Aktenzeichen: 2 Ss 369/2003 OLG Hamm
Leitsatz: Zu den Anforderungen an die Ausführungen bei einer schwierigen Beweiswürdigung
Senat: 2
Gegenstand: Revision
Stichworte: Beweiswürdigung, Anforderungen, Lichtbild, Augenscheinseinnahme; Protokoll, Beweiskraft
Normen: StPO 261, StPO 267, StPO 274, StPO 273
Beschluss: Strafsache
gegen W.G.
wegen Diebstahls
Auf die (Sprung-) Revision des Angeklagten gegen das Urteil des
Amtsgerichts Recklinghausen vom 31. Januar 2003 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 04. 06. 2003 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:
Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Recklinghausen zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Das Amtsgericht Recklinghausen hat gegen den Angeklagten durch Urteil vom 31. Januar 2003 wegen Diebstahls eine Geldstrafe in Höhe von 30 Tagessätzen zu je 30,00 EURO verhängt.
Hiergegen hat der Angeklagte mit am 6. Februar 2003 bei dem Amtsgericht Recklinghausen eingegangenem Schriftsatz seines Verteidigers Berufung eingelegt und das Rechtsmittel nach Zustellung des schriftlichen Urteils an den Verteidiger am 10. März 2003 mit am 2. April 2003 eingegangenem Schriftsatz des Verteidigers als Revision bezeichnet und begründet.
Die Revision des Angeklagten greift das amtsgerichtliche Urteil mit der Sachrüge sowie mit der Verfahrensrüge der Verletzung des § 261 StPO an. Die Revision beantragt, das Urteil mit den Feststellungen aufzuheben und die Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Recklinghausen zu verweisen.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat gleichfalls beantragt, das angefochtene Urteil mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Recklinghausen zurückzuverweisen.
II.
Die (Sprung-)Revision des Angeklagten ist zulässig und hat auch in der Sache - zumindest vorläufigen - Erfolg.
1. Die Revision rügt zunächst zu Recht, dass das Amtsgericht die Verurteilung des Angeklagten auf Lichtbilder gestützt hat, ohne diese durch Augenscheinseinnahme oder auf sonstige Art und Weise in die Hauptverhandlung eingeführt zu haben.
In der Urteilsbegründung (Seite 5 UA) heißt es hierzu:
Insoweit verkennt das Gericht nicht, dass die Fotos, wie sie der Zeugin im Rahmen der Lichtbildvorlage gezeigt wurden, den Angeklagten ebenfalls mit längeren Haaren zeigen, so dass die Zeugin möglicherweise aufgrund der Erinnerung an die Fotos auf den Umstand der längeren Haare gekommen ist. Insoweit ist jedoch zu berücksichtigen, dass diese Fotos den Angeklagten während des Jahres 2000 zeigen.
Die Beweiswürdigung des Amtsgerichts verstößt gegen § 261 StPO. Das Amtsgericht hat seiner Beweiswürdigung nämlich Fotos zugrunde gelegt, ohne diese ausweislich des Sitzungsprotokolls jedoch in Augenschein genommen zu haben.
Die Einnahme eines Augenscheins ist eine wesentliche Förmlichkeit, deren Beurkundung durch § 273 Abs. 1 StPO vorgeschrieben ist. Schweigt wie vorliegend das Protokoll über die Einnahme eines Augenscheins, so gilt diese wegen der Beweiskraft des Protokolls nach § 274 StPO als nicht erfolgt (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 274 Rdnr. 14; BGH, NStZ 1993, 51,52).
Diese Beweiskraft gilt nur dann nicht, wenn das Protokoll offensichtliche Widersprüche oder Lücken aufweist, die sich aus ihm selbst heraus ergeben. Dann kann das Revisionsgericht das Protokoll im Wege des Freibeweises ergänzen (vgl. BGH,a.a.O.). Solche Widersprüche und Lücken sind hier aber nicht ersichtlich.
Es kann nach der Urteilsbegründung auch ausgeschlossen werden, dass die Lichtbilder auf andere Weise als durch Augenscheinseinnahme, etwa auf einen Vorhalt hin, in die Hauptverhandlung eingeführt worden sind.
Der Formulierung des Amtsgerichts, dass die Fotos, wie sie der Zeugin im Rahmen der Wahllichtbildvorlage gezeigt wurden, den Angeklagten ebenfalls mit längeren Haaren zeigen kann nämlich nur entnommen werden, dass sich zwar das Gericht die Fotos angesehen, diese aber nicht, wie im Übrigen auch in der Revisionsbegründungsschrift vorgetragen, durch Vorhalt eingeführt hat.
Das Urteil beruht auch ersichtlich auf dieser Gesetzesverletzung.
2. Die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils ist auch im Übrigen nicht frei von Rechtsfehlern.
Zwar prüft das Revisionsgericht insoweit nur, ob die Beweiswürdigung Widersprüche, Lücken oder Unklarheiten aufweist, Verstöße gegen Denkgesetze, Erfahrungssätze oder gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse enthält oder die erhobenen Beweise nicht erschöpfend gewürdigt sind. Das angefochtene Urteil enthält aber Lücken in der Darstellung.
Der Angeklagte bestreitet die gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Das Amtsgericht stützt seine Verurteilung auf die Angaben der Zeugin S. gestützt, die die Wegnahme durch den Angeklagten jedoch nicht beobachtet hat. Vielmehr zieht das Amtsgericht aus der Tatsache, dass sich der Angeklagte nach den Angaben der Zeugin auf dem Weg aus dem Lager des Geschäfts befand, als ihm diese entgegen kam, den Schluss, er sei auch in dem Aufenthaltsraum gewesen, in dem der Diebstahl stattgefunden hat.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat hierzu in ihrer Stellungnahme vom 13. Mai 2003 Folgendes ausgeführt:
Die richterliche Überzeugung davon, dass der Angeklagte den Diebstahl der Geldbörse und des Mobiltelefons der Zeugin S. begangen hat, beruht nicht auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage. Die gezogenen Schlussfolgerungen brauchen zwar nicht zwingend zu sein (OLG Hamm, 4 Ss 60/96). Die in den Urteilsgründen geschilderten Umstände des Antreffens des Angeklagten durch die Zeugin lassen insoweit aber allenfalls den Schluss zu, dass der Angeklagte sich unberechtigt in den Räumlichkeiten des Geschäfts aufgehalten hat, die nicht für den Zutritt durch Kunden bestimmt waren. Indes lässt sich hieraus nicht die gesicherte Erkenntnis gewinnen, dass der Angeklagte auch den ihm zur Last gelegten Diebstahl begangen hat.
Der Tatrichter darf sich nicht so sehr von einer festen Tatsachengrundlage entfernen, dass die Schlussfolgerungen letztlich auf Vermutungen beruhen (Meyer-Goßner, 46. Auflg., § 261 Rdnr. 38 m.w.N.). Dies gilt aber für den Schluss, dass der Angeklagte den Diebstahl ausgeführt habe.
Das Tatgericht ist zwar auch in Fällen schwieriger Beweiswürdigung nicht verpflichtet, sämtliche zur Überzeugungsbildung führenden Beweisgründe und dabei mitspielenden Umstände lückenlos im Urteil wiederzugeben. Soweit Lücken in der Darstellung der Beweiswürdigung beanstandet werden, hat eine solche Rüge jedoch dann Erfolg, wenn naheliegende Gesichtspunkte nicht beachtet wurden (vgl. BGH, 3. Strafsenat, Beschluss vom 04. Juli 1997, Az: 3 StR 520/96 in NStZ-RR 1998, 17).
So ist dem Urteil nicht zu entnehmen, wann die entwendeten Gegenstände zuletzt gesehen wurden. Für den möglicherweise beträchtlichen Zeitraum zwischen Ablage und Verlust der Gegenstände kann zugunsten des Angeklagten nicht ausgeschlossen werden, dass auch andere Personen Zugriff auf diese Gegenstände hatten oder dass diese Gegenstände auf andere Art abhanden gekommen sein könnten.
Diese naheliegenden Möglichkeiten erwägt das Tatgericht nicht.
Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat nach eigenständiger Prüfung an. Das Amtsgericht hätte zumindest noch Feststellungen dazu treffen müssen, ob, nachdem die Zeugin die entwendeten Gegenstände in dem Aufenthaltsraum abgelegt hatte, vor dem Angeklagten noch weitere Personen diese Räumlichkeit aufgesucht haben.
Das angefochtene Urteil konnte nach alledem keinen Bestand haben, so dass es mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung auch über die Kosten des Rechtsmittels - an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Recklinghausen zurückzuverweisen war (§ 354 Abs. 2 StPO).
Es ist nicht auszuschließen, dass doch noch Feststellungen getroffen werden können, die einen Schuldspruch wegen Diebstahls rechtfertigen.
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