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Rechtsprechung


Aktenzeichen: 3 OBL 69/04 OLG Hamm

Leitsatz: Zur Anordnung von Untersuchungshaft bei einem Jugendlichen und zur Beschleunigung im Jugendstrafverfahren

Senat: 3

Gegenstand: Haftprüfung durch das OLG

Stichworte: Jugendlicher; Untersuchungshaft; Prüfung durch das OLG; Fluchtgefahr; fester Wohnsitz; Beschleunigungsgrundsatz

Normen: JGG 72; StPO 114; StPO 121

Beschluss:

Strafsache
gegen X.X.
wegen gemeinschaftlichen schweren Raubes u.a., (hier: Haftprüfung gemäß §§ 121, 122 StPO).

Auf die Vorlage der Akten zur Haftprüfung gemäß §§ 121, 122 StPO hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 30. August 2004 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Der Haftbefehl des Landgerichts Essen vom 07.05.2004 - 23 a KLs (47/04) LG Essen - wird aufgehoben.

Gründe:
I.
Die Angeklagte wurde am 23.02.2004 vorläufig festgenommen und befand sich
aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Marl vom 24.02.2004 - 18 Gs 15/04 AG Marl - bis zum 08.04.2004 in dieser Sache in Untersuchungshaft in der JVA Köln. In der Zeit vom 08.04.2004 bis zum 07.05.2004 befand sie sich aufgrund des Unterbringungsbefehls des Amtsgerichts Marl vom 08.04.2004 - 18 Gs 15/04 AG Marl -, in den der Haftbefehl durch Beschluss des Amtsgerichts Marl vom 07.05.2004 gemäß
§ 71 Abs. 2 JGG umgewandelt wurde, in der Unterbringung in der Klinik "XXXXXXX" in XXXXXX. Seit dem 07.05.2004 befindet sich die Angeklagte wiederum in Untersuchungshaft, und zwar aufgrund des Haftbefehls des Landgerichts
Essen vom 07.05.2004 - 23 a KLs 47/04 LG Essen -, der den vorgenannten Unter-
bringungsbefehl gemäß § 74 Abs. 2 S. 2 JGG ersetzt hat, und der der Angeklagten am 11.05.2004 verkündet worden ist.

Mit dem Haftbefehl der Strafkammer vom 07.05.2004 und mit der gleichlautenden Anklage der Staatsanwaltschaft Essen vom 20.04.2004, die durch Beschluss der Jugendkammer des Landgerichts Essen vom 12.08.2004 zur Hauptverhandlung zugelassen worden ist, wird der Angeklagten vorgeworfen, am 15.02.2004 in Marl
gemeinschaftlich mit dem Mitangeklagten XXXXXXXXX und weiteren geson-
dert verfolgten Mittätern eine räuberische Erpressung in Tateinheit mit gefährli-
cher Körperverletzung zum Nachteil der 15-jährigen XXXXXXXX sowie am 23.02.2004 gemeinschaftlich mit den Mitangeklagten XXXXXXXXX und Sebastian XXXXXXXX auf dem Friedhof Marl-Lenkerbeck einen schweren Raub
in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil der 75-jährigen
XXXXXXX begangen zu haben. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Haftbefehl der Kammer vom 07.05.2004 sowie auf den Inhalt der Anklageschrift vom 20.04.2004 Bezug genommen.

Die Angeklagte ist hinsichtlich der Tat vom 23.02.2004 geständig, hinsichtlich der Tat vom 15.02.2004 teilweise geständig und wird hier durch das Ergebnis der Ermittlungen, insbesondere durch die Angaben der Geschädigten sowie durch die Angaben der gesondert verfolgten anderen Tatbeteiligten überführt werden.

Die Strafkammer hat in dem Haftbefehl vom 07.05.2004 den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO angenommen. Zur Begründung hat die Strafkammer ausgeführt, dass die Angeklagte aufgrund der Schwere ihrer Taten trotz ihres jugendlichen Alters mit einem spürbaren länger dauernden Freiheitsentzug zu rechnen habe. Sie verfüge über keine sozialen Bindungen. Das heilpädagogische Haus in xxxx, in dem die Angeklagte bis zur Festnahme untergebracht war, habe eine erneute Unterbringung abgelehnt. Eine Einrichtung der Jugendhilfe, in der die Angeklagte fluchtsicher geschlossen untergebracht werden könnte, stehe nicht zur Verfügung. Es überwiege daher die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich dem Verfahren durch Flucht entziehen würde, käme sie in Freiheit. In der Klinik "XXXXXXX", in der die Angeklagte zum Zeitpunkt des Erlasses des Haftbefehls vom 07.05.2004 untergebracht war, könne sie nicht länger verbleiben. Es handele sich dort um eine psychiatrische Klinik und nicht um ein Heim der Jugendhilfe i.S.v. § 71 Abs. 2 JGG. Da trotz Bemühungen der Jugendgerichtshilfe keine geeignete Unterbringungsmöglichkeit habe gefunden werden können, müsse der Unterbringungsbefehl des Amtsgerichts Marl vom 08.04.2004 durch den Haftbefehl der Kammer vom 07.05.2004 gemäß § 72 Abs. 4 S. 2 JGG ersetzt werden.

II.
Der Haftbefehl der Strafkammer vom 07.05.2004 war aufzuheben. Die Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft gegen die jugendliche Angeklagte liegen nicht vor.

Der Prüfungsumfang der besonderen Haftkontrolle durch das Oberlandesgericht gemäß §§ 121, 122 StPO umfasst auch die in § 72 Abs. 1 JGG geforderte Subsidiarität der Untersuchungshaft für Jugendliche (OLG Zweibrücken, NStZ-RR 2001, 55; Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 122 Rdnr. 13).

Nach § 72 Abs. 2 JGG darf gegen Jugendliche, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, die Verhängung von Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr nur angeordnet werden, wenn der Jugendliche sich dem Verfahren bereits entzogen hatte oder Anstalten zur Flucht getroffen hat oder im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat. Diese Voraussetzungen liegen bei der derzeit 14 Jahre alten Angeklagten nicht vor. Die Angeklagte hatte sich dem Verfahren weder bereits entzogen noch hatte sie Anstalten zur Flucht getroffen. Sie hat im Geltungsbereich dieses Gesetzes auch einen festen Wohnsitz. Zum Zeitpunkt ihrer Festnahme lebte die Angeklagte in einer Wohngruppe im heilpädagogischen Heim in der XXXXXX in X. Darüber hinaus verfügt sie über einen festen Wohnsitz bei ihrer Mutter, Frau X.X., die auch bereit ist, die Angeklagte wieder bei sich aufzunehmen. Bei dieser Sachlage durfte der Haftbefehl nicht auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt werden. Weitere Haftgründe bestehen hier nicht. Insbesondere fehlen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass hier der Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112 a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StPO gegeben ist. Das die Verhängung von Untersuchungshaft gegen jugendliche Straftäter gemäß § 72 JGG beherrschende Subsidiaritätsprinzip ist auch bei der Bewertung des Gewichts der Anlasstat für die Sicherungshaft gemäß § 112 a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StPO zu berücksichtigen und gebietet insoweit ebenfalls eine restriktive Auslegung (Senat, StV 1996, 275). Unter Anwendung dieser Grundsätze ist die Angeklagte aber nicht dringend verdächtig, wiederholt oder fortgesetzt eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Straftat nach den §§ 249, 250 StGB begangen zu haben. Als schwerwiegende Straftat im Sinne dieser Bestimmung kann hier nämlich allein die Tat zum Nachteil der Geschädigten L. am 23.02.2004 angesehen werden. Damit fehlt es bereits an den Voraussetzungen des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr gemäß § 112 a Abs. 1 S. 1 Ziffer 2 StGB.

Darüber hinaus ist das Verfahren gegen die Angeklagte aber auch nicht mit der in Jugendsachen in ganz besonderem Maße, § 72 Abs. 5 JGG, gebotenen Beschleunigung geführt worden. Nachdem das Ermittlungsverfahren bereits nach weniger als zwei Monaten nach der Festnahme der Angeklagten am 23.02.2004 mit der Anklage der Staatsanwaltschaft Essen vom 20.04.2004 beendet worden ist, durfte die Strafkammer Hauptverhandlungstermin nicht erst auf den 8. November 2004 mit Fortsetzungsterminen bis zum 1. Dezember 2004 anberaumen. Diese Terminierung führt dazu, dass die Angeklagte sich zum Zeitpunkt des Beginns der Hauptverhandlung fast neun Monate in Untersuchungshaft befinden würde. Dies ist mit dem in Haftsachen gegen Jugendliche gemäß § 72 Abs. 5 JGG noch gesteigerten Beschleunigungsgebot nicht mehr vereinbar. Die Kammer hatte Hauptverhandlungstermine nach Aktenlage zunächst ab dem 19. Juli 2004 ins Auge gefasst. Zu einer Terminierung auf diesen frühen, dem Beschleunigungsgebot entsprechenden Termin ist es aber nach Aktenlage allein aufgrund der Verhinderung der Verteidiger der Mitangeklagten und des Sachverständigen X., der den Mitangeklagten X. begutachtet hat, nicht gekommen. Die Kammer hätte hier das Verfahren gegen die Angeklagte abtrennen müssen, um ihr weitere Untersuchungshaft zu ersparen. Die Angeklagte war hinsichtlich der Tat vom 23.02.2004 in vollem Umfang geständig. Hinsichtlich dieser Tat und hinsichtlich der Tat vom 15.02.2004 hätte sie auch ohne die Angaben ihrer Mitangeklagten im vorliegenden Verfahren überführt werden können, da die Beweislage sich nach Aktenlage insoweit eindeutig zum Nachteil der Angeklagten darstellt. Hinzu kommt, dass sowohl der Verteidiger der Angeklagten als auch die Sachverständige Dr. XXXXX, die mit der psychiatrischen Begutachtung der Angeklagten beauftragt ist, jedenfalls in der Zeit vom 13. bis zum 25. September 2004 an neun Tagen für eine Hauptverhandlung zur Verfügung gestanden hätten. Jedenfalls in diesem späteren aber immer noch gegenüber dem dann tatsächlich gewählten Hauptverhandlungstermin um zwei Monate vorverlagerten Zeitraum hätte die unter Umständen abgetrennte Hauptverhandlung gegen die Angeklagte stattfinden können. Dies galt hier um so mehr, als sowohl nach der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt Duisburg-Hamborn, Zweigstelle Dinslaken, vom 03.08.2004 als auch nach der Stellungnahme des Jugendamtes der Stadt Gelsenkirchen vom 23.07.2004 erhebliche seelische Schäden von dem weiteren Vollzug der Untersuchungshaft gegen die Angeklagte insbesondere unter den Bedingungen des Erwachsenenvollzuges für die Angeklagte zu erwarten sind. Der Anstaltsarzt der JVA Dinslaken hatte in der genannten Stellungnahme ausgeführt, dass eine kinder- und jugendpsychiatrische Betreuung und Behandlung der Angeklagten dringend notwendig erscheine, da in der dortigen Anstalt keine Möglichkeit der speziellen Betreuung bestehe, die dortige Umgebung vielmehr allenfalls dazu geeignet sei, die psychischen Störungen der Angeklagten negativ zu beeinflussen. Nach der Ansicht des Psychologen der JVA Dinslaken, wie sie ebenfalls Eingang in die vorgenannte Stellungnahme gefunden hat, sei die geschlossene Unterbringung der Angeklagten in einer Jugendhilfeeinrichtung oder eine pädagogische Maßnahme im Ausland dringend anzuraten. Zumindest müsse eine Rückführung in den Jugendvollzug bis zur Hauptverhandlung erfolgen, um einen breiteren Zugang zu der Angeklagten zu finden und ihr vermehrte Beschäftigungs-, Bildungsmöglichkeiten und Schulbesuch zu bieten.

Angesichts dieser schädlichen Auswirkungen der Untersuchungshaft auf die jugendliche Angeklagte hätte das Verfahren hier mit ganz besonderer Beschleunigung gefördert werden müssen. Dies ist nicht geschehen. Auch deshalb war der Haftbefehl aufzuheben.

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