohl er damit rechnen musste, in dieser - wie von der Staatsanwaltschaft in ihrer Berufungsbegründung bereits angekündigt/beantragt - zu einer nicht mehr aussetzungsfähigen Strafe verurteilt zu werden. Dass der Angeklagte vom Landgericht dann zu einer den Strafantrag des Staatsanwaltschaft in der amtsgerichtlichen Hauptverhandlung übertreffenden Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, hat nach Auffassung des Senats eben so wie der Umstand, dass seine Mittäter zu geringeren Freiheitsstrafen verurteilt worden sind, nur geringeres Gewicht. Denn die Unterschiede zwischen den beantragten bzw. verhängten Freiheitsstrafen sind nicht derart hoch, dass allein deshalb der bestehenden Fluchtgefahr nicht mehr auch noch mit einer Außervollzugsetzung begegnet werden könnte. Nach allem erschien dem Senat somit eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls angemessen, wobei er angesichts der wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten von der Festsetzung einer Kaution abgesehen hat.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 473 Abs. 1, 4 StPO. Sie berücksichtigt, dass die Haftbeschwerde des Angeklagten nur teilweise Erfolg hatte.
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