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Rechtsprechung


Aktenzeichen: 1 Ws 267/04 OLG Hamm

Leitsatz: Nur in Extremfällen führt ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot zu einem dann unmittelbar aus Art. 20 Abs. 3 GG herzuleitenden Verfahrenshindernis und damit zur Einstellung des Verfahrens.

Senat: 1

Gegenstand: Beschwerde

Stichworte: Verfahrensverzögerung; Einstellung; Verfahrenshindernis; Kompensation

Normen: StPO 206a; MRK 6

Beschluss: Strafsache
gegen D.G. u.a.
wegen schweren Menschenhandels u.a., (hier: sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Siegen gegen die Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens).
Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Siegen vom 29. Januar 2004 gegen den Beschluss der II. großen Strafkammer des Landgerichts Siegen vom 23. Januar 2004 hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 15. 10. 2004 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft, der Angeschuldigten und ihrer Verteidiger beschlossen:

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung an die II. große Strafkammer des Landgerichts Siegen zurückverwiesen.

Gründe:
Den Angeschuldigten wird in dem vorliegenden Strafverfahren - mit unterschiedlicher Beteiligung - die Begehung schwerwiegender Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sowie der Körperverletzung und der versuchten räuberischen Erpressung bzw. der Beihilfe zu solchen Straftaten zur Last gelegt. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Siegen vom 11. Oktober 2002 Bezug genommen.

Das Ermittlungsverfahren wurde am 3. August 1998 aufgrund eines anonymen telefonischen Hinweises eingeleitet und führte am 6. August 1998 zur Festnahme der Angeschuldigten XXXXXXXXXXXXXXXXXXXX, die sich anschließend bis zum 26. bzw. 27. November 1998 in Untersuchungshaft befanden. Mit Beschluss vom 1. Juli 1999 hat das Amtsgericht Siegen auf Antrag der Staatsanwaltschaft, die zugleich eine zeitnahe Anklageerhebung ankündigte, die bereits im November 1998 außer Vollzug gesetzten Haftbefehle aufgehoben. Allerdings hat die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren in der Folgezeit zunächst nicht weiter betrieben, sondern ihm erst im Juni 2002 Fortgang gegeben. Die Staatsanwaltschaft regte nunmehr an, das Ermittlungsverfahren gegen alle Angeschuldigten im Strafbefehlsverfahren zu erledigen, nahm jedoch davon Abstand, nachdem einige Angeschuldigte angekündigt hatten, gegen einen Strafbefehl Rechtsmittel einlegen zu wollen.

Die Staatsanwaltschaft hat daraufhin am 11. Oktober 2002 Anklage gegen die Angeschuldigten vor dem Amtsgericht - Schöffengericht - in Siegen erhoben. Nach Zustellung der Anklageschrift hat die Vorsitzende des Schöffengerichts das Verfahren mit Beschluss vom 13. Dezember 2002 „der Strafkammer bei dem Landgericht Siegen“ zur Prüfung der Übernahme vorgelegt, weil die Strafgewalt des Amtsgerichts nicht ausreiche. Mit Verfügung vom 2. April 2003, auf deren Inhalt wegen der näheren Einzelheiten Bezug genomen wird (Bl. 1097, Band V d.A.),hat der Vorsitzende der 2. großen Strafkammer des Landgerichts Siegen das Verfahren übernommen und zugleich angeregt, es wegen der bereits eingetretenen und der noch zu erwartenden insgesamt überlangen Verfahrensdauer einzustellen. Die Staatsanwaltschaft ist dem entgegengetreten, weil zwar eine lange, aber noch keine überlange Verfahrensdauer vorliege. Eine Einstellung des Verfahrens wegen eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK komme aber nur in ganz außergewöhnlichen - hier nicht vorliegenden - Ausnahmefällen in Betracht.

Das Landgericht hat daraufhin mit Beschluss vom 23. Januar 2004 die Eröffnung des Hauptverfahrens aus rechtlichen Gründen abgelehnt und dazu u.a. ausgeführt, das Verfahren sei ohne ersichtlichen Grund drei Jahre von der Staatsanwaltschaft nicht gefördert worden. Bereits dieser Umstand verletze den Grundsatz des fairen Verfahrens und wiege umso schwerer, als unter Berücksichtigung der tatsächlichen und verfahrensrechtlichen Komplexität des Verfahrens mit einem rechtskräftigen Abschluss erst im nächsten Jahr gerechnet werden könne. Im Übrigen stelle das Verfahren angesichts der Schwere der Tatvorwürfe eine erhebliche Belastung für die Angeschuldigten dar. Auch aus diesem Grund hätte das Verfahren mit besonderer Beschleunigung geführt werden müssen.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Siegen. Sie ist der Auffassung, dass die in dem vorliegenden Verfahren eingetretenen Verzögerungen noch kein Verfahrenshindernis gemäß § 206 a StPO darstellt. Ein solches sei nur unter - hier nicht vorliegenden - außergewöhnlichen Umständen anzunehmen. Dabei stützt sich die Staatsanwaltschaft auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in welchen selbst bei einer Verfahrensdauer von neun Jahren und einer sogenannten Latenzzeit von ca. drei Jahren (vgl. BVerfG StV 2003, 383), bei einer Verfahrensdauer von 10 Jahren und zwei Monaten sowie einer Latenzzeit von vier Jahren (vgl. BVerfG NJW 1993, 3254) und sogar bei einer Verfahrensdauer von 12 Jahren und acht Monaten mit einer Latenzzeit von sieben Jahren (vgl. BVerfG NJW 1984, 967) das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses verneint worden ist. Abgesehen davon - so die weitere Begründung - sei in die in diesem Zusammenhang anzustellende Gesamtabwägung das Maß der Schuld der Angeschuldigten und des daraus resultierenden staatlichen Verfolgungsinteresses einzubeziehen. Daraus folge, dass ohne ausreichende tatsächliche Feststellungen zur Tatschuld die Frage, ob ein aus der Verletzung des Beschleunigungsgebotes herzuleitendes Verfahrenshindernis vorliege, gar nicht zutreffend beurteilt werden könne. Derartige Feststellungen könnten aber in aller Regel nur im Rahmen einer Hauptverhandlung getroffen werden. Auch weil dies unterblieben sei, sei die Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens unter Berufung auf das Verfahrenshindernis der überlangen Verfahrensdauer rechtsfehlerhaft.

II.
Das gemäß § 210 Abs. 2 StPO statthafte und gemäß § 311 Abs. 2 StPO in zulässiger Weise eingelegte Rechtsmittel hat Erfolg. Es führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an die Strafkammer, denn das von ihr angenommene Verfahrenshindernis, dessentwegen sie die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt hat, besteht nicht.

Ob eine mit dem Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes nicht in Einklang stehende Verfahrensverzögerung vorliegt, bestimmt sich nach den besonderen Umständen des Einzelfalles (vgl. BVerfG, StV 2003, 383, 385). Dabei sind insbesondere der durch Justizorgane verursachte Zeitraum der Verfahrensverlängerung, die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere der Tatvorwürfe, der Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrensgegenstandes sowie das Ausmaß der mit der Dauer des schwebenden Verfahrens für die Betroffenen verbundenen besonderen Belastungen zu berücksichtigen. Der nach Maßgabe dieser Kriterien festzustellende und zu gewichtende Umfang der Verfahrensverzögerung vermag sich allerdings in der Regel nur bei der Strafzumessung auszuwirken und zwar als selbstständiger Strafmilderungsgrund neben dem langen Zeitabstand zwischen Tat und Urteil sowie der Belastung des Angeklagten durch die lange Verfahrensdauer. Nur in Extremfällen führt ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot zu einem dann unmittelbar aus Art. 20 Abs. 3 GG herzuleitenden Verfahrenshindernis und damit zur Einstellung des Verfahrens (vgl. BVerfG NStZ 1997, 591; NJW 1995, 1277; BGH NStZ-RR 2002, 166). In einem solchen (Ausnahme-)Fall muss der Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot unter Berücksichtigung der oben genannten Kriterien dann aber so gewichtig sein, dass eine Kompensation im Rahmen einer Sachentscheidung auch unter Ausschöpfung aller strafprozessualen Möglichkeiten nicht mehr in Betracht kommt mit der Folge, dass die von den Justizorganen zu vertretende Verzögerung deshalb einer Weiterführung des Verfahrens insgesamt entgegensteht. Um aber eine sachgerechte Entscheidung über die sich aus der Verfahrensverzögerung ergebenden rechtlichen Konsequenzen überhaupt treffen zu können, bedarf es jedenfalls auch ausreichender tatsächlicher Feststellungen zur Tatschuld, die - worauf die Staatsanwaltschaft in ihrer Beschwerdebegründung zutreffend hingewiesen hat - in der Regel erst im Rahmen einer Hauptverhandlung getroffen werden können.

Gemessen hieran ist die angefochtene Entscheidung nicht haltbar. Zwar ist die Strafkammer mit Recht von einem von den Angeschuldigten nicht zu vertretenden Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot ausgegangen. Das Verfahren ist zwischen 1999 und 2002 für die Dauer von drei Jahren bei der Staatsanwaltschaft und später für die Dauer von weiteren 10 Monaten durch die Strafkammer nicht gefördert worden. Die bisherige Verfahrensdauer ist damit unangemessen lang und wird bei vorläufiger Bewertung auch nicht durch die besondere Schwierigkeit der Sache oder ihren besonderen Umfang gerechtfertigt. Dieser Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot und damit auch gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wiegt allerdings auch unter Berücksichtigung der noch zu erwartenden Verfahrensdauer nicht so schwer, dass von Verfassungs wegen ein Verfahrenshindernis anzunehmen und das Verfahren einzustellen wäre.

In ihrer gegenteiligen Entscheidung hat die Strafkammer bereits ersichtlich die Reichweite und die Auswirkungen des Beschleunigungsgebotes verkannt, indem sie die überlange Verfahrensdauer nur mit der Frage nach der Einstellung verknüpft, deswegen nur unter diesem Blickwinkel beurteilt und dabei nicht beachtet hat, dass die Auswirkungen einer überlangen Verfahrensdauer zunächst ausschließlich im Rahmen des Rechtsfolgenausspruchs zu prüfen und abzuwägen sind. Dementsprechend hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch nicht etwa gefordert, dass bei einer Verletzung des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK das Verfahren abzubrechen sei, sondern lediglich eine Verpflichtung des Mitgliedstaates festgestellt, die Rechtsverletzung in Anwendung des nationalen Rechts in angemessener Weise zu kompensieren (vgl. EGMR, EuGrZ 1983, 371). Schon deshalb kann der angefochtene Beschluss keinen Bestand haben.

Die Strafkammer hat es - nach ihrer (unzutreffenden) Rechtsauffassung folgerichtig - bislang zudem unterlassen, Feststellungen zur Tatschuld der Angeschuldigten zu treffen, denen mit der Anklage der Staatsanwaltschaft Siegen - überwiegend - die Begehung von Verbrechenstatbeständen zur Last gelegt wird. Ohne solche Feststellungen kann aber nicht beurteilt werden, ob und in welcher Weise eine überlange Verfahrensdauer - wenn sie denn vorliegt - sich auf zu verhängende Sanktionen überhaupt auswirken kann. Dies ist nachzuholen.

III.
Der angefochtene Beschluss war deshalb aufzuheben. Der Senat hat davon abgesehen, gemäß §§ 309 Abs. 2, 311 StPO als Beschwerdegericht in der Sache selbst zu entscheiden, sondern das Verfahren an die Strafkammer zurückgegeben. Eine Zurückverweisung sehen die Beschwerdevorschriften zwar in der Regel nicht vor. Sie kommt allerdings dann in Betracht, wenn - wie hier - eine den Sachverhalt ausschöpfende erstinstanzliche Entscheidung zur Sache selbst gänzlich fehlt und nur aus formalen Gründen entschieden worden ist (vgl. OLG Frankfurt, NStZ 83, 426; Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl., § 309 Rdnr. 7 ff.).

Die Strafkammer wird nunmehr gemäß § 203 StPO darüber zu befinden haben, ob die Angeschuldigten der ihnen zur Last gelegten Straftaten hinreichend verdächtig sind und deswegen das Hauptverfahren zu eröffnen ist.


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