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Rechtsprechung


Aktenzeichen: 2 Ss OWi 470/04 OLG Hamm

Leitsatz: Stützt der Tatrichter den Schuldspruch auf ein Sachverständigengutachten, so ist in den Urteilsgründen eine verständliche und in sich geschlossene Darstellung der dem Gutachten zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen, der wesentlichen Befundtatsachen und der das Gutachten tragenden fachlichen Begründung erforderlich.

Senat: 2

Gegenstand: Rechtsbeschwerde

Stichworte: Sachverständigengutachten; Anknüpfungstatsachen; Mitteilung im Urteil; Täteridentifizierung; Lichtbild

Normen: StPO 267

Beschluss: Bußgeldsache
gegen H.R.
wegen fahrlässiger Verkehrsordnungswidrigkeit.

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen vom 23. April 2004 gegen das Urteil des Amtsgerichts Herne-Wanne vom 22. April 2004 hat der 2. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Hamm am 02. 09. 2004 durch den Richter am Oberlandesgericht Burhoff (als Einzelrichter gem. § 80 a OWiG) nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gem. §§ 79 Abs. 3, 6 OWiG, 349
Abs. 4 StPO beschlossen:

Das Urteil des Amtsgerichts Herne-Wanne vom 23. April 2004 wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Herne-Wanne zurückverwiesen.

Gründe:

I.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen einer fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße von 170 € verurteilt und außerdem ein Fahrverbot von einem Monat verhängt. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das angefochtene urteil aufzuheben.

II.
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache - zumindest vorläufig - Erfolg.

Das Amtsgericht hat folgende tatsächliche Feststellungen getroffen:

„Am 16.5.2003 gegen 9.50 Uhr befuhr der Betroffene mit dem Pkw, Fabrikat Audi, mit dem amtlichen Kennzeichen XXXXXX die BAB 42, Fahrtrichtung Dortmund, in Herne. Zu dieser Zeit führten Beamte der Autobahnpolizei Münster bei KM 42,35 mit dem Messgerät MU VR 6 F der Firma Robot, das bis zum 31.12.2004 geeicht war, eine gezielte Geschwindigkeitsüberwachung über die Einhaltung der an dieser Stelle durch Verkehrszeichen 274 angeordneten zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h durch. Dabei wurde der von dem Betroffenen gesteuerte Pkw mit einer Geschwindigkeit von 152 km/h gemessen.“

Der Betroffene hat bestritten, im Zeitpunkt des festgestellten Verkehrsverstoßes Fahrer des Pkw gewesen zu sein. Das Amtsgericht hat ein Sachverständigengutachten eingeholt und den Sachverständigen in der Hauptverhandlung vernommen. Auf das vom Verkehrsverstoß gefertigte Lichtbild ist im angefochtenen urteil nicht Bezug genommen worden. Seine Überzeugung von der Täterschaft des Betroffenen hat der Tatrichter wie folgt begründet:

„Der Betroffene hat sich jedoch dahin eingelassen, zum Zeitpunkt der Geschwindigkeitsmessung das Fahrzeug nicht geführt zu haben. Auf dem Beweisfoto könne er sich nicht erkennen. Als Fahrer kämen mehrere seiner Mitarbeiter in Betracht. Er könne jedoch keinen anderen Verdächtigen konkret benennen.

Zur Klärung der Frage, ob der Betroffene Fahrer des oben genannten Pkw zur Tatzeit gewesen ist, welches ihm als Firmenfahrzeug zur Verfügung steht, hat das Gericht neben der Inaugenscheinnahme des Betroffenen, der erhebliche Ähnlichkeit mit der Person aufweist, die auf dem Radarfoto abgebildet ist, zur Ausschließung letzter Zweifel einen Sachverständigen für anthropologische Vergleichsgutachten beauftragt.

In der Hauptverhandlung ist der Sachverständige Dr. Cornelius Schott zu dem Ergebnis gekommen, daß der Betroffene ohne jeden Zweifel der verantwortliche Fahrzeugführer gewesen ist. Der Sachverständige hat dabei diverse spezifische Merkmale der Person auf dem Lichtbild in Vorbereitung des Termins erfaßt und diese mit dem Betroffenen im Rahmen der Hauptverhandlung gegenübergestellt. Dabei hat sich nicht in einem einzigen Punkt eine Abweichung zwischen den Personen ergeben.

Die wichtigsten Punkte lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

Stirnbereich:
freie Stirn, Haaransatz liegt weit

zurück

Augenbrauen (links):
geringe Dichte

Oberlidregion:
Abstand zwischen Augenbraue und

Augenebene gering

Nasenrückenprofilierung:
geradlinige Form, Nasenkuppe nicht

verbreitert

Hautoberlippe:
Nasenlippenfurchen stark

ausgeprägt, Lippenrotanteil unten

stärker betont

Hautunterlippe:
Kinnlippenfurche vorhanden

Kinnregion:
breiter Kinnvorderrandverlauf, Kinn

steht deutlich nach vorn vor

Wangenbeine:
seitlich deutliche Betonung,

Hervorspringen

Gesichtsform:
Rautenform

Ohr:
oberer Bogen engbogig, absteigender

Teil verläuft geradlinig,

Ohrläppchenzone schräg zur

Wangenhaut

Der Sachverständige hat ausgeführt, dass sich bei keinem Merkmal eine irgendwie geartete Abweichung ergeben hätte. Bei fremden Personen wären jedoch solche von 80 % und bei engen Blutsverwandten solche von mindestens 30% zu erwarten gewesen.

Zu seiner Methodik hat er ausgeführt, er werte die ihm zur Verfügung gestellten Lichtbilder unter Zuhilfenahme verschiedener technischer Hilfsmittel wie Lupe und Epidiaskop aus. Das ihm zur Verfügung gestellte Bildmaterial sei von auswertbarer Qualität. Von der Gesichtskontur seien genügend Einzelheiten abzunehmen gewesen. Nach Auswertung der Bilder werde eine jederzeit nachvollziehbare Merkmalserfassung erstellt. Bei der Gegenüberstellung in der Hauptverhandlung versuche er dann, die zuvor festgestellten Merkmale bei der lebenden Person wiederzufinden. Dies sei vorliegend zu 100% möglich gewesen. Das Gericht hat sich dieser Einschätzung des Sachverständigen, dessen Sachkunde unzweifelhaft ist, angeschlossen.“

Diese Ausführungen werden - worauf die Generalstaatsanwaltschaft mit der Rechtsbeschwerde zutreffend hinweist - den Anforderungen, die die obergerichtliche Rechtsprechung an die Begründung des tatrichterlichen Urteil stellt, wenn dieser den Schuldspruch auf ein Sachverständigengutachten stützt, nicht gerecht. Die Generalstaatsanwaltschaft hat ihren Aufhebungsantrag wie folgt begründet:

„Das angefochtene Urteil entspricht bei der auf die erhobene allgemeine Sachrüge gebotenen Überprüfung auf Rechtsfehler in seiner Begründung nicht den Anforderungen, die nach der obergerichtlichen Rechtsprechung an die Darstellung der Identifizierung des Betroffenen anhand eines bei einer Verkehrsüberwachung gefertigten Beweisfotos zu stellen sind.

Stützt der Tatrichter seine Überzeugung von der Täterschaft des Betroffenen auf dessen Inaugenscheinnahme im Hauptverhandlungstermin und die Feststellungen eines Sachverständigen für anthropologische Vergleichsgutachten, ist in den Urteilsgründen eine verständliche und in sich geschlossene Darstellung der dem Gutachten zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen, der wesentlichen Befundtatsachen und der das Gutachten tragenden fachlichen Begründung erforderlich. Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Vielmehr sind die Urteilsgründe in dieser Hinsicht lückenhaft (§ 267 StPO) und ermöglichen daher nicht die Prüfung, ob die vom Amtsgericht getroffene Feststellungen frei von Rechtsfehlern sind.

Zwar gibt das Urteil die Befundtatsachen des Gutachtens und die es tragende fachliche Begründung in ausreichendem Maße wieder. Indessen fehlt es an einer geschlossenen Darstellung der dem Gutachten zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen. Das Urteil lässt lediglich erkennen, dass Grundlage für die tatrichterliche Überzeugungsbildung auch die - für die Erstellung des Vergleichsgutachtens erforderliche - Inaugenscheinnahme des Beweisfotos war. Es fehlt jedoch insoweit an einer wirksamen Bezugnahme auf das Messfoto gem. § 267 Abs. 1 S. 3 StPO i.V.m. § 71 Abs. 1 OWiG, die deutlich und zweifelsfrei zum Ausdruck gebracht werden muss (BGHSt 41, 377, 382). Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil nicht, da es weder wegen der Einzelheiten auf das Messfoto Bezug nimmt, noch Ausführungen zur Bildqualität und zur Beschreibung der abgebildeten Person in einem Umfang enthält, die dem Rechtsbeschwerdegericht in gleicher Weise wie bei der Betrachtung des Fotos die Prüfung ermöglicht, ob dieses zur Identifizierung generell geeignet ist. Eine solche Darlegung ist bereits für die Prüfung der Schlüssigkeit des Sachverständigengutachtens unerlässlich (Senatsbeschluss vom 16.06.2000 - 2 Ss OWi 537/00 - m.w.N.; Göhler, OWiG, 13. Aufl., § 71 Rdn. 43 d). Die alleinige Mitteilung des Ergebnisses des Sachverständigengutachtens kann allenfalls dann ausreichen, wenn der Sachverständige ein weithin standardisiertes Verfahren angewendet hat, es sich um einen rennomierten Sachverständigen handelt und wenn von keiner Seite Einwände gegen die Begutachtung erhoben werden. Diese Voraussetzungen liegen ersichtlich nicht vor.

Zudem hat das Gericht keine Feststellungen zu der Beschilderung der Messstrecke getroffen und konnte somit auch ein Augenblicksversagen nicht ausschließen. Dem steht nicht entgegen, dass der Betroffene sich nicht auf ein solches berufen hat. Das war naturgemäß nicht möglich, da er bestritten hat, zum fraglichen Zeitpunkt das Firmenfahrzeug geführt zu haben. Daher hätte es entsprechender Feststellungen des Tatrichters bedurft.“

Dem tritt der Senat nach eigener Sachprüfung unter Hinweis auf seine ständige Rechtsprechung (über den von der Generalstaatsanwaltschaft zitierten Beschluss, der veröffentlicht ist in StraFo 2000, 310 = NZV 2000, 429 = StV 2000, 547 = DAR 2000, 483 = VRS 99, 204, siehe u.a. auch noch Senat in StraFo 2002, 58 = StV 2002, 404) bei und macht sich die Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft zu eigen. Wegen dieses Begründungsmangels war daher das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen.

III. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin:

1. Dem angefochtenen Urteil lässt sich gerade noch ausreichend entnehmen, dass es sich bei der der Verurteilung zugrunde gelegten Geschwindigkeit von 152 km/h um die bereits um einen Toleranzwert geminderte gemessene Geschwindigkeit handelt. Dies schließt der Senat aus der Formulierung „vorwerfbare“ (vgl. dazu bereits Beschluss des Senats vom 26. April 2004 in 2 Ss OWi 203/04, DAR 2004, 464). Der Senat hat aber bereits darauf hingewiesen, dass es sich dringend empfiehlt, eindeutig zwischen der „gemessenen Geschwindigkeit“ und der „vorwerfbaren Geschwindigkeit“, bei der es sich um die um den jeweils erforderlichen Toleranzabzug geminderte gemessene Geschwindigkeit handelt, zu unterscheiden (vgl. Senat, a.a.O.). Dieser Hinweis wird wiederholt.

2. Falls das Amtsgericht erneut zu der Auffassung kommt, bei dem auf dem von dem Verkehrsverstoß gefertigten Lichtbild abgebildeten Fahrer handle es sich um den Betroffenen, wird es sich ggf. mit der Qualität des Lichtbildes auseinandersetzen müssen. Das gilt vor allem dann, wenn die Abbildung des Fahrers durch Sonnenblende und/oder Innenrückspiegel beeinträchtigt sein sollte (vgl. dazu z.B. Senat in NZV 2003, 101 = zfs 2003, 154).

3. Es ist entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft nicht zu beanstanden, dass das Amtsgericht bislang keine Feststellungen zu einem sogenannten „Augenblicksversagen“, das Einfluss auf die Fahrverbotsentscheidung haben kann, getroffen hat. Der Betroffene hat bestritten, Fahrer des Pkw gewesen zu sein. Von daher bestand für das Amtsgericht keine Veranlassung, Feststellungen zur Frage der groben Pflichtwidrigkeit dieses Betroffenen zu treffen. Das ist nur erforderlich, wenn sich der Betroffene auf ein „Augenblicksversagen“ beruft (grundlegend BGH NJW 1997, 3252 sowie die darauf gründende ständige Rechtsprechung aller Senate des Oberlandesgerichts Hamm und aller anderen Obergerichte).


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