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Rechtsprechung


Aktenzeichen: 4 Ws 65/02 OLG Hamm

Leitsatz: Der Wartepflichtige hat das Vorfahrtsrecht eines herannahenden Verkehrsteilnehmers nur dann zu beachten, wenn das bevorrechtigte Fahrzeug in dem Augenblick, in dem er mit dem Einfahren beginnt, bereits sichtbar bzw. akustisch wahrnehmbar ist. Die bloße Möglichkeit, dass auf der Vorfahrtsstraße ein weiteres Kraftfahrzeug herannahen könnte, löst noch keine Wartepflicht aus.

Senat: 4

Gegenstand: Klageerzwingungsverfahren

Stichworte: Klageerzwingungsverfahren, Unbegründetheit, fahrlässige Tötung im Straßenverkehr, Vorfahrtsverletzung ,Einweiser, berechtigtes Abbiegen, Anforderungen an Abbiegenden

Normen: StGB 222; StPO 172, StVO 8

Beschluss: Ermittlungsverfahren (Klageerzwingungsverfahren) gegen T.K.,
wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung,
(hier: Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 172 Abs, 2 S. 1 StPO),
Antragstellerin: A.P.

Auf den Antrag der Antragstellerin vom 9. April 2002 auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 172 Abs. 2 S. 1 StPO gegen den Bescheid des Generalstaatsanwalts in Hamm vom 6. März 2002 hat der 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 2. Juli 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht und die Richter am Oberlandesgericht und nach Anhörung des Generalstaatsanwalts beschlossen:

Der Antrag wird auf Kosten der Antragstellerin als unbegründet verworfen.

Gründe: I. Die Antragstellerin erhebt gegen den Beschuldigten den Vorwurf der fahrlässigen Tötung wegen folgenden Sachverhalts:
Am 21. August 2001 bog der Beschuldigte außerhalb der geschlossenen Ortschaft Darup als Führer einer landwirtschaftlichen Zugmaschine mit Anhänger gegen 19.40 Uhr von dem Zufahrtsweg Gladbeck 3 a nach links auf die bevorrechtigte K 48 in Richtung Darup ab.
Die K 48 verbindet über eine kurvenreiche Strecke die Ortsteile Darup und Rorup. In beiden Richtungen sind auf großen Tafeln die Verkehrszeichen 105 (Doppelkurve) mit Hinweis "Scharfe Kurven!" und Verkehrszeichen 380 (Richtgeschwindigkeit 50 km/h) angebracht. In Annäherung an die Einmündung Gladbeck 3 a verläuft die K 48 aus Darup in einer Rechtskurve mit ansteigender Fahrbahn. Der Beschuldigte hatte aus seiner Sitzposition nach links eine Sichtmöglichkeit von ca. 60 Metern. Etwa zeitgleich zum Abbiegevorgang des Beschuldigten befuhren der Ehemann der Antragstellerin, B.P. sowie die Zeugen J.B. und J.G. mit ihren Motorrädern die K 48 von Darup kommend in Fahrtrichtung Rorup mit einer hohen Geschwindigkeit.
Im Einmündungsbereich zum Zufahrtsweg Gladbeck 3 a kam es zur Kollision der drei Krafträder mit dem Anhänger des Traktors.
Zu diesem Zeitpunkt hatte die Zugmaschine bereits den rechten Fahrbahnrad der K 48 erreicht, der Anhänger befand sich noch quer zur Fahrbahn. Die Kradfahrer hätten das landwirtschaftliche Fahrzeug des Beschuldigten ca. 105 Meter vor der Unfallstelle wahrnehmen können (so Gutachten Dipl.lng. P. vom 25. Januar 2002, Punkt 2.5).
Der Ehemann der Antragstellerin stürzte, sein Kraftrad stieß gegen die linke Vorderachsenhälfte des Anhängers, rutschte sodann zwischen der Vorder- und Hinterachse des Anhängers hindurch, knickte ein Vorfahrtsschild am rechten Fahrbahnrand ab und blieb ca. 15 m hinter der Anstoßstelle rechts außerhalb der Fahrbahn liegen.
Der Ehemann der Antragstellerin erlitt multiple Frakturen und verstarb am 22. August 2001 an Herz-Kreislauf-Versagen infolge eines Polytraumas.
Die Zeugen B. und G. stürzten ebenfalls und zogen sich Verletzungen zu.
Die Staatsanwaltschaft Münster hat das Ermittlungsverfahren gegen den Beschuldigten mit Verfügung vom 13. November 2001 gemäß § 170 Abs. 2 StPO mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt; der Generalstaatsanwalt in Hamm hat die dagegen gerichtete Beschwerde mit Bescheid vom 6. März 2002 als unbegründet zurückgewiesen. Wegen der Begründungen im Einzelnen wird auf die Bescheide vom 13. November 2001 und 6. März 2002 Bezug genommen.
Mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 9. April 2002 hat die Antragstellerin gegen den ablehnenden Bescheid des Generalstaatsanwalts gerichtliche Entscheidung beantragt. Sie ist der Auffassung, es sei eine exakte Zeit-Weg-Analyse erforderlich gewesen, um festzustellen, ob der Beschuldigte zu einem Zeitpunkt den Abbiegevorgang eingeleitet habe, als ihr Ehemann tatsächlich noch nicht sichtbar gewesen sei. Ferner hätte sich der Beschuldigte wegen der eingeschränkten Sichtverhältnisse sowie der Schwerfälligkeit des von ihm geführten Fahrzeuggespannes eines Einweisers bedienen müssen. Zudem habe der Beschuldigte das Fahrzeuggespann jedenfalls in dem Moment anhalten müssen, als der Ehemann der Antragstellerin für ihn sichtbar geworden sei. Wegen der Einzelheiten wird auf die Antragsschrift Bezug genommen.
II. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist zulässig, aber unbegründet.
Die durchgeführten Ermittlungen bieten keinen genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage, § 174 Abs. 1 StPO. Weitere erfolgversprechende Ermittlungsansätze, § 173 Abs. 3 StPO, sind nicht ersichtlich.
Die Staatsanwaltschaft bzw. der Generalstaatsanwalt gehen in ihren Bescheiden zutreffend davon aus, dass der Beschuldigte auf der Grundlage der Vorfahrtsregeln des § 8 StVO berechtigt war, in die bevorrechtigte Kreisstraße K 48 einzubiegen. Der Wartepflichtige hat das Vorfahrtsrecht eines herannahenden Verkehrsteilnehmers nur dann zu beachten, wenn das bevorrechtigte Fahrzeug in dem Augenblick, in dem er mit dem Einfahren beginnt, bereits sichtbar bzw. akustisch wahrnehmbar ist. Die bloße Möglichkeit, dass auf der Vorfahrtsstraße ein weiteres Kraftfahrzeug herannahen könnte, löst noch keine Wartepflicht aus (vgl. BGH NZV 1994, 184 ). Die Einlassung des Beschuldigten, zum Zeitpunkt der Einleitung des Abbiegevorganges seien die fraglichen Motorräder auf der bevorrechtigten K 48 nicht sichtbar bzw. wahrnehmbar gewesen, ist nicht zu widerlegen. Soweit die Antragstellerin in ihrer Antragsschrift insoweit eine weitere Aufklärung durch eine Zeit-Weg-Analyse für möglich hält, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Aufgrund der begrenzten Sichtweite für den Beschuldigten hängt der Zeitpunkt der Wahrnehmbarkeit bevorrechtigter Fahrzeuge auf der K 48 für ihn im Wesentlichen von der von diesen gefahrenen Geschwindigkeit ab. Die tatsächlichen Fahrgeschwindigkeiten der Motorradfahrer sind aber - ausweislich des von der Antragstellerin beigebrachten Sachverständigengutachtens des Dipl.-Ing. S.- auf der Grundlage des vorhandenen Spurenmaterials nur mit erheblichen Toleranzen rekonstruierbar. Zugunsten des Beschuldigten muss daher aufgrund der Zeugenaussagen, insbesondere der des Zeugen Gröne, sowie der Unfallspuren von einer gefahrenen Geschwindigkeit von mindestens 100 km/h ausgegangen werden. Der Beschuldigte kann den Abbiegevorgang daher ohne weiteres, so auch der Sachverständige, in einem Moment begonnen haben, als die von links herannahenden Motorräder für ihn noch nicht sichtbar bzw. wahrnehmbar waren.
Der Beschuldigte war in der konkreten Verkehrssituation auch nicht verpflichtet, sich eines Einweisers zu bedienen.
Der in eine bevorrechtigte Straße Einbiegende muss sich eines Einweisers nur dann bedienen, wenn von dem Einbiegevorgang für den normalen Verkehr ungewöhnliche Gefahren ausgehen. Solche außergewöhnlichen Gefahrensituationen sind in der Rechtsprechung bejaht worden, wenn der Einbiegevorgang wegen der Länge und Schwerfälligkeit des Fahrzeugs längere Zeit in Anspruch nimmt und die Weiterfahrt wegen erheblich eingeschränkter Sichtverhältnisse besonders erschwert ist (vgl. BGH a.a.O.). Bei einer Sichtweite von 60 Metern und normalen Lichtverhältnissen wie hier ist ein derartiger Ausnahmefall nicht gegeben. In diesem Zusammenhang geht die mit der Antragsschrift vertretene Auffassung, das Unfallopfer P. sei aufgrund der Beschilderung mit einer - unverbindlichen - Richtgeschwindigkeit von 50 km/h berechtigt gewesen, mit der hier gemäß § 3 Abs. 3 Nr. 2 c StVO grundsätzlich zulässigen Geschwindigkeit von 100 km/h zu fahren, fehl. Auch bei einer sich aus Gesetz oder Verkehrszeichen ergebenden Höchstgeschwindigkeit darf diese nur unter günstigsten Umständen, § 3 Abs. 3 StVO, gefahren werden. Jeder Verkehrsteilnehmer ist gehalten, nur so schnell zu fahren, dass er innerhalb der überschaubaren Strecke anhalten kann, § 3 Abs. 1 S. 4 StVO. Selbst auf der Grundlage des von der Antragstellerin beigebrachten Gutachtens des Sachverständigen Schal war dies bei der vom Ehemann der Antragstellerin gefahrenen Geschwindigkeit nicht möglich. Der Beschuldigte seinerseits durfte darauf vertrauen, dass andere Verkehrsteilnehmer sich normgerecht verhalten, d.h. mit einer den konkreten Straßen und Sichtverhältnissen angepassten Geschwindigkeit fahren (vgl. zum Vertrauensgrundsatz im Straßenverkehr Tröndle/Fischer, StGB, 50. Aufl., § 222 Randnummern 14 ff. m.w.N.). Die Forderung nach der Zuhilfenahme eines Einweisers hieße daher im vorliegenden Fall, zumal die Motorradfahrer nach den örtlichen Gegebenheiten mit landwirtschaftlichem Verkehr zu rechnen hatten, die Anforderungen an den Beschuldigten zu überspannen.
Dem Beschuldigten kann auch nicht, wie die Antragstellerin meint, vorgeworfen werden, weitergefahren zu sein statt angehalten zu haben, als er den Ehemann der Antragstellerin wahrnehmen konnte. Selbst wenn hierin eine vorschriftswidrige Fahrweise des Beschuldigten zu sehen wäre, ließe sich die Frage nach dem ursächlichen Zusammenhang zwischen Pflichtwidrigkeit des Beschuldigten und dem nachfolgenden Unfall nicht bejahen. Ob der Ehemann der Antragstellerin die Kollision hätte vermeiden können, wenn der Beschuldigte sofort bei dessen Eintritt in die Sichtgrenze sein Fahrzeuggespann abgebremst hätte, lässt sich nicht feststellen.
Der Sachverständige S. hat ausgeführt, dass der Beschuldigte die rechte Fahrspur der K 48 selbst innerhalb der Annäherungsphase eines 50 km/h schnellen Fahrzeugs nicht hätte räumen können. In Anbetracht der weit höheren Geschwindigkeit der herannahenden Motorräder ist die Möglichkeit, dass das vom Ehemann der Antragstellerin geführte Motorrad zu einem Zeitpunkt im Sichtfeld des Beschuldigten aufgetaucht ist, als eine Ausweichmöglichkeit auf der nur 5,2 m breiten Fahrbahn noch bestand, auszuschließen.
III. Nach allem war der vorliegende Antrag auf gerichtliche Entscheidung mit der Kostenfolge aus § 177 StPO als unbegründet zu verwerfen.


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