Aktenzeichen: 2 Ss 612/99
Leitsatz: 1. Zur Frage, wann im Rahmen der Rüge der Verletzung des § 261 StPO der Nachweis geführt ist, daß die im Urteil getroffenen Feststellungen nicht durch die in der Hauptverhandlung verwendeten Beweismittel oder sonst durch Vorgänge, die zum Inbegriff der Hauptverhandlung gehören, gewonnen worden sind.
2. Zur Frage der Umgehung einer zugesicherten Wahrunterstellung.
Senat: 2
Gegenstand: Revision
Stichworte: Feststellungen, aus Hauptverhandlung gewonnen, Wahrunterstellung, keine Rekonstruktion der Beweisaufnahme
Normen: StPO 261, StPO 244 Abs. 3
Fundstelle: VRS 98, 30; StraFo 1999, 306
Beschluss: OLG Hamm, Beschluß vom 28.06.1999 (2 Ss 612/99)
Der Angekl., der sich in vorliegender Sache seit dem 14.07.1998 - unterbrochen durch rund zweieinhalb Monate Verbüßung von Ersatzfreiheitsstrafen - in Untersuchungshaft befindet, ist durch Urteil des AG - Schöffengerichts - Bochum vom 04.09.1998 wegen sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt worden. Von dem weiteren Vorwurf einer am 21.04.1998 gegen 07.00 Uhr in der Robertstraße in B zum Nachteil der Zeugin begangenen sexuellen Nötigung wurde er freigesprochen.
Durch das angefochtene Urteil wurde die Berufung des Angekl. verworfen.
Nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils griff der Angekl. der Zeugin T im Hausflur des Hauses B-straße 46 in Bochum am 08.07.1998 um 07.30 Uhr mit einer Hand von hinten im Scheidenbereich zwischen die Beine und umklammerte sie mit der anderen Hand im Oberkörperbereich. Die Zeugin T wand sich eine Zeitlang verzweifelt unter seinem Griff, konnte aber nicht loskommen. Sie wandte sich um und schlug ihm ihre Faust ins Gesicht, während sie nunmehr laut um Hilfe schrie. Währenddessen schaute ihr der Angekl. stumm ins Gesicht, hielt sie weiterhin mit beiden Armen umklammert und betastete mit einer Hand ihre Brust.
Mit seiner hiergegen gerichteten form- und fristgerecht eingelegten und begründeten Revision rügt der Angekl. mit näheren Ausführungen die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Die GeneralStA hat ihren Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Urteils wie folgt begründet:
"a) Verstoß gegen § 261 StPO
Die Rüge ist in zulässiger Form erhoben worden.
Die Rüge hat auch in der Sache Erfolg. Grundsätzlich verspricht die Rüge des § 261 StPO nur dann Erfolg, wenn ohne Rekonstruktion der Beweisaufnahme der Nachweis geführt werden kann, daß die im Urteil getroffenen Feststellungen nicht durch die in der Hauptverhandlung verwendeten Beweismittel und nicht durch Vorgänge gewonnen worden sind, die zum Inbegriff der Hauptverhandlung gehören (zu vgl Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl, § 261 Rdn 38 a). In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist dies z.B. angenommen worden, wenn der Wortlaut einer in der Hauptverhandlung verlesenen Urkunde im Urteil unrichtig wiedergegeben worden ist (zu vgl BGH NJW 1997, S 3182 m.w.N.).
Im vorliegenden Fall hat das LG Bochum in den Urteilsgründen u.a. ausgeführt: Am 18.09.1997 hielt sich die 37 Jahre alte Frau S-K um 15.35 Uhr zusammen mit ihrer dreijährigen Tochter auf einem Spielplatz in Essen auf. Der Angekl. stellte sich auf einem angrenzenden Fußweg in ca. 4 Metern Entfernung vor ihr auf und onanierte an seinem entblößtem Geschlechtsteil,
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wobei er sie anblickte. Die Frau erschrak und verließ mit ihrer Tochter fluchtartig den Spielplatz, wobei ihr der Angekl. eine kurze Strecke folgte. Der Angekl. trug eine weiße Hose und ein weißes Oberteil, vermutlich Malerbekleidung.
Aus dem Hauptverhandlungsprotokoll ergibt sich, daß der Angekl. sich nicht zur Sache geäußert hat.
Zeugen des Verfahrens 7 Js 668/97 StA Essen (Geschädigte oder Vernehmungsbeamte), in welchem die o.g. Feststellungen ursprünglich getroffen worden sind, sind im vorliegenden Verfahren nicht gehört worden. Weitere Aktenbestandteile dieses Verfahrens sind nicht verlesen worden. Die Tatsache, daß der Angekl. bei der Tat, die zum Urteil des AG Essen vom 11.02.1998 führte, Malerkleidung, d.h. eine weiße Hose und ein weißes Oberteil getragen hat, steht weder im in der Hauptverhandlung verlesenen Urteil noch im ebenfalls verlesenen Bundeszentralregisterauszug.
Auch der im Hauptverhandlungsprotokoll aufgeführte Satz: "Der Inhalt wurde erörtert" läßt nicht den Schluß zu, daß die vom Täter getragene Kleidung innerhalb dieser Erörterung zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden ist. Es ist ausdrücklich festgestellt, daß nur der Inhalt des Urteils erörtert worden ist. Inhalt des Urteils ist die Frage der Kleidung des Angekl. gerade nicht. Damit kann ausgeschlossen werden, daß die Frage der Kleidung des Angekl., die er am 18.09.1997 getragen hat, auf Feststellungen beruht, die das Gericht im Rahmen der Hauptverhandlung gewonnen hat. Hierin liegt - wie die Revision zu Recht ausführt - ein Verstoß gegen § 261 StPO. Auf diesem Verstoß beruht auch das Urteil.
Die Verteidigung hat von vornherein zu beweisen versucht, daß nicht der Angekl., sondern ein unbekannter Dritter, der dem Angekl. ähnlich sieht und der ebenfalls in Malerkleidung auftritt, die dem Angekl. zur Last gelegte Tat begangen hat. In diese Richtung zielten sämtliche von der Verteidigung erhobenen Beweisanträge. Das Gericht hat in den Urteilsgründen diese mögliche Täterschaft eines Dritten ausschließen wollen. Mitentscheidend bei der Rechtsfindung des Gerichts war mithin die Tatsache, daß der Angekl. eine andere sexuell motivierte Straftat in Malerkleidung begangen hat, die Tat ihm also nicht wesensfremd ist und er auch diesbezüglich bereits verurteilt worden ist.
b) Rüge der nicht eingehaltenen Wahrunterstellung
In der Berufungshauptverhandlung am 08.01.1999 hat die Verteidigung einen Hilfsbeweisantrag für den Fall der Verurteilung des Angekl. gestellt, der folgenden Wortlaut hat: Sollte das Gericht Herrn B nicht freisprechen, beantrage ich für diesen Fall die Zeugin B W, H St, B zum Beweis dafür zu vernehmen, daß sie am 21.04.1998 gegen 07.30 Uhr in Bochum von einer männlichen Person von hinten umfaßt worden und ihr der Täter mit einer Hand an die Brust, mit der anderen Hand zwischen die Beine griff und sich anschließend wortlos entfernte, den sie wie folgt beschrieb: Mitte 20, Brille mit großen Gläsern, kurze blonde Haare, weiße Latzhose, heller Pulli oder T-Shirt.
Zum Beweis dafür, daß Herr B am 21.04.1998 in der Zeit von 07.00 Uhr bis 16.00 Uhr am Arbeitsplatz auf der Baustelle G 14-18 in Bochum tätig war, den Zeugen K-G R, Th-I-Str. 2, B zum Vernehmen sowie die bereits zur Gerichtsakte gereichte Durchschrift des Zeitnachweises vom 24.04.1998 der Firma PPA und Pünktlich Arbeitnehmerüberlassung GmbH als Urkunde zum Beweis dafür zu verlesen, daß für den 21.04.1998 eine Arbeitsdauer von 07.00 Uhr bis 16.00 Uhr eingetragen und mit den Unterschriften des Herrn B sowie des Herrn R versehen wurde." Diesen Beweisantrag hat die Kammer im Urteil wie folgt beschieden:
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"Sofern der Verteidiger behauptet hat, der Zeuge R werde anhand des vom Zeugen und vom Angekl. unterzeichneten Zeitnachweis bekunden, der Angekl. habe sich von 07.00 Uhr bis 16.00 Uhr am Arbeitsplatz auf der Baustelle G in Bochum aufgehalten, kann die Beweisbehauptung als wahr unterstellt werden. Danach bleibt immer noch die Möglichkeit offen, daß es dem Angekl. gelungen ist, kurze Zeit nach Arbeitsbeginn unbemerkt von der Arbeitsstelle zu verschwinden, die Straftat zu begehen und ebenso unbemerkt an den Arbeitsplatz zurückzukehren." Damit hat das LG Bochum die unter Beweis gestellten Tatsachen als wahr unterstellt, diese Wahrunterstellung jedoch nicht eingehalten.
Die formelle Rüge der Revision hat daher Erfolg und muß zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen.
Wird eine vom Angekl. behauptete Tatsache als wahr unterstellt und mit dieser Begründung ein entsprechender Beweisantrag des Angekl. abgelehnt, womit inzidenter zum Ausdruck gebracht wird, die zugunsten des Angekl. entlastende Beweiserhebung sei überflüssig, muß im Urteil nach übereinstimmender Meinung in Literatur und obergerichtlicher Rechtsprechung, die der ständigen Rechtsprechung auch des OLG Hamm entspricht, die behauptete Tatsache in ihrem wirklichen Sinn ohne jede Einengung, Verschiebung oder sonstige Änderung als wahr behandelt werden. Maßgeblich sind Sinn und Zweck des Antrages, wie er nach dem Gesamtvorbringen des Antragst. in der Hauptverhandlung zu beurteilen ist. Insbesondere dürfen die Urteilsfeststellungen der Wahrunterstellung nicht widersprechen (zu vgl Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl, § 244 Rdn 71, OLG Hamm, Beschluß vom 15.05.1998, 2 Ss 601/98).
Zwar hat der Verteidiger wörtlich formuliert, daß der Angekl. zur Zeit der Straftat zum Nachteil der Zeugin W am Arbeitsplatz auf der Baustelle G 14-18 in Bochum tätig war. Damit hat er nicht ausdrücklich erklärt, der Angekl. sei zwischen 07.00 und 16.00 Uhr dauernd auf der Baustelle anwesend gewesen. Nach Sinn und Zweck des Antrages in seiner Gesamtheit, kann der Antrag jedoch nur so aufgefaßt werden, daß für die in Rede stehende Straftat zum Nachteil der Zeugin W am 21.04.1998 gegen 07.30 Uhr der Angekl. deshalb nicht der Täter sein kann, weil er für diese Zeit über ein Alibi verfügt. Dieses Alibi sollte durch den Zeugen R und die als Beweismittel angebotene Urkunde (Zeitnachweis) bestätigt werden. Wenn diese unter Beweis gestellten Tatsachen als wahr unterstellt werden, ist es rechtsfehlerhaft, wenn das LG in den Urteilsgründen wiederum die Möglichkeit eröffnet, der Angekl. habe sich unbemerkt von der Arbeitsstelle entfernen können, um die Straftat zu begehen. Anschließend sei er dann möglicherweise wieder unbemerkt auf der Baustelle erschienen. Damit wird die zugesicherte Wahrunterstellung ausgehöhlt und mithin nicht eingehalten.
Auf diesem rechtlichen Mangel beruht auch das Urteil. Für die Beweiswürdigung des LG war es von entscheidender Bedeutung, daß nach der Überzeugung der Kammer auszuschließen ist, daß ein Dritter, dem Angekl. nämlich ähnlich sehender und mit Malerbekleidung bekleideter Täter diese Straftaten begangen hat. Die Verteidigung war von vornherein bemüht, die Zweifel an der Täterschaft des Angekl. dadurch zu begründen, daß sie die Möglichkeit aufzeigte, daß ein anderer Täter sein konnte und somit eine Verwechslung vorliegt. Daß die Kammer die unter Beweis gestellten Tatsachen für relevant gehalten hat, ergibt sich auch schon daraus, daß sie die Wahrunterstellung mit dem von der Revision gerügten Kunstgriff wieder umgangen hat.
Auf die Zulässigkeit und Begründetheit der weiteren Verfahrensrügen kommt es nicht an. Auch die Frage der Begründetheit der Sachrüge kann dahinstehen, weil die vorgenannten Rügen bereits zur Aufhebung des gesam-
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ten Urteils nötigen (zu vgl Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl, § 352 Rdn 10, 11)."
Diesen zutreffenden Ausführungen tritt der Senat bei und vermag ebenfalls nicht auszuschließen, daß das angefochtene Urteil trotz zahlreicher aufgezeigter gewichtiger Indizien für die Täterschaft des Angekl. am 08.07.1998 auf den genannten Rechtsfehlern beruht.
Dies gilt auch insoweit, als der Hilfsbeweisantrag und die Wahrunterstellung betreffend den Vorfall zum Nachteil der Zeugin W am 21.04.1998 von einer Tatzeit gegen 07.30 Uhr ausgeht, der wahre Tatzeitpunkt laut Anklage aber um 07.00 Uhr liegt.
Das angefochtene Urteil war somit mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache gemäß § 354 Abs 2 StPO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des LG Bochum zurückzuverweisen.
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