Aktenzeichen: 2 Ss 1075/98 OLG Hamm
Leitsatz: Dem Gesetzeswortlaut des § 140 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO: "namentlich" - also "vorwiegend" oder "in erster Linie" läßt sich entnehmen, daß in den Fällen, in denen dem Verletzten nach §§ 397a, 400g Abs.3, 4 StPO ein Rechtsanwalt als Beistand beigeordnet worden ist, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers für den Beschuldigten der zwingende Grundsatz sein wird, wovon nur in Ausnahmefällen wird abgesehen werden können.
Auf die (Sprung-)Revision des Angeklagten vom 23.03.1998 gegen das Urteil des Amtsgerichts Dortmund vom 19.03.1998 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 08.09.1998 nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gem. § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:
Das angefochtene Urteil wird mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Dortmund zurückverwiesen.
Gründe: I. Das Amtsgericht hat den Angeklagten im angefochtenen Urteil "wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, davon in einem Fall, bei dem es beim Versuch blieb, in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, sowie wegen Bedrohung und vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 10 Monaten verurteilt". Hiergegen wendet sich die (Sprung-) Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat keinen Antrag gestellt.
II. Die formelle Rüge des Angeklagten hat - zumindest vorläufigen - Erfolg.
Der Angeklagte macht mit seiner in zulässiger Form erhobenen Verfahrensrüge zu Recht den absoluten Revisionsgrund der §§ 140 Abs. 2, 338 Nr. 5 StPO geltend, weil die Hauptverhandlung gegen ihn ohne den Beistand eines Verteidigers und somit in Abwesenheit einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat. Insoweit ist es unerheblich, daß der Angeklagte in der Hauptverhandlung am 19.03.1998 die Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht beantragt hat und somit die Notwendigkeit der Verteidigung nicht festgestellt ist. Denn der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO gilt auch dann, wenn die Voraussetzungen der Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO vorliegen, ein Verteidiger aber nicht bestellt worden ist (vgl. Laufhütte in Karlsruher Kommentar zur StPO, 3. Aufl., § 140 Rn. 27 m.w.N.).
Die Mitwirkung eines Verteidigers war in der Hauptverhandlung am 19.03.1998 gem. § 140 Abs. 2 StPO notwendig, weil der Angeklagte vorliegend unfähig war, sich selbst zu verteidigen. Die erforderliche Mitwirkung eines Verteidigers wegen Unfähigkeit der Selbstverteidigung ergibt sich vorliegend aus § 140 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO. Danach ist einem Angeklagten dann ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn ersichtlich ist, daß er sich nicht selbst verteidigen kann, namentlich, weil dem Verletzten nach §§ 397 a, 400 g Abs. 3, 4 StPO ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist. Insbesondere in diesen Fällen geht das Gesetz, was der Regelung in § 140 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO entnommen werden kann, davon aus, daß ein Angeklagter in seiner Fähigkeit, sich selbst zu verteidigen erheblich beeinträchtigt sein kann. Dies beruht darauf, daß er sich einem am Verfahren beteiligten Verletzten gegenübersieht, der sich des fachkundigen Rates eines Rechtsanwalts bedienen kann (Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 43. Aufl., § 140 Rn. 31).
Vorliegend hat das Amtsgericht durch Beschluß vom 27.01.1998 einen der durch eines der dem Angeklagten zur Last gelegten Körperverletzungsdelikte Geschädigten als Nebenkläger zugelassen und diesem sodann durch Beschluß vom 06.02.1998 Prozeßkostenhilfe bewilligt und ihm zur vorläufigen unentgeltlichen Wahrnehmung seiner Rechte einen Rechtsanwalt beigeordnet. Damit sind die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO erfüllt, so daß dem Angeklagten ein Pflichtverteidiger beizuordnen.
Es sind vorliegend keine Gründe erkennbar, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, von diesem Erfordernis abzusehen. Zwar wird nicht unbedingt in jedem Fall die Beiordnung eines Verletztenbeistands die Beiordnung eines Pflichtverteidigers für den Angeklagten wegen "Unfähigkeit der Beiordnung" nach sich ziehen (so offenbar auch Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O.). Dem Gesetzeswortlaut: "namentlich" - also "vorwiegend" oder "in erster Linie" -, läßt sich jedoch entnehmen, daß in diesen Fällen der Beiordnung eines Beistands für den Verletzten die Beiordnung eines Pflichtverteidigers für den Angeklagten der zwingende Grundsatz sein, wovon nur in Ausnahmefälle wird abgesehen werden können. Hier sind jedoch keine besonderen Umstände ersichtlich, die es ausnahmsweise gerechtfertigt erscheinen lassen könnten, daß dem Angeklagten ein Pflichtverteidiger nicht beigeordnet worden ist. Es handelt sich um insgesamt vier Taten, die dem Angeklagten zur Last gelegt werden und bei denen die Anwendung des § 21 StGB in Betracht kommt. Von Belang ist außerdem, ob die vom Amtsgericht dem Angeklagten vorgeworfenen Voreintragungen ihm überhaupt noch vorgehalten werden konnten oder ob das nicht mehr zulässig war, weil die entsprechenden Eintragungen im Bundeszentralregister bereits tilgungsreif waren. Entscheidend ist jedoch, daß das Amtsgericht gegen den Angeklagten eine Freiheitsstrafe von 10 Monaten, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist, festgesetzt hat. Damit bewegt sich die für den Angeklagten zu erwartende Rechtsfolgenentscheidung in einem Bereich, in dem möglicherweise allein schon deshalb wegen "Schwere der Tat" im Sinn des § 140 Abs. 2 Halbsatz 1 StPO ein Pflichtverteidiger beizuordnen gewesen wäre (vgl. dazu die Zusammenstellung der Rechtsprechung bei Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 1997, Rn. 602 ff. mit weiteren Nachweisen; siehe u.a. auch die Beschlüsse des Senats vom 21.02.1995 - 2 Ss 136/95, vom 11.09.1995 - 2 Ss 1018/95 - und vom 05.05.1998 - 2 Ss OWi 511/98, jeweils mit weiteren Nachweisen). Wenn dann auch noch der Verletzte durch einen Rechtsanwalt beraten und vertreten wird, macht das nach Auffassung des Senats auf jeden Fall die Beteiligung eines Pflichtverteidigers auf Seiten des Angeklagten erforderlich.
Da somit bereits aus diesem Grund die Mitwirkung eines Verteidigers für den Angeklagten erforderlich war, kann dahinstehen, ob auch die "Schwere der Tat" und/oder die "Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage" ggf. gemäß § 140 Abs. 2 Halbsatz 1 StPO die Beteiligung eines Pflichtverteidigers geboten.
Da nach allem damit das angefochtene Urteil schon wegen des dargelegten Verstoßes gegen § 140 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO aufzuheben war, kam es auf die im übrigen vom Angeklagten erhobene allgemeine Sachrüge nicht mehr an. Vielmehr war schon auf die formelle Rüge hin das Urteil mit den der Verurteilung zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen aufzuheben und die Sache gem. §§ 349 Abs. 4, 353, 354 Abs. 2 StPO zu erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Dortmund, die auch über die Kosten der Revision zu entscheiden haben wird, zurückzuverweisen.
III. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat vorsorglich auf folgendes hin:
1. Die dem Angeklagten vorgehaltenen Voreintragungen dürften der fünfjährigen Tilgungsfrist nach § 46 Abs. 1 Nr. 1 a BZRG unterliegen und, da die letzte Verurteilung nach den vom Amtsgericht dazu getroffenen Feststellungen vom 10.11.1992 datiert, inzwischen gem. §§ 47 Abs. 1, 35, 36 BZRG tilgungsreif sein. Damit hätten die Voreintragungen nach § 51 Abs. 1 BZRG nicht mehr gegen den Angeklagten verwertet werden dürfen.
2. Das angefochtene Urteil hat hinsichtlich der versuchten gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte eine Freiheitsstrafe von vier Monaten, hinsichtlich der Bedrohung des Polizeibeamten Gerber eine solche von einem Monat sowie hinsichtlich der Körperverletzung dieses Polizeibeamten eine weitere Freiheitsstrafe von zwei Monaten festgesetzt, ohne sich damit, was gemäß § 47 StGB erforderlich gewesen wäre, auseinander zu setzen, warum die Festsetzung dieser geringfügigen Freiheitsstrafen zur Verteidigung der Rechtsordnung oder zur Einwirkung auf den Angeklagten unerläßlich war.
3. Bei der neu vorzunehmenden Strafzumessung wird der dazu dann berufene Tatrichter sorgfältig zu prüfen haben, inwieweit ggf. mit weiteren gegen den Angeklagten festgesetzten Freiheitsstrafen - das Amtsgericht erwähnt in seinen Feststellungen das "umfangreiche Strafverfahren (zusammengefaßt unter 92 Ds 62 Js 499/95 - 535/95)" gemäß § 55 StGB eine oder mehrere Gesamtfreiheitsstrafen zu bilden sind. Dies hat grundsätzlich der Tatrichter vorzunehmen (vgl. dazu nur den Beschluß des Senats vom 28.04.1995 - 2 Ss 411/95).
4. Schließlich bestehen auch hinsichtlich der bislang zur Strafzumessung, insbesondere zur Frage der Möglichkeit einer Strafaussetzung zur Bewährung gem. § 56 StGB, getroffenen tatsächlichen Feststellungen aus Rechtsgründen Bedenken. Abgesehen davon, daß dem Angeklagten die vom Amtsgericht festgestellten Voreintragungen wegen Tilgungsreife in diesem Zusammenhang nicht mehr vorgehalten werden dürfen, sind die bislang getroffenen Feststellungen nämlich lückenhaft. Insoweit weist die Revision zutreffend darauf hin, daß es nicht ausreicht, lediglich zu erwähnen, daß gegen den Angeklagten wegen ähnlicher Taten bereits früher ein umfangreiches Strafverfahren eingeleitet worden ist. Vielmehr müssen Feststellungen zu den dort den Verfahrensgegenstand bildenden Taten zumindest in einem solchen Umfang getroffen werden, daß es dem Revisionsgericht möglich ist zu beurteilen, ob dieses Verfahren nach Gegenstand und zeitlichem Ablauf überhaupt einen Warneffekt für den Angeklagten haben konnte (zur Berücksichtigung von Vorstrafen und Vortaten allgemein siehe Tröndle, StGB,, 48. Aufl., § 46 StGB, Rn. 24 a ff.).
Schließlich dürfte sich für die neue Hauptverhandlung eine Auseinandersetzung damit empfehlen, daß in der Vergangenheit bislang gegen den Angeklagten eine Freiheitsstrafe noch nicht festgesetzt worden ist. Damit handelt es sich vorliegend um die erste gegen den Angeklagten festgesetzte Freiheitsstrafe. Das dürfte eine sehr sorgfältige Prüfung der sog. günstigen Sozialprognose des § 56 Abs. 1 StGB erfordern. Sollte das Amtsgericht danach zu dem Schluß kommen, daß trotz einer ggf. günstigen Sozialprognose eine festzusetzende Freiheitsstrafe gem. § 56 Abs. 3 StGB nicht zur Bewährung ausgesetzt werden kann, wird es diese Entscheidung unter Beachtung der dazu von der obergerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze (vgl. dazu Tröndle, a.a.O., § 56 StGB Rn. 10 mit weiteren Nachweisen) eingehend zu begründen haben. Diese Begründung läßt die angefochtene Entscheidung bisher vermissen. Die dazu vom Amtsgericht gemachten Ausführungen: "Die Vollstreckung der Strafe ist mithin zur Einwirkung auf den Angeklagten unumgänglich", sind bloß floskelhaft.
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